XR-Reporterin on Tour: Sieht so die Stadt der Zukunft aus?

Ein neues journalistisches Format trifft auf ein Projekt, das ein Teil der Zukunft der Großstädte in Zeiten wachsender Hitze sein könnte

7 Minuten
Eva Wolfangel mit einer VR-Brille

Der folgende Text ist entstanden im Rahmen des Projekts „Deine XR-Reporterin“. Dabei wird eine Reporterin gewissermaßen ferngesteuert von einer Gruppe im Hintergrund, die gemeinsam ein Thema recherchieren und journalistisch aufbereiten will. Die Reporterin und Initiatorin des Projektes Eva Wolfangel trägt dafür eine smarte Brille, die alles, was die Reporterin sieht und hört an die Gruppe im Hintergrund übertragt - in diesem Fall die Klasse 10 der Stuttgarter Max-Eyth-Schule. Diese Gruppe fungiert als Redaktion: Sie wählt das Thema der Recherche aus und bereitet Fragen und einen Rechercheplan vor. Die Reporterin vor Ort stellt also nicht ihre eigenen Fragen, sondern die der Gruppe. Die Gruppe hört und sieht live zu und sendet Nachfragen direkt an die Reporterin, die diese dann live stellt.

Hier gibt es eine Aufzeichnung der Recherche durch die Augen (bzw die Brille) der XR-Reporterin: Mehr zum Hintergrund des Projektes findet ihr hier sowie bei unseren Förderern vom Innovationsfond der WPK.

Im Folgenden veröffentlichen wir verschiedene Texte: Zunächst jenen, den die XR-Reporterin Eva Wolfangel nach der Recherche verfasst hat und im Anschluss ausgewählte Texte der Schülerinnen und Schüler.

Stuttgart als Modell für die Stadt der Zukunft?

Von XR-Reporterin Eva Wolfangel

Stuttgart ist bekannt für seine über Jahre andauernde Bahnhofsbaustelle, für den Feinstaub, der sich in der Kessellage besonders gut sammelt, und für seine Ein- und Ausfallstraßen, die im Berufsverkehr regelmäßig einen gewaltigen Stau produzieren: Die Autostadt – immerhin Heimat von Porsche und Daimler - scheitert seit Jahren daran, die eigene Mobilität gut zu organisieren. Gleichzeitig werden Schnellbus-Linien eingestellt, die S-Bahn ist marode und fällt oft aus. Die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) leidet unter Personalmangel, sodass immer wieder U-Bahn-Fahrten ausfallen, Busse gestrichen werden und der Fahrplan ausgedünnt wird.

Nun kommen auch noch die Folgen des Klimawandels hinzu: Innenstädte werden heißer, die Lebensqualität sinkt, für immer mehr Menschen wird es gesundheitlich gefährlich. Es ist offensichtlich, dass der zunehmende Autoverkehr zu dieser Problemlage beiträgt. Das wirft für die Stadtgesellschaft und Planer:innen viele Fragen auf: Wie sollen sich Menschen in der Großstadt fortbewegen? Wie könnte eine nachhaltige und gut funktionierende Mobilität in Stuttgart aussehen?

Auf der Suche nach Antworten stellen die XR-Reporterin und die Klasse 10b der Stuttgarter Max-Eyth-Schule zunächst einmal fest: Die Stadt selbst gibt dazu keine Antworten. Die Pressestelle der Stadt lehnt eine Interviewanfrage zunächst aus Zeitgründen ab. Als die XR-Reporterin und der Lehrer der Klasse, Johannes Schlund, hartnäckig bleiben, wird ein anderer Termin vorgeschlagen, der weit in der Zukunft liegt – und ein anderes Thema behandeln soll. Der einzige Interviewpartner, der in absehbarer Zeit zu sprechen sei, könne nicht generell über Mobilität in Stuttgart sprechen. Er würde lieber über ein künftiges Quartier reden, das Rosensteinquartier, das im Zuge des Projektes Stuttgart 21 neu gestaltet wird.

Erstaunlich: Ist es üblich in Stuttgart, die Fragen, die man beantworten möchte, den Medien zu diktieren und andere auszuschlagen? Die XR-Reporterin hat unter diesen Umständen gemeinsam mit der Schulklasse entschieden, andere Interviewpartner zu suchen. Das Thema: Der so genannte „Superblock West“, ein verkehrsberuhigtes Stadtviertel im Stuttgarter Westen.

Der Superblock könnte ein Puzzleteil sein im künftigen Verkehrskonzept der Stadt. Dort sollen Ideen für nachhaltiges Leben in der Großstadt getestet werden. Vorort-Besuch im Juni 2024, einen Tag nach der offiziellen Eröffnung des Abschnitts in der Augustenstraße und den Anliegerstraßen. „Stuttgart hat sich vorgenommen, den Autoverkehr um zwanzig Prozent zu reduzieren“, sagt Jochen Detscher, ein Initiator des Superblock West aus der lokalen Bürgerinitiative. „Gleichzeitig braucht die Stadt Klimaresilienz.“ Der Begriff meint, dass gerade Großstädte, die sich angesichts dichter Bebauung und wenig Natur besonders stark erhitzen, Maßnahmen ergreifen müssen, um die Erwärmung in der Stadt zu reduzieren.

Dazu müssten neue Konzepte getestet und ausgewertet werden – und dazu soll der Verkehrsversuch in der Augustenstraße beitragen. Wichtigste Maßnahme: Die Stadt erschwert den Durchgangsverkehr, indem sie so genannte Diagonalsperren an den Kreuzungen errichtet: Autos können nicht mehr auf direktem Weg durch das Wohngebiet fahren, weil die Kreuzungen jeweils nur eine Fahrtrichtung erlauben.

Die Autos werden über die Querstraßen wie in Schlangenlinien durch das Viertel geleitet, was die Fahrtzeit deutlich verlängert. So verliert die Augustenstraße die Attraktivität als Abkürzung für den Verkehr von außerhalb in die Innenstadt. „Man kann weiterhin überall hinfahren, aber es ist umständlicher“, erklärt Ulrich Beck, der ebenfalls in der Bürgerinitiative aktiv ist und gemeinsam mit Detscher durch das Viertel führt. Die Idee: Wenn es unbequemer wird, verzichten Menschen vielleicht sogar auf das Auto.

Die Idee der Diagonalsperren ist nicht neu, habe in der Vergangenheit aber immer wieder funktioniert, erklärt Beck: So gebe es den Begriff des „induzierten Verkehrs“, also Verkehr, der erst entsteht, weil es Raum für ihn gibt: „Neue Straßen führen zu mehr Verkehr; weniger Straßen reduzieren ihn.“ Zugleich müsste im Gegenzug der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden. Das Deutschland-Ticket sei eine gute Ergänzung zu Maßnehmen wie dem Superblock, sagt Detscher: Dadurch werde es attraktiver, mit S- oder U-Bahn in die Innenstadt zu fahren anstatt mit dem Auto.

Aber wird durch die Diagonalsperren nicht der Verkehr in den umliegenden Straßen erhöht? Die Initiatoren gehen davon aus, dass das kein entscheidender Faktor sein wird. Schließlich sei die Augustenstraße keine bedeutende, große Straße, sie sei nur beliebt gewesen als Abkürzung, sagt Beck.

Die Wirkung der Maßnahme solle auch mit Zahlen belegt werden: Ein Forschungsprojekt der Uni Stuttgart misst die Luftqualität, die Stadt Stuttgart zählt den Verkehr und ermittelt, welche Bedeutung die Straße für den Durchgangsverkehr hat oder wer als Bewohnerin in das Viertel fährt. All das werde am Ende in die Entscheidung des Gemeinderats einfließen, ob der Versuch „verstetigt“ wird, so die Initatoren.

Neben der Verkehrsdichte ist Lebensqualität der nächste wichtige Aspekt – und gleichzeitig ein Knackpunkt des Projektes: „Die Anwohner wünschen sich sehr viel Grün“, sagt Beck. So könne man zusätzliche Aufenthaltsmöglichkeiten schaffen, damit „man nicht nur in Restaurants sitzen kann.“ Tatsächlich gibt es viele einladende Sitzgelegenheiten, die im Straßenbereich nun teilweise auf den Parkplätzen eingerichtet sind. Pop-up-Beete säumen die Straße und sind liebevoll bepflanzt. Radfahrer und Naturliebhaberinnen können das nur gut finden.

Auch die XR-Reporterin genießt das Grün bei ihrem Besuch per Fahrrad. Der Verkehr ist spürbar zurückgegangen, und tatsächlich sitzen selbst an diesem Vormittag unter der Woche einige Menschen auf den Bänken und unterhalten sich: Das Projekt scheint gut angenommen zu werden. Zugleich zeigen kritischen Fragen, die seit Monaten rund um das Projekt diskutiert werden und die auch die Redaktion hinter der XR-Reporterin umtreibt, dass es Problemfelder gibt. Immer wieder wird von Befragten erwähnt, dass Parkplätze wegfallen – gerade im Westen, „wo es sowieso schon viel zu wenige gibt.“ Das seien aber nur neun von mehr als siebenhundert Parkplätzen, beschwichtigen die Initiatoren.

Auch die Ausgaben werden diskutiert: 900.000 Euro kostet das Projekt inklusive Bürgerbeteiligung, erfährt die Redaktion auf Nachfrage von Ulrich Beck. Ist es fair, dass das alle Steuerzahler:innen bezahlen, während nur jene profitieren, die im Superblock-Viertel wohnen? So sei das eben in der Demokratie, erklärt Jochen Detscher: Jeder bezahle für Dinge, von denen er oder sie nicht direkt profitiere. „Schule wird auch von allen getragen, obwohl nicht alle Kinder haben“, sagt der Initiator. Wenn alle nur noch für das Steuern bezahlten, wovon sie direkt profitieren, funktioniere die Demokratie nicht mehr.

Doch es gibt weitere kritische Aspekte, die auch von den Organisatoren nicht endgültig ausgeräumt werden können: Besteht nicht die Gefahr unerwünschter Nebeneffekte? Wenn etwa die Lebensqualität im Stadtviertel steigt, könnten dort künftig die Mieten steigen. Mögliche Folge: Wohlhabende verdrängen die bisherigen Mieter aus dem Wohngebiet, weil die sich die Mieten nicht mehr leisten können. Gentrifizierung lautet das Fachwort für diesen Verdrängungswettbewerb in Städten, der in vielen Städten nachweisbar ist.

Natürlich kann nicht alles in der Planung eines Verkehrsversuchs mitgedacht und berücksichtigt werden, aber die Kritik auch von anderen Anwohnenden zeigt, dass die Stadt solche Fragen ernst nehmen und frühzeitig behandeln muss. Sonst verstärkt ein solches Projekt, das in die Zukunft weist und wichtige Probleme von Großstädten in der Klimakatastrophe lösen könnte, vor allem eines: die Polarisierung der Gesellschaft.

Das führt schließlich zu der Frage, die beim beim Vorort-Besuch immer wieder aufkommt: Schaffen sich hier einige wenige ein kleines Paradies, von dem die Mehrheit der Stuttgarterinnen und Stuttgarter nichts hat? Nein, sagen die Organisatoren: Das Projekt solle Vorbildcharakter haben, es solle weitere Superblocks geben – in Stuttgart-Ost und -Süd gebe es schon erste Planungen. „Wir hoffen, dass der Gemeinderat die Verstetigung beschließt und viele weitere Superblocks folgen“, so Beck.

Wenn eines Tages die ganze Stadt begrünt und verkehrsberuhigt wäre, dann hätten alle etwas davon. Aber kann das tatsächlich funktionieren? Es bräuchte große Veränderungen in Stuttgart. Allen voran müsste die Stadt den öffentliche Nahverkehr fördern, statt ihn zu reduzieren. Dass die Verantwortlichen in Stuttgart zu Beginn dieser Recherche nicht mal bereit waren, Fragen zum Gesamtkonzept der künftigen Mobilität zu beantworten, erscheint da indes wie ein schlechtes Omen.

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