Tunis: billig und komfortabel – zumindest für Expats

Die tunesische Hauptstadt landet in den Rankings der billigsten Städte für Expats regelmäßig auf den Spitzenplätzen. Den anderen Bewohnern der Drei-Millionen-Stadt entlockt das im besten Fall ein müdes Lächeln.

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
6 Minuten
Blick auf ein Café in Sidi Bou Said, einem Vorort von Tunis, im Abendlicht, mit Blick auf das Mittelmeer im Hintergrund

Der Jahresanfang ist in Tunesien für Überraschungen gut. „Weißt du, wieviel ich für den Kaffee bezahlt habe?“ Der Schwung, mit dem mein Mann die Tür zum Arbeitszimmer aufgerissen hatte, und die leichte Aufregung in seiner Stimme ließen mich erahnen, dass im Supermarkt irgendwas passiert sein musste.

Jedes Jahr am 1. Januar tritt in Tunesien ein neues Finanzgesetz in Kraft: einerseits wird damit der Haushalt für die verschiedenen Ministerien festgelegt, andererseits werden auch neue Steuersätze für Unternehmen, Finanzgesetze oder Importzölle. Jedes Jahr aufs Neue. Für die meisten Tunesierïnnen ist das Finanzgesetz gleichbedeutend mit Preiserhöhungen im Alltag. Einige Tage vorher, Ende Dezember, hatte ich noch mit ein paar Bekannten auf Twitter über den neuen Staatshaushalt gewitzelt, als wir virtuell gemeinsam die Liste der Produkte durchgingen, auf die die Steuer erhöht werden sollte. Alkohol war dabei, so wie gefühlt jedes Jahr, aber auch Rohstoffe für die Bauindustrie, Elektroautos (die in Tunesien sowieso keine Marktzulassung haben) und Fahrräder.

Seit einigen Jahren gibt es im Land eine stetig wachsende Bewegung, vor allem tunesische Produkte zu konsumieren statt billiger Importware aus der Türkei oder China, die mit niedrigen Preisen die lokale Industrie kaputtmachen. Unter dem Hashtag #consommi_tounsi (tunesisch konsumieren) teilen Verbraucherïnnen in den sozialen Netzwerken Produktempfehlungen, in den Supermarktprospekten sind einheimische Produkte mit der tunesischen Flagge gekennzeichnet. Die Finanzgesetze sind ganz in diesem Sinne geschrieben. Alle Artikel, die als „Luxus“ deklariert werden – und das sind so ziemlich alle außer den staatlich subventionierten und zentral importierten Grundnahrungsmitteln – unterliegen horrenden Importsteuern.

Kaffee und Schokolade zum Familienbesuch

Schön und gut, auf das Duschgel der Eigenmarke einer großen deutschen Drogeriekette, das im Supermarkt in Tunis das zehnfache kostet wie in Deutschland, kann ich gerne verzichten. Aber was ist mit den Produkten, für die es keine lokale Alternative gibt, fragte sich auch meine Twitter-Bubble. Denn das Land produziert weder E-Autos noch Fahrräder, baut keinen Kaffee und keine Schokolade an. Bald wären wir wohl wieder an dem Punkt, dass die Auslandstunesier beim Heimatbesuch im Sommer teure Lebensmittel als Geschenk mitbringen, sagte eine in Frankreich lebende Bekannte.

Als Expat lässt es sich in Tunesien hingegen gut leben, sollte man meinen. Seit mit der Revolution 2011 immer mehr Ausländer in Projekte der Entwicklungszusammenarbeit entsandt werden, taucht die Hauptstadt Tunis regelmäßig an der Spitze irgendwelcher mehr oder minder seriöser Rankings der zehn billigsten Städte für Expats auf. Zwar wurde mein Wohnort dieses Jahr von Bishkek, Lusaka und Tiflis überholt, aber trotzdem soll hier das Verhältnis von Kosten und Lebensstandard (Mittelmeer, Sonne, frischer Fisch!) eines der besten weltweit sein. Für Expats, wohlgemerkt.

Ich gebe zu: mit einem tunesischen Gehalt und den schwankenden Einnahmen einer freien Journalistin an einem Ort, der nicht ständig im Fokus der deutschen Medien ist, leben wir hier komfortabel. Die knapp 25 000 Euro Schulgeld im Jahr (plus das verpflichtende private Macbook) für die amerikanische Schule, auf die die meisten Entsandten ihre Kinder schicken, könnten wir uns mit Sicherheit nicht leisten, aber für die Miete unserer Vier-Zimmer-Wohnung bekämen wir in einer deutschen Millionenstadt höchstens ein WG-Zimmer, in Tel Aviv, der teuersten Stadt der Welt, wohl noch nicht mal das.

Blick über den Golf von Tunis am Mittelmeer
Eindeutiger Standortvorteil von Tunis: die Lage direkt am Mittelmeer

In Tunis könnte ich für 3,50 Euro die Stunde Yoga machen, für noch weniger mich nach dem Besuch des Hammams in meinem Viertel mal wieder richtig sauber fühlen. Mein Friseur, zugegeben einer der teureren in Tunis, nimmt zehn Euro für einen Haarschnitt. Ich sollte ihm dringend mal wieder einen Besuch abstatten – wäre da nicht Corona. Ich könnte danach mit Blick aufs Mittelmeer an einem Tisch mit weiß gestärktem Tuch ein Fischfilet in Safransauce und einen eigentlich für den Export bestimmten Rosé genießen, ohne dass dafür ein halber Tagessatz draufgeht. Das beste 5-Sterne-Hotel des Landes nimmt übrigens (in der Nebensaison, unter der Woche) 80 Euro die Nacht. Diese Liste ließe sich relativ beliebig fortsetzen. Sie ist nur für die große Mehrheit der drei Millionen Menschen in Tunis völlig irrelevant.

Die meisten Bewohner der Hauptstadt – Tunesierïnnen, aber auch Studierende aus Subsahara-Afrika oder Geflüchtete – können über solche Rankings und den Ruf von Tunis als billiger Stadt im besten Fall nur müde lächeln. Die Inflation ist seit Jahren im Dauerhoch, die Mieten sind in Tunis seit der Revolution in die Höhe geschnellt – wegen der Inflation; wegen besagter tausender Expats, die das Land bei der Demokratisierung unterstützen sollen; aber auch wegen des massiven Zuzugs von Libyerïnnen, die nach dem Sturz von Gaddafi in Tunesien Sicherheit vor dem Krieg oder medizinische Behandlung suchen; wegen der Tunesierïnnen, die feststellen mussten, dass sich auch zehn Jahre nach der Revolution im verarmten Landesinneren wenig zum besseren gewandelt hat und die wie früher in die Hauptstadt drängen auf der Suche nach einem Job.

Dauerkrise auf allen Ebenen

Auch für die einst große Mittelschicht sieht es zunehmend düster aus. Die Kombination aus Covid-, Wirtschafts- und politischer Dauerkrise sorgt dafür, dass sie jeden Dinar inzwischen zweimal umdrehen muss. Mindestens die Hälfte der Haushalte ist verschuldet: Autos, Waschmaschinen und Fernseher werden in Raten bezahlt, Kredite aufgenommen, um andere zurückzuzahlen. Der Verband der Altkleiderimporteure warnte vor wenigen Tagen, dass ihnen bald die Ware ausgehe und die Flohmärkte, wo mehr als drei Viertel der Tunesierïnnen sich regelmäßig günstig mit gebrauchter Kleidung aus Europa eindecken, in den kommenden zwei Jahren schließen müssten, wenn es so weitergehe wie bisher.

In der Markthalle des Zentralmarkts von Tunis hängen frische Zitronen
Frisches Obst und Gemüse das ganze Jahr über: doch die Preise steigen ständig.

In den Geschäften fehlen regelmäßig Grundnahrungsmittel und Medikamente. Neulich gab es Ärger über Preisabsprachen in der Geflügelwirtschaft und tagelang keine Eier oder Hähnchen. Das ist ärgerlich, aber wenig dramatisch. Lebensgefährlich wird es für viele, wenn die ausländischen Hersteller der Zentralapotheke wegen Zahlungsrückständen nur noch gegen Vorkasse liefern, dann fehlen auch mal Insulin oder antivirale Medikamente zur Behandlung HIV-Infizierter. In der Corona-Welle letzten Sommer standen die staatlichen Krankenhäuser kurz vor dem Kollaps. Selbst teure private Zusatzversicherungen übernahmen Covid-Behandlungen nicht, so dass viele Menschen sich für Intensivbehandlungen in den Privatkliniken verschuldet haben.

Wenn die Containerschiffe vor der Küste liegen und wegen ausstehender Schulden nicht entladen werden, gerät die Vorratshaltung des Zentralimports für Getreide aus dem Gleichgewicht: Gerade ist in vielen Regionen das Mehl knapp. Dafür essen wir im Moment regelmäßig Risotto. Das ist, zugegebenermaßen, ein Luxusproblem: Denn nachdem der Risotto-Reis seit Beginn der Pandemie aus den Auslagen verschwunden war, gibt es gerade nur noch den – er kommt fertig verpackt aus Italien, unterliegt nicht dem staatliche Importmonopol und ist daher entsprechend teuer, versteht sich.

Wer es sich leisten kann, wird in Tunesien zum Prepper. Ein – zugegeben in manchen Dingen etwas nerdiger – Bekannter von mir überwacht permanent die Devisenreserven der Zentralbank, den Füllstand der staatlichen Vorräte und verfügbaren Medikamente. Seinen Algorithmus will er nicht verraten, aber wenn sich die Warnstufe ändert gibt er Bescheid. Dann weiß sein Umfeld, dass es wohl mal wieder an der Zeit wäre, die Nudelpakete und Konserven im Vorratsschrank zu zählen und nachzuschauen, wann das Breitbandantibiotikum abläuft, das seit der letzten Krise im Schrank liegt.

Diese Krise ist in Tunis dauerpräsent und dauernd ausgeblendet. Wer irgendwie kann, versucht den Alltagsstress zumindest kurzfristig zu vergessen. Dabei hilft eine Mischung aus Fatalismus, „Augen zu und durch“- und „Es ist noch immer gutgegangen“-Mentalität. Und eine gehörige Portion „tanbir“, dieser unübersetzbare Ausdruck für eine spezifisch tunesische Mischung aus Galgenhumor gepaart mit Spott und Selbstironie.

Der Kaffeepreis war in der Silvesternacht übrigens von 30 auf 40 Dinar gestiegen. Für zwei Kilo davon, zusammen mit einem Kasten Bier, einer Flasche Wein, einem Kilo Obst und besagtem Risotto-Reis, hatten wir Anfang Januar fast zweihundert Dinar, rund 60 Euro hingelegt – einen halben tunesischen Monatsmindestlohn.

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