Ukrainekrieg: Ist das Getreideabkommen in Gefahr?
Nur einen Tag nach der Einigung mit der Ukraine im Streit um Getreideexporte hat Russland den Hafen von Odessa mit Raketen angegriffen. Es droht eine weitere Zuspitzung der Hungerkrise. Auf der ganzen Welt sind Länder vom ukrainischen Getreide abhängig.
Wie ist die aktuelle Situation?
Über 22 Millionen Tonnen Getreide können zur Zeit nicht aus der Ukraine exportiert werden. Das liegt zum einen daran, dass Russland die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer blockiert; zum anderen daran, dass die Ukraine die Gewässer zum Schutz vor russischen Angriffen vermint hat. Für Millionen Menschen weltweit sind die Folgen dramatisch. Der Ukrainekrieg verschärft die bestehende globale Nahrungsmittelkrise, aktuell sind 345 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht.
Was beinhaltet das Getreideabkommen?
Die Ukraine und Russland haben sich am 22. Juli 2022 auf die Ausfuhr von Getreide und Dünger durch das Kriegsgebiet im Schwarzen Meer geeinigt. Die Vereinbarung sei ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in Istanbul während der Unterzeichnungszeremonie.
Das Getreideabkommen werde Entwicklungsländern und hungernden Menschen Erleichterung verschaffen. Es handelt sich genau genommen um zwei Vereinbarungen: ein Teil betrifft die Lieferungen von Nahrungsmitteln aus der Ukraine, der andere Teil beinhaltet Agrar-Exporte und Düngemittel aus Russland. Beide Parteien einigten sich darauf, dass die Schiffe nicht angegriffen werden dürfen. Unter UN-Führung sollen Vertreter der Länder zusammen mit der Türkei einen humanitären Korridor im Schwarzen Meer abstecken und überwachen.
Das Abkommen eröffne den Weg für umfangreiche kommerzielle Lebensmittelexporte aus Odessa, Tschornomorsk und Juschnyj, drei entscheidenden ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer, so UN-Generalsekretär Guterres. Allerdings ist nach Ansicht des Agrarökonomen Stephan von Cramon-Tubadel nur Odessa in der Lage, große Mengen zu exportieren. Das sagte der Wissenschaftler von der Universität Göttingen gegenüber dem ZDF.
Ist das Getreideabkommen in Gefahr?
Am 23. Juli 2022, nur einen Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens, wurde der Hafen von Odessa mit Raketen angegriffen. Das berichtete unter anderem das Onlinemedium Kyiv Independent unter Berufung auf das ukrainische Militär. Demnach habe Russland den Hafen mit mehreren sogenannten Kalibr-Marschflugkörpern attackiert. Zwei Raketen hätten dabei Einrichtungen des Areals getroffen. Russland hat nach erstem Dementi den Raketenangriff inzwischen eingeräumt.
Das Video wurde zum Zeitpunkt des Angriffs aus einer Wohnung nahe dem Hafen-Areal in Odessa aufgenommen.
Infolge des Raketenangriffs zweifelt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an der Erfüllung des unterzeichneten Getreideabkommens mit Russland. „Dies beweist nur eins: Egal, was Russland sagt oder verspricht, es wird Möglichkeiten finden, es nicht umzusetzen“, sagte Selenskyj.
Auch der Leiter des Präsidialamts der Ukraine, Andriy Yermak, bestätigte den Angriff und schrieb auf Twitter: „Die Russen schaffen systematisch eine Nahrungsmittelkrise und tun alles, damit die Menschen leiden. Der Hungerterror geht weiter.“
Verschlimmert der Ukrainekrieg die Nahrungsmittelkrise?
Die russische Invasion in der Ukraine verschärft eine bereits bestehende weltweite Nahrungsmittelkrise. Schon vor Beginn dieses Krieges waren 276 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. David Beasley, der Executive Director des World Food Programme, schreibt in einem Vorwort zu einer Broschüre „A Global Crisis“ des Blair Institute: „Diese Zahl ist aufgrund der Ukraine-Krise auf 345 Millionen gestiegen. Und erschütternde 50 Millionen Menschen in 45 Ländern sind jetzt nur noch einen Schritt von einer Hungersnot entfernt.“ Die Lage verschlechtere sich unter anderem durch die Klimakrise, die katastrophale Ernteausfälle verursache.
Welche Länder sind besonders von den ukrainischen Getreidelieferungen abhängig?
Überwiegend afrikanische und asiatische Länder sind auf Getreide aus der Ukraine angewiesen. Folgende Länder importieren einen besonders hohen Anteil von Weizen und anderen Getreidesorten aus der Ukraine: Ägypten (17 Prozent Anteil an der aus der Ukraine exportierten Gesamtmenge), Indonesien (15, 1 Prozent), Bangladesch (8, 4 Prozent), Pakistan (6, 9 Prozent), Türkei (5, 6 Prozent) und Marokko (5, 3 Prozent). Deutschland dagegen importiert nur geringe Mengen aus der Kornkammer Europas (0, 04 Prozent Anteil an den Gesamtexporten der Ukraine). Bei Weichweizen, der zur Mehlherstellung verwendet wird, ist Deutschland überhaupt nicht auf Importe angewiesen.
Wird der Getreidepreis noch in diesem Jahr sinken?
Derzeit ist nicht damit zu rechnen. Wie lange der Krieg anhalten wird, weiß niemand. Die Märkte reagieren grundsätzlich empfindlich auf Unwägbarkeiten. In der Ukraine ist mit einer verminderten Aussaat aufgrund der Kriegshandlungen Russlands zu rechnen. Hinzu kommen weltweit Missernten aufgrund weiterer Konflikte und der Klimakatastrophe.
Warum steigen die Preise für Nahrungsmittel in Krisen?
Im ersten Jahr der Corona-Pandemie 2020 haben Agrar-Rohstoffe laut der Welternährungsorganisation FAO auf dem Weltmarkt insgesamt 31 Prozent mehr gekostet als im Jahr zuvor, Ölsaaten wie Raps doppelt so viel. Auch der Preis für Mais hat sich nahezu verdoppelt. Weizen und Soja sind ebenfalls deutlich teurer geworden. Einer der Gründe: die gestiegenen Kosten der Lagerhaltung in Corona-Zeiten.
Extremwetterereignisse wie Dürren und Fluten führen ebenfalls dazu, dass Ernten ausfallen und die Preise daraufhin steigen. Die Invasion Russlands in der Ukraine sorgt dafür, dass dort eine viel geringere Aussaat stattfinden konnte. Einen großen Einfluss auf den Preis haben neben Konflikten auch die deutlich gestiegenen Energiepreise.
Was bedeuten die gestiegenen Nahrungsmittelpreise für Haushalte?
Werden Nahrungsmittel teurer, bedeutet das für viele Haushalte in ärmeren Ländern, dass sie sich keine Nahrung mehr kaufen können und hungern müssen. In Ländern des Globalen Südens müssen oft zwischen 50 und 100 Prozent des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben werden, so die Welthungerhilfe. Für andere Ausgaben wie Wohnkosten oder Schulbildung der Kinder bleibt schlichtweg nichts übrig. Der Internationale Währungsfonds warnte bereits Ende April, die drohende Nahrungsmittelkrise könnte in Afrika südlich der Sahara soziale Unruhen auslösen.
In Industrieländern wirken sich die Preissteigerungen meist nur moderat aus: Die Menschen müssen schätzungsweise 12 bis 30 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden.