Furcht vor Virus aus Berlin: Wie die menschenleere Prignitz schon Anfang März eine Quarantäne verhängte
Deutschland vor dem Stillstand: Mit dem Fahrrad durch ein Land, das wir alle noch nicht kennen – Corona-Reportage Teil 3.
Seit 23. März gelten bundesweit Ausgangsbeschränkungen und ein Kontaktverbot außerhalb des engsten Umkreises. Kurz bevor die Maßnahmen rechtsgültig werden, trete ich als Radelnder Reporter in Aktion, um herauszufinden: Wie reagieren die Menschen auf die Coronakrise und wie gehen sie damit um? Was geht ihnen in diesen Tagen der Unsicherheit durch den Kopf, welche Ängste und Hoffnungen empfinden sie?
Nachdem ich für mich und den Schutz meiner Gesprächspartner ein Sicherheitsprotokoll entwickelt habe, begebe ich mich am 16. März auf die Radreise. Sie führt zunächst durch Holstein, Hamburg, Mecklenburg und am zweiten Tag bis Sachsen-Anhalt. Am dritten Tag, über den ich hier schreibe, schildert mir ein Mann, der in Neustadt (Dosse) unter Quarantäne stand, wie groß die Gefahr bereits damals war.
Mittwoch, 18. März
Garz, Kilometer 260, es ist 3.40 Uhr. Mein Ziel für heute ist Berlin, aber meine Neugierde gilt Neustadt an der Dosse. Die Kleinstadt liegt an meiner 390 Kilometer langen Radroute, weil es dort die erste große freiwillige Quarantäne in Deutschland gibt. Wegen Covid-Verdacht an einer Schule hat der Landkreis bereits Anfang März dazu aufgerufen. Als ich zwei Tage zuvor in Lübeck zur Rad-Recherche aufgebrochen war, saßen in Neustadt, hundert Autokilometer nordwestlich von Berlin gelegen, noch rund 2250 Menschen zu Hause – eine zu dieser Zeit noch sehr hohe Zahl.
Draußen hat es 1 Grad Celsius, durchs gekippte Fenster dringt kein einziger Laut, nur eisige Luft. Mich fröstelt beim Aufstehen. Um 4 Uhr habe ich auf dem schmalen Tisch im winzigen Pensionszimmer meinen Reisebecher, gefüllt mit selbstgebrautem Espresso, eine Schale Müsli und das Smartphone versammelt. Beim Frühstück klicke und wische ich mich rund zwei Wochen zurück, zum Beginn des Monats März. Vor zwei Wochen – zu Zeiten von Corona fast in einem anderen Zeitalter – erklärte das Robert Koch-Institut den rheinischen Kreis Heinsberg als besonders betroffenes Gebiet. Aber in Heinsberg glauben die Behörden, Sperrzonen wie in Norditalien würden nicht notwendig werden. 70 Covid-Fälle waren bestätigt. Jetzt sind es in Heinsberg 760.
Weniger im Medienfokus stand Neustadt (Dosse). Dort war für 19 Personen die häusliche Isolation verpflichtend, der Landkreis Ostprignitz leitete eine Einreisesperre für Auswärtige vor. Gelockert werden die Maßnahmen nach dem 17. März – also heute. Deshalb breche ich so früh in die dreißig Kilometer entfernte Kleinstadt auf.
5 Uhr. Weil es so kalt ist, trage ich eine Sturmhaube unter dem Radhelm und alle verfügbaren Klamotten am Körper. Vorsichtig schreite ich, der metallbestückten Radschuhe wegen, übers Straßenpflaster, das unter gelblichem Laternenlicht mattblau schimmert. Am Dorfrand beginnt der Asphalt und meine Nachtfahrt aus dem Havelland ins Urstromtal, wo die Dosse fließt. Vom Brückenscheitel über der Havel sehe ich östlich einen Himmelstreif in fahlem Grün, durchbrochen von lila Flecken. Dort muss Berlin sein, heute Abend mein Ziel.
Kilometer 267. Am Ackerrand hinter Strodehne stecken noch Kohlstrünke. Ein monströser Feldhase wetzt mir durch den Lichtkegel. Vor Schreck verreiße ich auf dem schmalen Fahrweg fast den Lenker. Hinter Kietz quere ich den Rhin, Nebenfluss der Havel, vor langer Zeit so benannt von Siedlern aus dem Rheinland.
Rhinow, Brandenburg, erreiche ich kurz vor 6 Uhr. Nach dem Ortsschild weht der Geruch frischen Brots durch die breite Hauptstraße mit den niedrigen Häusern, im Dorfinnern riecht es nach Holzfeuer. Dort öffnet soeben die Fleischerei „mit Imbiss“ – ein Stück Alltag, der bleiben wird.
Kilometer 277. Die Morgensonne spiegelt sich in der Dosse. Nördlich von hier beginnt Ostprignitz-Ruppin, eine der Gegenden mit den wenigsten Menschen in ganz Deutschland. Bei Sieversdorf, kurz vor Neustadt, zieht ein Rennrad an mir vorbei, darauf ein schlanker großer Mann, kräftig in die Pedale tretend. Ich hole ihn ein. Er fährt zur Arbeit in einem der Gestüte, für die diese Region bekannt ist. Hat sich für ihn etwas verändert mit der Coronakrise? „Ich sag mal, für mich ist alles wie gehabt. Aber die Kinder dürfen nicht mehr ins Gestüt.“ Kämen sonst viele? „Ja, schon allein wegen der Schule.“ Wieso das? „Die haben so ein Projekt, da können die Kinder Reiten als Unterrichtsfach haben, deswegen hat die Schule Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet.“ Erst später werde ich erfahren. Dieser Unterricht ist indirekt Ursache dafür, dass Neustadt so rasant auf die Krise zusteuerte.
An einer Straße mit dem Namen „Hauptgestüt“ biegt der Rennrad-Kollege rechts zu den Stallungen ab, Ich fahre geradeaus weiter, und komme wenig später in Neustadt an.
Die Prinz-von-Homburg-Schule ist ein hell-moderner Kasten, der sich vor dem aschfahlen Himmel kaum abhebt. Es ist 6.40 Uhr, jetzt hat es 5 Grad Celsius.
Ich lehne mein Rad an den Schulzaun. „Achtung!“ steht auf einem plastinierten Papierschild, im Metallgitter befestigt mit Kabelbindern. „Schule geschlossen bis einschließlich 17.3.2020!“
Das war gestern. Als ich das Schild fotografieren will, tritt entschlossenen Schrittes ein Mann heran, leicht schütteres Haar, bekleidet mit Hemd, Pullover, beiger offener Jacke. Wir grüßen uns. Dann legt er Hand an die Kabelbinder, in seiner Rechten hat er eine Kneifzange.
Das muss der Hausmeister sein, denke ich und frage, wie er die Schulschließung erlebt hat. Er sagt: „Ich war einer der Neunzehn, die in Quarantäne zu Hause bleiben mussten. Aber ich hab die Schule von dort aus weiter geleitet, das hat eigentlich gut geklappt. Ich bin der Schuldirektor, Ronald Roggelin.“
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