Wie groß die Gefahr ist, wollen kurz vor der Kontaktsperre viele Menschen nicht wahrhaben
Tag 2 meiner Recherchen per Fahrrad zwischen Lübeck und Berlin – unterwegs in einem Corona-Deutschland, das wir alle noch nicht kennen.
Seit 23. März gelten bundesweit Ausgangsbeschränkungen und ein Kontaktverbot außerhalb des engsten Umkreises. Kurz bevor die Maßnahmen rechtsgültig werden, trete ich als Radelnder Reporter in Aktion um herauszufinden: Wie reagieren die Menschen auf die Coronakrise und wie gehen sie damit um? Was geht ihnen in diesen Tagen der Unsicherheit durch den Kopf, welche Ängste und Hoffnungen empfinden sie?
Nachdem ich die Risiken durchdacht und für mich und den Schutz meiner Gesprächspartner ein Sicherheitsprotokoll entwickelt habe, begebe ich mich am 16. März auf die Radreise. Sie führt mich am ersten Tag durch Holstein, Hamburg und Mecklenburg. Meine Erlebnisse vom 17. März, über die ich hier schreibe, stammen aus den wenigen Landkreisen der Republik, in denen damals kein Infektionsfall bekannt war. Dieser zweite Tag endet aber in einer Gegend, in der Krise schnell spürbar werden sollte.
Dienstag, 17. März
Zu Zeiten von Corona endet jeder Abend mit der Kugel. Sie wird im Fernsehen eingeblendet, sobald es um die Infektionszahlen geht: eine sonnengelbe Kugel mit rotlila Fortsätzen, die gefährlich wirken.
Die TV-Zahlen des Vortags, in den Abendnachrichten: Über 6000 Menschen sind in Deutschland infiziert, fast 1200 mehr als am Vortag; 13 Menschen sind an Covid gestorben. Bayern ruft den Katastrophenfall aus. Mit diesen Fakten im Kopf breche ich am 17. März mit dem Kilometerstand 132 zur zweiten Etappe auf.
Frontal scheint mir die Sonne ins Gesicht. Um 6.20 Uhr lugt sie zwischen den Häusern von Schutschur, einem kleinen Weiler an der Elbe, hindurch und flutet warmrot die vernebelten Auen. Die Luft hat nur drei Grad Celsius; erwärmt wird sie noch nicht durch die Wintersonne. Trotzdem ist mir klar: In der Feuerkugel steckt genügend Energie, um alles Leben zu vernichten.
Die Kälte dringt durch alle vier Schichten, die ich auf der Haut trage, aber nach kurzer Fahrt wird mir warm: Hinter Schutschur gibt es Hügel wie in der Holsteinischen Schweiz, wo ich herkomme. Aber hier ist es noch einsamer als dort: Zwischen Schutschur und dem Städtchen Hitzacker begegnen mir genau drei Autos.
Kilometer 146, kurz vor der Stadt: Die Jugendherberge ruht zwischen waldigen Hügeln. Kein Schild hängt an der Tür, kein Vehikel steht davor. Man geht wohl davon aus, dass längst alle wissen: Niemand findet hier während der Krisenzeiten eine Bleibe.
„Bei den Ärzten, da gibt es jetzt zwei Wartezimmer.“
An der Ortseinfahrt von Hitzacker führt eine alte Dame den Hund Gassi. Sie ist auf dem gleichen Informationsstand wie ich: Im gesamten Landkreis Lüchow-Dannenberg gibt es noch keine nachgewiesene Covid-Infektion. „Die Leute sind entspannt“, sagt die Dame, „aber es gibt viel weniger Berufsverkehr. Zu normalen Zeiten fahren morgens viele bis Lüchow oder sogar Lüneburg. Wo man etwas merke, sagt sie, das sei bei den Ärzten: Da gebe es jetzt zwei Wartezimmer, eines für Menschen mit Infektionsverdacht.
Kilometer 148 um 7.30 Uhr, ich erreiche das Rathaus von Hitzacker. Ab heute läuft, steht auf dem Zettel am Eingang, „sogenannter Sicherheitsbetrieb, Besuch bitte nur in absolut unaufschiebbaren Angelegenheiten. Grundsätzlich ist eine Terminvereinbarung erforderlich“.
Aufgeschlossen wird erst in eineinhalb Stunden, aber hinter einigen Fenstern brennt bereits Licht. Ich umrunde das Gebäude zu Fuß einige Male und suche nach Lebenszeichen im Rathaus. Als ich zum dritten Mal die Marktseite erreiche, stehen zwei Frauen vor mir: eine Passantin an der Straße, eine Mitarbeiterin am geöffneten Parterrefenster. Ich mache mich und mein Anliegen bemerkbar, als Reporter einen Gesprächspartner zu suchen. „Einen Moment“, sagt die Mitarbeiterin, „ich suche Herrn Beckmann.“
„Schichtbetrieb, um das Infektionsrisiko untereinander zu minimieren.“
Es dauert einige Augenblicke, dann tritt Torsten Beckmann von innen ans Rathausfenster. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Personalrats sowie Fachdienstleiter Bau und Planung der Samtgemeinde Elbtalaue. Wie läuft es derzeit im Gemeindestützpunkt Hitzacker, frage ich. „Wir gehen von Tag zu Tag. Ich mache morgens den Rechner an und habe dann immer neue Infos.“
Derzeit fährt der Vater vierer Kinder, zwei davon in schulpflichtigem Alter, noch täglich von zu Hause auf dem Dorf in die Stadt.
„Gastronomische Einrichtungen dürfen ab heute nur noch bis 18 Uhr öffnen"
„Wir haben volle Betriebsstärke, aber eventuell beschließen wir noch heute Nachmittag, auf Schichtbetrieb umzustellen, wie das bereits Lüneburg oder Uelzen praktizieren.“ Das habe den Sinn, dass die Menschen in den Büros mehr Abstand halten könnten und dadurch das Risiko sinke, sich gegenseitig anzustecken. „Einige der Rathausmitarbeiter dürfen oder müssen dann wahrscheinlich ins Homeoffice“, sagt Beckmann.
Was später Alltag für Millionen wird, klingt heute noch ungewohnt
Hitzacker ist an diesem Tag einer von Zehntausenden Orten in Deutschland, in denen die Erkenntnis einsickert, dass sich alles ändern wird, dass es einen neuen Alltag geben wird, der dem alten kaum noch ähnelt. Das Selbstverständlichste auf der Welt – am Abend in ein Restaurant zu gehen, ist hier und da noch möglich. Bald wird das anders sein. Die Frage, ob der Cafebereich einer Bäckerei noch offen hat oder nicht, ist sonst eine Marginalie. In dieser Phase der Pandemie kann sie über Ansteckung oder Schutz vor Infektion entscheiden, im Zweifelsfall über Leben und Tod.
Hinter Hitzacker stapfe ich, das Rad geschultert, durch eine Straßenbaustelle in der Elbmarsch. Hoch- und Tiefbau gehören zu den Branchen, deren Aufschwung die Coronakrise nicht mindert. Kilometer156. Kurz vor Dannenberg überholt mich auf der Bahnlinie, die parallel zur Straße verläuft, der blaugelbe Zug von „Erixx“. Das Unternehmen betreibt die Bahnlinie Lüneburg-Dannenberg. Der Zug mit Ankunft 8.48 Uhr ist komplett leer. Voll mit Zweigen und Zapfen liegt hinter Groß Gusborn der Radweg an der Landstraße. Ein Sturm fegte kürzlich über Norddeutschland; aber „Hanna" taugte nicht zum Medienspektakel. Längst dominierte SARS-CoV-2 die Schlagzeilen und Nachrichten.
So schnell wird das Heute zum Gestern
Ich passiere in dieser einsamen Region die Weiler Grippel und Laase. Dann sehe ich das Hinweisschild mit einem bekannten Namen: Gorleben, Ort eines der größten politischen Konflikte in der deutschen Geschichte: Der Plan, hier ein Endlager für Atommüll zu errichten und die umstrittenen Transporte hierher, löste damals gewaltige Proteste aus. Als Teenager verfolgte ich sie im Fernsehen: Wie Menschen die Zufahrtsstraßen blockierten, wie die Polizei einschritt, wie Bundeskanzler sich mühten, einen Bürgerkrieg zu verhindern.
Atommüll stoppen, forderten die Demonstranten damals. Klimawandel stoppen, fordern Fridays for Future und andere Aktive heute. Doch heute ist schon gestern: Die Coronakrise hat alle Aufmerksamkeit absorbiert.
Seit 1995 ist das Atommülllager in Betrieb – trotz „Gorleben soll leben“, so das Protestmotto. Mitte März 2020 gleicht Gorlebens Dasein dem von Gusborn und Grippel, zuvor an meiner Strecke: Kein Mensch ist zu sehen. Aber die Vögel singen.
Am Ortsende sind Landwirte zugange, ich biege auf den Bauernhof ab. Spüren Sie die Krise? Nein, antwortet der Altbauer, der seinem Junior auf dem Areal Schützenhilfe leistet beim Verladen mit dem Traktor. „Wir liefern Rapsfutter fürs Vieh, und das läuft alles ganz normal.“
Kilometer 168. Zum ersten Mal an diesem Tag passiere ich eine größere Ansammlung von Menschen, am Gartencenter von Meentschow. Das Wetter ist schön, und geschlossene Läden und Firmen verschaffen Menschen Zeit. So kümmern sie sich um Gartenbüsche und Balkonblumen.
Krisenstimmung im letzten Ort Niedersachsens
In Gartow, kurz vor Sachsen-Anhalt, brauche ich eine Pause. Ich könnte mich an den Gartower See setzen, in eine für Coronazeiten unverschämte Idylle: strahlendes Frühlingslicht über noch blassem Grün, aber mit ersten Blüten. Aber ich will meine Notreserve, zwei Energieriegel, aufsparen und muss einkaufen. In der Hauptstraße stoße ich auf „Gartows Bioladen“.
„Am schlimmsten sind die Jugendlichen; die machen gar nicht mit.“
Der Laden ist eng, leicht stickig. Ich beeile mich, mit Brot, Käse und Äpfeln wieder nach draußen zu kommen. Aber zum Dorfladen gehört der Dorfschwatz, auch, oder vielleicht gerade wegen Corona. Die Frau mittleren Alters vor mir, die vier Hefewürfel auf den Ladentisch legt, klagt der Kassiererin ihr Leid. „Am schlimmsten sind die Jugendlichen. Die machen gar nicht mit, halten keinen Abstand und ziehen immer noch in Gruppen durch die Straßen.“ Ein Bekannter macht sich ihr von der hinteren Fensterfront bemerkbar, wo, wie ich jetzt bemerke, Tische und Stühle stehen. Ob sie nicht einen Kaffee mit ihm trinken wolle, fragt der Bekannte. Sie bejaht, bezahlt und sie setzen sich an einen Tisch.
Ich bin an der Reihe. Neben der Kasse liegt ein dünner Stapel der Elbe-Jeetzel-Zeitung, amtliches Kreisblatt Lüchow-Dannenbergs. Die fette Schlagzeile auf der Titelseite lautet „Geschäfte müssen schließen“. Gemeint ist, wie ich unter der Zeile lese, heute; also eigentlich schon jetzt.
„Drogerieartikel gehören zur notwendigen Versorgung.“
Zurück auf der Hauptstraße steht an der Straße vor einem Geschäft ein wohlbestückter Ständer mit Postkarten; im Schaufenster wird Kleidung und allerlei Tand angeboten. Ich nehme mir eine Postkarte mit der Aufschrift „Shit“, eingefügt über einem einschlägigen Möwenfoto, und gehe hinein. Sie dürfen also offen bleiben, frage ich beim Bezahlen. Der Mann hinter dem Tresen fühlt sich irgendwie ertappt, denn er antwortet einen Tick zu schroff und schnippisch: „Ja, wir haben auch Drogerieartikel und die gehören zur notwendigen Versorgung“.
Notdürftig befestige ich meinen Proviant auf der Satteltasche, schiebe die Möwenkarte darunter und verlasse Gartow kurz nach 12 Uhr auf der Suche nach einem windgeschützten Platz für eine Pause. Ich finde ihn vier Kilometer weiter, an der ehemaligen Zonengrenze. Einen Steinwurf von der Landstraße steht ein alter Beobachtungsturm. Typus BT-9, erfahre ich durch die Beschriftung; ein martialisches Denkmal des Kalten Kriegs.
Kilometer 192, Bömenzien. Mein erstes anhaltener Dorf ist verwaist, aber das kann an der Mittagszeit liegen. Zwei Kilometer weiter, in Aulosen, kurven auf Rädern ein 11-Jähriger und seine Schwester durchs Dorf. Ich frage den Jungen, wie er die Corona-Ferien findet. Er sagt, er sei traurig. Er findet die Schule schön und darf jetzt gar keine Freunde mehr treffen.
Kilometer 202. In Scharpenhufe lauschen an der Hauptstraße Vater und Sohn den Erklärungen eines Telekom-Manns, der an der Hauswand nach oben weist. Die Satellitenschüssel dort mag frisch installiert sein und die Szene wirkt wie das Motto eines billigen Werbespots: Wie wichtig, jetzt, in der Krise, gut verbunden zu sein mit der Welt!
Hinter Herzfelde holpere ich mit den 7-Bar-Reifen über einen Asphalt, unter dem wohl noch die zerfressenen DDR-Platten liegen. Die Nahtstellen der Platten sind aufgeplatzt; mir kommt die Virulenz mancher Mikroben in den Sinn: Unter der Hülle unserer Körperzellen verharren Viren manchmal im Ruhezustand. Bei bestimmten Reizen zerstören sie die Zellen und werden massenhaft frei.
Auf meiner verbleibenden Strecke in der Gemeinde Altmärkische Wische wird die Straße immer schlimmer. Dann passiere ich die zwei Hansestädte Seehausen und Werben.
„Ich denke, der Virus kommt nicht bis zu uns hierher“
Frau Peters, 77 Jahre alt, betreibt mit ihrem drei Jahre älteren Mann seit DDR-Zeiten den Obsthof in Werben. Sie ist mit ihren Einkäufen auf dem Rad fast zu Hause, als ich sie einhole und um einige Minuten Zeit bitte. Was denkt sie über Covid-19? „Ich denke, der Virus kommt nicht bis zu uns hierher, wir sind hier ein bisschen weitab“, sagt sie. Sie erzählt aber auch, dass in der Vorwoche, als bereits viele Arbeitnehmer zu Hause bleiben mussten, so viele Menschen von auswärts bei ihr einkauften wie nie zuvor.
Meiner Frage, wie wohl das einstige Regime mit einer aufkommenden Pandemie umgegangen wäre, weicht Frau Peters mit einem Humor aus, den ich in den Neuen Ländern oft erlebe: „Der Virus wär gar nicht rinn gekommen!“, sagt sie lachend.
Als ich mich verabschiede, wird Frau Peters wieder ernst: „Jetzt wollen wir sehen, was kommt. Jeder redet viel, aber Angst haben sie doch alle. Und es gibt die Leute, die nur an sich denken und so eine Krankheit weiterverschleppen, so etwas gibt es auch!“
Kilometer 231. Um meine Wirbelsäule zu schonen, nehme ich einen längeren Umweg in Kauf, um kilometerlanges Kopfsteinpflaster zu umfahren. Wie auf der ersten Etappe muss ich gegen Tagesende eine Elbfähre nehmen.
„Die Medien sollen das mal nicht so aufbauschen.“
Der Fährmann sagt, das Fähraufkommen hat sich nicht verändert. „Die Medien sollen das mit Corona mal nicht so aufbauschen!“ Er trägt eine stattliche Kapitänsmütze, in der Preisliste stehen auch „Kutsche“ und „Kremser“ für sechs Euro. Das Fahrrad kostet, wie in Darchau, Mecklenburg, zwei Euro fünfzig.
Kilometer 241, Havelberg. Zu meiner Unterkunft geht es geradeaus weiter. Aber ich muss fürs Abendessen einkaufen. Eine Havelbergerin empfiehlt mir einen neuen Bioladen, „der noch nicht in Google steht“. Ich kaufe Nudeln aus roten Linsen, Rahm, Brot und Birnen, von denen ich zwei sofort aufesse. Es war ein langer Tag.
Es ist kurz nach 16 Uhr. In mildem Abendlicht, aber mit garstig-kaltem Seitenwind, quäle ich mich die verbleidenden zwanzig Kilometer entlang, zum Dorf, in dem ich übernachte.
Kilometer 259. Ausgelaugt gelange ich nach Garz, das an einem halb zugewucherten Seitenarm der Havel liegt. Der Hof, in dem ich ein Zimmer gebucht habe, ist groß wie ein Landschloss. Aber nirgends ein Lebenszeichen, kein Licht. Wo ist der Gastgeber, der mir namenlos textete, welche Eingangstür offen und in welchem Stockwerk innen mein Zimmer zu finden sei? Liegt es an Virusangst, dass man mich persönlich nicht empfangen will, oder haben die Gastleute nur etwas vor?
Die Einsamkeit ist beklemmend. Menschen habe ich zwar untertags gesprochen, aber nach all den Covid-Fragen und -Antworten geht mir jetzt das normale Menschliche ab: belanglos zu plaudern, leibhaftig und ohne Reporterdistanz. Doch in Garz ist alles zu. Die Straßen sind stumm, die Bewohner wohl im Modus viraler Häuslichkeit.
– Fortsetzung folgt –