Reichsgespenster

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten
Ein Mann mit Bart und Brille sitzt in einem Stuhl. [AI]

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

Jedes Land hat seine Prepper, Freemen, Impfgegner, Schulverweigerer und Selbstverwalter. Sich zu ermächtigen gegenüber dem Staat und dem Recht, sich für autonom und autark und frei zu erklären und die Zumutung, sich ein- und unterzuordnen zum Besten der Gesellschaft, mit stolzer Geste von sich zu weisen, das ist eine Versuchung, die Menschen auf der ganzen Welt verspüren (ich auch manchmal, ehrlich gesagt). Der libertäre Furor derer, die ihr erliegen, kann ziemlich bizarre und mitunter auch sehr gefährliche Dimensionen annehmen. Aber die spezifische Form, die dieses Phänomen in Deutschland angenommen hat, ist mehr als nur bizarr. Hier haben wir es zumeist mit Leuten zu tun, die mitnichten ein freies, wildes Libertärenleben fernab von Staat und Recht anstreben, sondern im Gegenteil ein wahres Höllenspektakel um das Recht und den Staat aufführen. Es sind ein Gespensterrecht und ein Gespensterstaat, eine grausige Scharade aus zusammenhanglosen, heillos widersprüchlichen Bruch- und Versatzstücken von Recht-, Amt- und Förmlichkeit, so dass man man fast denken könnte, sie wollten sich über uns Jurist_innen lustig machen, würden sie das alles nicht so furchtbar ernst meinen und nehmen.

Aus binnenjuristischer Sicht liegt es nahe, diese Leute – die so genannten Reichsbürger – kurzerhand der Psychiatrie zu überantworten: Die spinnen halt, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Das wäre aber sehr schade. Sie haben uns sehr wohl etwas zu sagen, wenngleich nicht immer gleich klar ist, was. Das hat sich bei einer vom Ehepaar Schönberger organisierten und enorm ertragreichen Tagung in Düsseldorf gezeigt, an der ich in dieser Woche teilgenommen habe.

Die Begegnung mit den Reichsbürgern, so Sophie Schönberger, stößt uns auf den „imaginären Kern des Rechts“: Reichsbürger sind Leute, die die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verfassungsordnung nicht in erster Linie für falsch und ungerecht, sondern für gar nicht erst existent halten – für eine bloße Illusion: Es gibt sie nicht und hat sie nie gegeben. Der Staat, in dem wir leben und der das für uns geltende Recht setzt, ist – was immer das genau sein soll – immer noch das Deutsche Reich.

Wer ist hier verrückt?

Aus ihrer Sicht ist unser Glaube an die Geltung des bundesdeutschen Rechts genauso verrückt wie uns aus unserer Sicht ihr Unglaube. Und warum auch nicht? Die Geltung des Rechts kann, so Sophie Schönberger, nicht logisch begründet und nicht mit Gewalt erzwungen, sondern nur imaginiert werden – es gilt, wenn und soweit wir erwartbarerweise von seiner Geltung überzeugt sind. Wir glauben einer Erzählung, die uns die Geltung des geltenden Rechts imaginieren lässt, etwa dass sich mit der Präambel des Grundgesetzes „das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“ hat.

Wenn man diese Erzählung wie die Reichsbürger für einen Tatsachenbericht hält, dann hält man auch die Präambel für eine Lüge. Wie ein enttäuschter Katholik, den an der Dreifaltigkeitslehre Zweifel beschleichen, erliegt der Reichsbürger halb verzweifelt, halb elektrisiert der Verlockung der Häresie: Extra ecclesiam bestimmt er so gut wie jeder andere, was zum Heil führt und was nicht. Und das fühlt sich gar nicht schlecht an. Gerade noch war er eine arme Wurst mit Steuerschulden und Sorgerechtsstreit, den fürchterlichen Bürokraten und ihrem Juristendeutsch hilflos ausgesetzt, und zack: alles weg. Alles Illusion.

Wenn das in seiner Macht steht, wenn er mit den bloßen Worten „Die Bundesrepublik ist eine GmbH“ dieselbe verschwinden lassen kann wie mit einem Zauberspruch – dann kann er sich gerade so gut gleich zum König krönen lassen. Und sich all die magischen Amtsbezeichnungen und Stempel und Urkunden und Ausweise und Legitimationen und Briefköpfe, auf die sich bis eben noch die Autorität der ihn drangsalierenden Jurist_innen zu gründen schien, einfach selber ausstellen. Weniger als die der bundesrepublikanischen Staatsillusionisten sind sie jedenfalls auch nicht wert.

Dieser Desillusionierungs-Trick kann Recht weg-, aber nicht herzaubern. Er ermächtigt, indem er delegitimiert: Was ihr für Recht haltet, gibt es gar nicht! Aber wenn es ans Legitimieren geht, endet seine Kraft. Recht ermächtigt, wen es bindet, und bindet, wen es ermächtigt, und solange sich der Reichsbürger-König sich immer nur ermächtigt, aber an nichts bindet, kann er mit seinem Zauberstab herumfuchteln, Dokumente abstempeln, mit juristisch klingenden Begriffen um sich werfen wie er will. Es ist halt doch am Ende nur ein Trick.

So wird das geltende Recht entwertet, aber kein anderes an seine Stelle gesetzt. Der Reichsbürger ist kein Revolutionär und Staatsgründer, aber ein Rechts- und Staatsfeind ist er trotzdem. Er fällt mit seinem Desillusionierungs- und Delegitimierungs-Trick womöglich auch weniger aus dem Rahmen, als man so meinen sollte. Was unser amtierender Verfassungsminister CSU-Chef Horst Seehofer – darauf wies Sophie Schönberger hin – mit seiner „Herrschaft des Unrechts“ in Bezug auf das Dublin-System der europäischen Zuständigkeitsverteilung im Asylrecht gemacht hat, kann man durchaus auch in diesem Sinne deuten. Und der Mann ist immer noch im Amt, man fasst es nicht. Es sind schon Leute aus geringeren Gründen vom Glauben abgefallen.

Dass das rechts-delegitimierende Erzählen von Gespenstergeschichten sogar der Bundesrepublik selbst nicht ganz fremd ist, zeigte Christoph Schönberger in seinem Vortrag über das „Reich“ im Wort Reichsbürger. Auf das Deutsche Reich als irrealen Sehnsuchtsort, dessen funkelnd-geheimnisvolle Realität man gegen jede Evidenz behaupten und der mausgrauen Nachkriegsrealität entgegenhalten konnte, wollte auch die Verfassungsdoktrin der Bundesrepublik mit ihrer „Fortbestandsthese“ über viele Jahrzehnte nicht verzichten. Der Zweck derselben war Delegitimierung – zunächst der DDR, aber dann auch der unfertigen, unsouveränen kleinen Bundesrepublik. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag 1973, so Schönberger, taucht das Deutsche Reich in „schizophrener Verdoppelung“ auf, einerseits mit der Bundesrepublik identisch und damit handlungsfähig, andererseits sie gesamtdeutsch überwölbend, aber handlungsunfähig. Wie wenig Substanz hinter diesem ganzen Simsalabim tatsächlich steckte, zeigte sich bei der Wiedervereinigung, als die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte ganz ohne jedes Deutsche Reich den Zwei-Plus-Vier-Vertrag aushandelten: „Die juristische Mumie Deutsches Reich“, so Christoph Schönberger, „ließ man achtlos am Wegesrand liegen.“ Und wie das so geht mit Toten, die man nicht begräbt: Sie kommen als Zombies wieder. Hallo, Reichsbürger!

Einen Monat Zeit

Die größte Neuigkeit der Woche: der EuGH hat per einstweiliger Anordnung Polen aufgegeben, die Zwangspensionierung am Obersten Gerichtshof auszusetzen, die betroffenen Richter_innen in ihren vorherigen Status wieder einzusetzen und ihre Stellen nicht mit neuen Richter_innen zu besetzen. Das Court-Packing-Scheme durch Erweiterung des Gerichtshofs hat der Gerichtshof nicht gestoppt, das hatte die Kommission auch nicht beantragt. Er droht einstweilen kein Zwangsgeld an. Polen hat einen Monat Zeit, die Anordnung umzusetzen.

Polens Generalstaatsanwalt und Justizminister Zbigniew Ziobro hatte kurz zuvor noch die Eskalationsratsche gegenüber dem EuGH ein Zahnradzahn weitergedreht und beim PiS-frommen Verfassungsgericht beantragt, Vorlagen zum EuGH in Sachen „Justizreform“ für verfassungswidrig zu erklären. Welche verheerenden Folgen dies für die Integrität des Europarechts hätte, analysiert KACPER MAJEWSKI.

Einstweilen ist die polnische Justiz aber noch zu erstaunlichen Taten fähig, wie der Bericht von ANNA MAZURCZAK zeigt: Das Oberste Verwaltungsgericht in Warschau hat den Weg für die Registrierung von gleichgeschlechtlichen Paaren als Eltern frei gemacht.

Der UK Supreme Court hatte in der Vorwoche, wie schon im letzten Editorial thematisiert, christliche Tortenbäcker nicht verpflichten wollen, auch zur Feier der Homo-Ehe Torten zu backen. MATTHEW BURTON hält die Entscheidung nicht für gelungen.

Die Niederlande müssen nach einem Urteil des Appellationsgerichts von Den Haag ihre CO2-Emissionen um 25 Prozent reduzieren. INGRID LEIJTEN fragt sich, ob das Gericht damit den Menschenrechts-Bogen nicht überspannt hat.

Zwischen Bayern– und Hessenwahl untersucht SEBASTIAN ROSSNER, welche Grenzen der Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien dem Einsatz von Fraktionsmitarbeitern im Wahlkampf zieht.

Das Verschwinden des Interpol-Präsidenten in China nehmen HENRIK PEKÁREK und KILIAN WEGNER zum Anlass, auf die strukturelle Anfälligkeit von Interpol hinzuweisen, von autoritären Regimes zur Verfolgung ihrer politischen Gegner auch im Ausland hinzuweisen – so wie jüngst wieder die Türkei im Fall Can Dündar.

Das deutsche Strafrecht kennt keine mächtigere Stimme als die des ehemaligen BGH-Richters, StGB-Kommentators und Kolumnisten Thomas Fischer, dessen neues Buch KLAUS FERDINAND GÄRDITZ allen Leser_innen auf das Wärmste anempfiehlt.

Anderswo

Our own KATHARINA MANGOLD schraubt kopfschüttelnd den AfD-Gesetzentwurf, die Ehe für Alle in Deutschland wieder abzuschaffen, auseinander: „Dieser fünfseitige Gesetzentwurf weist so basale handwerkliche Mängel auf, dass sich die Frage stellt, ob die AfD es eigentlich wirklich ernst meint mit ihrem Anspruch, eine konservative Kraft in Deutschland zu sein.“

Our own MICHAELA HAILBRONNER bringt die globale Verfassungsrechts-Community auf den aktuellen Stand in punkto AfD und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland.

PIETER CANOOT berichtet über ein Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs zu Gunsten einer transsexuellen Frau aus Italien, der die Behörden den Wechsel ihres Vornamens verweigerten.

JACOB ROWBOTTOM untersucht das „Gay-Cake“-Urteil des britischen Obersten Gerichtshofs in Hinblick auf das Recht des Bäckers, vor erzwungener Rede geschützt zu werden.

MICHAEL DORF ist nicht mit dem US-Bundesgerichtsurteil einverstanden, dass Präsident Trump die als Lügnerin bezeichnete Stephanie Clifford nicht beleidigt habe, weil das nur eine „rhetorische Übertreibung“ gewesen sei.

JULIAN R. MURPHY berichtet von den Schwierigkeiten in Australien, mit dem Staatsbürgerschaftsrecht ins Reine zu kommen.

Das wäre soweit alles für diese Woche. Ihnen alles Gute!

Ihr Max Steinbeis

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