Auslandsjournalismus in der Krise: Warum die Welt immer mehr verblasst
Der Ukraine-Krieg hat uns überrascht, auch weil Medien zu wenig aus Osteuropa berichtet haben. Weltreporter Marc Engelhardt plädiert für eine bessere Auslandsberichterstattung.
Wenn sich die medialen Scheinwerfer nur auf einige wenige Länder richten, bleibt im Dunkeln, was im Rest der Welt passiert. Was im größten Land Europas seit der Maidan-Revolution 2013 und der russischen Besetzung der Krim 2014 geschah, darüber war in deutschen Medien wenig zu lesen: So kamen zuletzt auf 14 Artikel aus den USA gerade mal einer aus der Ukraine, so das Ergebnis der Studie „Das Verblassen der Welt“ von Marc Engelhardt. Der langjährige Afrika- und UNO-Korrespondent hat für die Otto-Brenner-Stiftung die Auslandsberichte von 23 überregionalen und regionalen Zeitungen in Deutschland aus den Jahren 2010 bis 2019 ausgewertet. Das Ergebnis: Während über acht Staaten – allen voran die USA, gefolgt von Großbritannien – mehr als 100.000 Mal berichtet wurde, kamen 34 Länder insgesamt weniger als 50 Mal vor. Selbst Staaten, in denen akute Krisen oder Konflikte herrschen – etwa Moldawien oder die Sahel-Zone – oder in denen es eine aktive Bundeswehrmission gibt – wie zum Beispiel in Mali – blieben stark unterrepräsentiert.
Ein großer Teil der Weltkarte verliert sich also in weißen Flecken. Was die Ursachen für dieses „Verblassen der Welt“ sind und mit welche Maßnahmen man dagegen steuern könnte, darüber hat der Autor mit Weltreporterin Christina Schott gesprochen.
C.S.: Was hat Dich dazu veranlasst, zu untersuchen, ob der Auslandsjournalismus in einer Krise steckt?
M.E.: Die Motivation, eine Studie über den Zustand der Auslandsberichterstattung zu schreiben, kam eher mit der Zeit. Ich habe mehr als zwanzig Jahre lang als Auslandskorrespondent gearbeitet und währenddessen miterlebt, wie die Umstände für uns Berichterstatterïnnen immer schwieriger wurden. Für mich selbst, aber auch bei Kolleginnen und Kollegen etwa der Weltreporter. Dieses mulmige Gefühl, dass wir seit Jahren in eine Krise des Auslandsjournalismus taumeln, wollte ich mit einer Untersuchung überprüfen. Und dabei hat sich leider bewahrheitet, dass die Auslandsberichterstattung tatsächlich längst in einer tiefen Krise steckt.
C.S.: Was sind Deiner Erkenntnis nach die Ursachen für diese Krise?
M.E.: Das hat viel mit den immer knapperen Ressourcen zu tun, mit denen der Auslandsjournalimus auskommen muss. Es gibt immer weniger Korrespondentïnnen in immer weniger Ländern, die mit immer bescheideneren Mitteln ein oft riesiges Gebiet abdecken sollen. Die Folge ist, dass viele Redaktionen sich auf Agenturen oder wenige Leitmedien verlassen. Viele Länder und Regionen fallen da zwangsläufig hinten runter. Zur Schließung vieler Auslandsbüros und der Entlassung fester Korrespondentïnnen kommt ein Sparkurs, der es auch freien Auslandsberichterstatterïnnen immer schwerer macht, ihre Arbeit zu finanzieren.
Aus Afrika habe ich vor zwölf Jahren für mehr als ein Dutzend Zeitungen geschrieben. So ließen sich auch teure Reisen bezahlen. Heute sind die meisten dieser Zeitungen in Verlagsgruppen zusammengefasst. Das bedeutet: Für drei oder vier Veröffentlichungen gibt es nur noch ein Honorar. Dass gleichzeitig die Redaktionen schrumpfen und es immer weniger Platz für Auslandsthemen gibt, kommt dazu. Und schließlich wird die Lage in den Berichtsgebieten immer schwieriger. Das von Putin nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine erlassene Gesetz gegen Auslandskorrespondentïnnen ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Barrieren für Berichterstatterïnnen wachsen seit Jahren. Dazu kommt eine immer ausgefeiltere Propaganda, wie wir sie gerade in Russland sehen, aber nicht nur dort.
C.S.: Wie kann es sein, dass uns selbst Nachrichten aus Ländern überraschen, über die sehr viel berichten wird – etwa der Wahlsieg Trumps in den USA?
M.E.: In Sachen Trump spielte es eine Rolle, dass fast alle USA-Korrespondentïnnen in den großen Städten an den Küsten leben, während die Unterstützung für den Nationalisten Trump im Binnenland der USA verortet war und ist. Und selbst in einem Land wie den USA, wo die meisten Medien noch feste Korrespondentïnnen haben, fehlt den Berichterstatterïnnen oft die Zeit oder das Geld, um den Schreibtisch zu verlassen und ohne konkreten Anlass mehrere Tage zu reisen.
C.S.: Und warum hat uns die russische Invasion in der Ukraine so überrascht, obwohl es davor durchaus Warnungen gab?
M.E.: Natürlich kann niemand einem Potentaten ins Gehirn schauen. Aber nach der völkerrechtswidrigen Annektion der Krim hätte man viel stärker aus der Ukraine und den illegal besetzten Gebiete berichten müssen, um zu verstehen, was dort vor sich geht. Das gleiche gilt für Russland, jenseits der Hauptstadt Moskau. Ich lese jetzt viele Artikel über die Netzwerke der Oligarchen, die ich gerne schon früher gelesen hätte. Entweder wurden sie vorher nicht geschrieben oder sie wurden angesichts der Weltlage nicht als wichtig genug erachtet. Ich vermute letzteres. Eine der schwersten Auswirkungen der Krise des Auslandsjournalismus ist, dass uns die Fähigkeit abhanden gekommen zu sein scheint, mehr als eine Krise zur gleichen Zeit zu verfolgen. Dadurch verblassen weite Teile der Welt und blitzen erst wieder auf, wenn eine Katastrophe passiert
C.S.: Welche Gefahr birgt es, dass jetzt fast nur noch über den Ukraine-Krieg berichtet wird?
M.E.: Die Gefahr, dass wir bei der nächsten Katastrophe, die anderswo passiert, ebenso überrascht sind wie beim russischen Einmarsch in die Ukraine, der Blitzeroberung Afghanistans durch die Taliban oder auch dem „Ja“ zum Brexit. Ein Beispiel: In wenigen Wochen soll der Bundestag entscheiden, ob die Bundeswehr ihren Einsatz unter UN-Mandat in Mali fortsetzen soll. In Mali gab es zuletzt zwei Putsche, die Lage ist kompliziert. Alle sind sich einig, dass die Lage im Sahel auch für die Stabilität Europas entscheidend ist. Und trotzdem – und trotz der Präsenz deutscher Soldatïnnen vor Ort – hat kein einziges Medium einen Mali-Korrespondenten. Die Berichterstattung, die ich analysiert habe, stammt ganz überwiegend von Agenturen, das sind kurze Meldungen. Oder es handelt sich um Berichte von Hauptstadtkorrespondenten, die gemeinsam mit einer Ministerin eingereist sind und jenseits der Bundeswehr-Stützpunkte nichts vom Land gesehen haben. Wie soll man da ein richtiges Bild bekommen und vermitteln?
C.S.: Welche „weißen Flecken“ auf der Weltkarte sollten wir unbedingt im Auge behalten?
M.E.: Die Covid-Pandemie begünstigt Destabilisierungen in vielen Teilen der Welt. In Afrika häufen sich die Putsche. Autokraten überall in der Welt nutzen die Krise, um noch härter gegen ihre Kritiker durchzugreifen. In Taiwan ist die Angst groß, China könnte dem Beispiel Russlands folgen und einen Angriffskrieg beginnen. Von den mehr als zwanzig Kriegen mit schrecklichen Auswirkungen für die Bevölkerungen, die es aktuell in der Welt gibt, etwa in Syrien oder im Jemen, liest man kaum noch etwas. Und dann ist da noch die Klimakrise, die ganze Regionen bedroht. An weißen Flecken mangelt es leider wirklich nicht.
C.S.: Wie könnten wir dem „Verblassen der Welt“ entgegensteuern?
M.E.: Wir brauchen ein stärkeres Engagement des Bundes für Journalismus – auch im Ausland. Dazu gehört, dass sich Botschaften noch stärker als bisher für Korrespondentïnnen einsetzen, denen eine freie Berichterstattung erschwert oder unmöglich gemacht werden soll. Und wir brauchen eine Diskussion darüber, wie Auslandsberichterstattung öffentlich gefördert werden kann, um dem offensichtlichen Marktversagen entgegenzuwirken. Eine verlässliche Auslandsberichterstattung mag sich vielleicht betriebswirtschaftlich nicht immer lohnen – obwohl ich persönlich das bezweifle. Auf jeden Fall aber hat sie einen hohen volkswirtschaftlichen Wert: Auf ihrer Grundlage werden wichtige politische und wirtschaftliche Entscheidungen getroffen, die nicht nur Milliarden wert sind, sondern auch Menschenleben betreffen, etwa von Soldatïnnen. Das muss dem Staat Geld wert sein. Die Unabhängigkeit der Presse darf davon natürlich nicht beeinflusst werden, aber dafür lassen sich Lösungen finden.
C.S.: Welche Rolle könnten freie Journalisten dabei übernehmen?
M.E.: Zusammenschlüsse freier Journalistïnnen im Ausland wie die Weltreporter halte ich für ein entscheidendes Element, um die Auslandsberichterstattung zu verbessern. Menschen, die Jahre und Jahrzehnte im Ausland leben, können Entwicklungen besser beobachten und frühzeitig warnen. Sie müssen dann aber auch entsprechend ausgestattet und von ihren Redaktionen unterstützt werden. In der Ukraine sehen wir gerade wieder, dass freie Journalistïnnen unter Lebensgefahr berichten, oft aber weder ausreichend ausgebildet und abgesichert sind. Das darf nicht sein.