„Mit Karte, bitte!“ Wenn Geschäfte kein Bargeld akzeptieren, drängt das Bedürftige ins Abseits
Lange galt Deutschland als Land der Scheine und Münzen. In jüngster Zeit aber nehmen manche Händler nur noch digitale Zahlmittel. Das hat soziale Folgen.
In der Bäckerei „Max Kugel“ in der Bonner Südstadt merkt man, dass sich jemand Gedanken um die Inneneinrichtung gemacht hat: An der Wand hängen Schwarz-Weiß-Fotos des Personals, neben dem Tresen stapeln sich Säcke mit Bio-Dinkelmehl.
Ein Fenster ermöglicht den Blick vom Verkaufsraum in die Backstube, im Radio läuft Ka-ching von Shania Twain. In dem Song geht es um die Auswüchse von Gier und Kapitalismus, zwischendurch ist das Ringen einer Kasse zu hören:
Ka-ching!
Ka-ching!
Ka-ching!
Anders als im Radio ringt in der Bonner Bäckerei nichts mehr. Inhaber Max Kugel hat die Kasse im Jahr 2021 aus seinem Laden verbannt. Seitdem kann man die sorgsam drapierten Bio-Brote nur noch mit Karte, Handy oder Smartwatch bezahlen.
Früherer Feierabend dank Kartenzahlung
Geplant sei die Umstellung nicht gewesen, sagt der 33-Jährige. „Früher wollte ich nie Kartenzahlungen anbieten, weil man hohe Gebühren an die Anbieter abdrücken muss. Aber in der Pandemie wollte ich den Verkaufsvorgang so schnell wie möglich abwickeln.“
Tatsächlich erhöhte sich das Tempo an der Theke. „Durch die Umstellung haben wir die gleiche Menge Brot zwei bis drei Stunden schneller verkauft“, erzählt der Bäckermeister.
Die Folge: ein früherer Feierabend. „Vorher war ich jeden Abend damit beschäftigt, Geld zu zählen und bei der Bank einzuzahlen“, sagt Kugel. „Das ist kostbare Lebenszeit.“
Hinzu kommen für ihn hygienische und praktische Gründe: Anders als beim Hantieren mit Bargeld müssen seine Mitarbeitenden nun keine Handschuhe mehr tragen. Und: „Die Kasse stimmt immer. Durchs bargeldlose Zahlen ist der Faktor Diebstahl eliminiert.“
Mit seiner Einstellung ist der Bonner Bäcker nicht allein. Zwar gilt Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch als klassisches Bargeld-Land. Allmählich schwenkt der Trend aber um.
So berichtet die Tagesschau, dass im ersten Halbjahr 2023 bereits 3,65 Milliarden Einkäufe per Girocard getätigt wurden. Das waren 15 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Studie der Deutschen Bundesbank. Demnach nutzten 2017 noch 74 Prozent der Befragten Bargeld für ihre Einkäufe. Vier Jahre später waren es nur noch 58 Prozent.
Mit solchen Werten kann Deutschland zwar noch nicht mit Ländern wie Schweden mithalten, in denen fast alles digital bezahlt wird. Die Richtung ist aber offensichtlich.
Kein Bargeld mehr im Freibad
Auch der Handel stellt sich um. Nicht nur kleine Betriebe verabschieden sich vom Bargeld, sondern auch größere Ketten. Der Elektronikhändler Gravis, der Apple-Produkte verkauft, nimmt seit Anfang 2023 kein Cash mehr an.
Der Mutterkonzern Freenet, ein börsennotiertes Telekommunikationsunternehmen, folgte im Februar 2023. Seither laufen alle 500 Freenet-Filialen ebenfalls bargeldlos.
Selbst öffentliche Einrichtungen experimentieren mit den neuen Bezahlmethoden: Das Freibad „Oktopus“ in Siegburg (Nordrhein-Westfalen) akzeptiert seit der Pandemie ausschließlich Online-Tickets. Auch im dazugehörigen Kiosk kann man nicht mehr in bar bezahlen.
Umweltbilanz fällt bei Bargeld schlechter aus
Rein rechtlich sind solche Einschränkungen in Ordnung. Laut Handelsverband Deutschland können sich Betriebe auf die Vertragsfreiheit berufen. Sie sind aber verpflichtet, am Eingang gut sichtbar auf die Einschränkung der Zahlungsart hinzuweisen.
Ein schlechtes Umweltgewissen müssen sie deswegen nicht haben: Laut einer Studie der niederländischen Nationalbank werden bei Kartenzahlungen weniger CO₂-Emissionen ausgestoßen als beim Bargeld.
Kartenlesegeräte und Server verbrauchen zwar Strom. Der Transport von Münzen und Scheinen in gepanzerten Benzin-Fahrzeugen fällt aber deutlich stärker ins Gewicht. Nicht zu vergessen: der Abbau von Kupfer und Zinn fürs Kleingeld.
Trotzdem sind längst nicht alle Kundinnen und Kunden mit dem erzwungenen Umstieg glücklich. In Siegburg fiel die Kritik so heftig aus, dass die Stadt zurückruderte.
Wie der Bonner Generalanzeigerberichtet, können Schwimmbadgäste ihre Online-Tickets nun auch vor Ort an einem Bildschirm buchen. Bezahlt werden muss aber nach wie vor digital.
Wütende Mails und ein Shitstorm
Christoph Vilanek, der Vorstandsvorsitzende des Freenet-Konzerns, erhielt nach der Umstellung wütende E-Mails. „Ich musste mir anhören, ich sei ein Vertreter des chinesischen Überwachungsstaates“, erzählt Vilanek.
„Die meisten Rückmeldungen waren aber positiv, und beim Umsatz haben wir kaum etwas gemerkt. Die Kosten für die Bargeldverwaltung wären in jedem Fall höher.“
Ähnliches berichtet Max Kugel, der Bäcker aus Bonn. „Am Anfang ist eine Riesen-Empörung losgebrochen, ein richtiger Shitstorm. Manche beschimpften mich als Finanzamt-Lobbyisten, andere schrieben, dass sie nie wieder bei mir einkaufen.“
Doch der Bäcker hielt Kurs: „Ich habe gehofft, dass die Lust auf mein Brot größer ist als die Lust aufs Bargeld.“
Die Rechnung scheint aufgegangen zu sein: Insgesamt habe er vermutlich nicht mehr als zwei oder drei Kundïnnen verloren, mutmaßt Kugel.
Aus unternehmerischer Sicht spricht also vieles für den allmählichen Abschied vom Bargeld. Aber wie sieht es mit sozialen Aspekten aus?
Nicht gut, meint Hubert Ostendorf, Gründer und leitender Redakteur der Obdachlosen-Zeitung fifty-fifty in Düsseldorf. „Wer richtig unten ist, hat oft gar kein Konto“, sagt Ostendorf. „Schließlich braucht man für eine Konto-Eröffnung eine Adresse.“
Durch einen Zwang zur Kartenzahlung würden bestimmte gesellschaftliche Gruppen ausgeschlossen. „Bargeld, das durch Betteln verdient wurde, kann dann nicht mehr ausgegeben werden“, sagt Ostendorf. „Das ist ein echtes Problem.“
Obdachlosen-Zeitung per Karte bezahlen
Auch fifty-fifty hat versucht mit der Zeit zu gehen. Während der Corona-Pandemie stattete die Obdachlosen-Zeitung ihre besten Verkäuferinnen und Verkäufer mit einem Kartenlesegerät aus. Die Kundïnnen, die aus hygienischen Gründen kein Bargeld in die Hand nehmen wollten, sollten auf diese Weise zum Kauf motiviert werden.
Funktioniert hat es nicht. „Die Leute waren extrem misstrauisch“, sagt Ostendorf. „Selbst Wohlwollende hatten Angst, ausgeraubt zu werden.“ Die Resonanz sei so schlecht gewesen, dass fifity-fifty die Kartenzahlung binnen zwei Monaten wieder einstellte.
So steht die Obdachlosen-Zeitung gleich vor zwei Problemen: Einerseits haben immer weniger Menschen Bargeld dabei. Andererseits scheuen sie sich aber auch, ihre Kreditkarte ans Lesegerät von Bedürftigen zu halten.
„Ehrlich gesagt, haben wir im Moment noch keine Lösung für dieses Dilemma“, sagt Ostendorf. Fifty-fifty setze daher verstärkt auf Online-Abos, die mehr kosten als eine Ausgabe auf der Straße. „Damit können wir unsere Kosten decken. Das nimmt den Druck etwas raus.“
Auch im Umkreis der Bonner Bäckerei Max Kugel sitzen regelmäßig Menschen und betteln. Ein Brot können sie sich mit ihrem gesammelten Bargeld nebenan nicht kaufen.
Bei Internet-Ausfall kommt die Kasse zurück
Darauf angesprochen, sagt Kugel, er habe sich natürlich seine Gedanken gemacht. „Aber ich bin nun mal Unternehmer. Du wirst es nie allen recht machen können.“ Stattdessen könnten andere Kundinnen und Kunden aushelfen, wenn jemand keine Karte dabeihat. Das funktioniere in der Praxis schon ganz gut.
Problematisch wird es für den Bäcker nur dann, wenn das Internet ausfällt. Dann muss er die eingemottete Kasse aus dem Abstellraum zurückholen und die Bargeld-Zahlung wieder einführen. „Ein paar Mal ist das schon passiert“, sagt Kugel. „Und natürlich gab es einige, die sich darüber gefreut haben.“
Die altbewährten Münzen und Scheine – so schnell wird man sie in Deutschland nicht los.