Wie Bottom-Up-Initiativen Berlin lebenswerter machen sollen – und klimaneutral
Jeder darf und soll mitmachen. Immer mehr Projekte setzen weltweit auf das Engagement von Menschen vor Ort, die ihr öffentliches Umfeld begrünen und verschönen – auch in Berlin. Ein ewiger Streitpunkt: das Auto.
Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie „Countdown Earth: So lösen wir die Klima- und Artenkrise“.
Großstadt geht eigentlich anders, möchte man meinen. Aber mitten im Reichenberger Kiez im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg findet sich der neuerdings der sogenannte „Dorfplatz“ – mit mehreren Bänken, umringt von Bäumen. Selbst im Februar ist es hier schon grün. Auf der Wildblumenwiese sieht man bereits erste Pflänzchen sprießen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat das Café schon offen: Ein paar Kunden sitzen davor und genießen ihren Kaffee in der Frühlingssonne, auch wenn sie sich dafür noch in ihre Mäntel hüllen müssen. Mehr Idylle geht kaum und damit es auch so bleibt, sind an diesem Tag zwei Männer unterwegs – mit Greifzangen.
Einer von ihnen ist der 70-jährige Luigi. Seine neongelbe Mütze hat er bis über die Ohren gezogen, aus einer Jackentasche lugt eine Gartenschere hervor. Er sammelt Coffee-To-Go-Becher, Tetrapacks, Hundebeutel und verstaut den Müll in der großen schwarzen Plastikkiste, die er auf Rollen hinter sich herzieht. Neben ihm bückt sich Daniel nach Müll, ein junger Mann, der über das Jobcenter vermittelt wurde. Die Arbeit im Reichenberger Kiez ist eine Wiedereingliederungsmaßnahme.
Ein lebenswerter Kiez als gemeinsames Ziel
„Ich wohne seit 30 Jahren hier“, sagt Luigi während er eine leere Sektflasche aufsammelt. Vor vier Jahren haben er und seine Nachbar:innen begonnen, den Kiez lebenswerter zu gestalten, etwa die Wildblumenwiese angelegt. „Durch dieses Projekt habe ich die Menschen erst wirklich kennengelernt“, sagt der gebürtige Italiener. Was ihm am besten daran gefällt? Keine Frage: das Miteinander der Menschen.
Jeder habe eine andere Motivation, sich im Kiez zu engagieren, erklärt die Stadtplanungsexpertin Agnes Müller vom Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin. „Den einen ist es wichtig, dass Kinder Platz zum Spielen haben, die anderen wollen sichere Fahrradwege und dann gibt es welche, die sich vor allem für die Begrünung interessieren, für den Artenschutz oder für Solaranlagen auf ihren Balkonen.“
Das gemeinsame Ziel der Bewohner:innen hier wie in anderen Berliner Vierteln: den öffentlichen Raum vor der Haustür gemeinsam zu gestalten. Es geht um den gemeinsamen Kiez. Einen Wohnbereich, der oft nur aus wenigen Straßenzügen besteht – und von denen es viele in Berlin gibt. Wie kleine Inseln in der Stadt, die ihren Bewohner:innen ein Gefühl von Heimat geben, die sie schützen wollen.
Auch Tju ist mit dabei. Früher war er Taxifahrer, heute setzt er sich für einen Kiez ein, wo Autos nur zu Gast sind. Tju ist in Berlin geboren und aufgewachsen, nennt sich selbst eine „alte Berliner Pflanze“, wie er an diesem Nachmittag bei einem Spaziergang durch seine Nachbarschaft erzählt. Momentan ist der 63-Jährige arbeitslos.
Eine temporäre Spielstraße macht den Anfang
Tju vergräbt die Hände tief in den Taschen seiner blauen Outdoorjacke. Er spricht ruhig und gelassen, aber seine Augen leuchten, wenn es um seinen Kiez und die Menschen hier geht, zu denen er seit zwanzig Jahren gehört. „Hier hat alles angefangen“, sagt Tju und blickt zu einem Straßenschild auf: Forsterstraße. Als 2020 die Spielplätze aufgrund der Corona-Maßnahmen gesperrt waren, wurde die Straße an Sonntagen per offizieller Verordnung zur Spielstraße umgewandelt. Die Kinder konnten sich auf der Straße austoben, die Nachbar:innen stellten Tische und Stühle auf. „Wie ein kleines Straßenfest“, sagt Tju. Das hat den Stein ins Rollen gebracht.
Die Nachbar:innen – und zwar nicht nur Eltern – setzten sich dafür ein, dass die temporäre Spielstraße verstetigt wird. Mit Erfolg: Jetzt ist die Forsterstraße jeden Sonntag von Juni bis September für vier Stunden für Autos gesperrt. Die Absperrung wird von den Nachbar:innen organisiert. „Es hat uns alle motiviert, noch mehr im Kiez zu verändern“, sagt Tju.
Sie gründeten verschiedene Arbeitsgruppen, darunter die Gruppe mit Luigi, die regelmäßig Müll sammelt, eine, die sich um die Bewässerung der Bäume kümmert, Wildwiesen anlegt und dann gibt es ganz neu die Energie AG, in der an einer klimafreundlichen Energieversorgung für das ganze Viertel gearbeitet wird. Mittlerweile engagieren sich rund 120 Menschen im Quartier. Rentner:innen sind ebenso begeistert dabei wie junge Familien, Studierende oder Arbeitslose wie Tju.
Das Ziel: Der Reichenberger Kiez soll ein Kiezblock werden
Und damit nicht genug. Sie wollen den Reichenberger Kiez zu einem sogenannten Kiezblock umgestalten, ein verkehrsberuhigtes Wohnquartier ohne motorisierten Durchgangsverkehr. Die Straßen sollen den Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und dem Nahverkehr gehören. Auch mehr Radwege, Grünflächen und Wiesen sind geplant, ganz grundsätzlich die Entsiegelung von Flächen.
Doch verkehrsberuhigt ist es im Kiez längst noch nicht. Immer wieder brettern an diesem Vormittag Autos durch die Straßen. Auch sichere Radwege sind im gesamten Kiez rar. Er selbst habe schon einen Unfall, in dem eine Radfahrerin angefahren wurde, miterlebt, erzählt Tju. „Das hat mich motiviert, dass wir ein sicheres Quartier brauchen. Es gibt viel zu tun.“
70 Kiezblocks in ganz Berlin
In ganz Berlin gibt es bereits 70 dieser Kiezblock-Initiativen – und zwar in allen zwölf Bezirken, auch am Rand der Stadt, wie in Spandau oder Marzahn. Angestoßen wurde das Ganze vom gemeinnützigen Verein Changing Cities. Die Idee dahinter: Wo großflächig das Leben auf die Straßen und öffentlichen Plätze zurückkehrt, also der Verkehr zurückgedrängt wird, profitieren der Mensch und auch der Planet.
Kiezblocks können Städte zu mehr Klimaschutz und -resilienz transformieren, sagt der Wissenschaftler Dirk von Schneidemesser vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit in Potsdam. Sie seien wichtige Bausteine in der Mobilitätswende, könnten den Autoverkehr und damit die Treibhausgasemissionen reduzieren, die Verkehrssicherheit erhöhen und die Luftqualität verbessern. Mit der geplanten Entsiegelung der Flächen könnten die Folgen des Klimawandels, wie urbane Hitzeinseln oder Starkregen und Flutkatastrophen, abgemildert werden.
Nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten Europas gibt es ähnliche Konzepte wie die Kiezblocks. In Darmstadt heißen sie „Heinerblocks“, in Hamburg „Superbüttel“, in Leipzig, Wien und Barcelona werden sie „Superblocks“ genannt. Das Ziel, das sie alle verbindet, ist eine lebenswerte, klimafreundliche Stadt zu schaffen. Der Erfolg hängt davon ab, dass die Menschen selbst die Veränderungen initiieren.
Ein klassischer Bottom-Up-Prozess
Dass Bürger:innen wie Tju den Prozess anstoßen, ihren Kiez nachhaltiger und verkehrsberuhigter zu gestalten, ist ein klassischer Bottom-up-Prozess – also ein Prozess von unten nach oben – wie die Stadtplanungsexpertin Agnes Müller sagt. Sie stehen im Gegensatz zu Top-Down-Prozessen, bei denen Projekte erst von der Politik angestoßen und dann gewissermaßen „nach unten“ an die Bürger:innen weitergetragen werden.
„Die Spielstraße wurde zwar anfangs vom Bezirksamt ins Leben gerufen. Die Bürger:innen haben sich dann aber selbst um die Ausgestaltung gekümmert und sich weiter organisiert“, erklärt Müller. Sie selbst wohnt und engagiert sich hier im Kiez. Gleichzeitig begleitet sie die Initiative wissenschaftlich und befragt mit ihren Studierenden die Menschen vor Ort. Auch zu den Kontroversen.
So habe es teilweise heftigen Widerstand in der Nachbarschaft gegeben, als die temporäre Spielstraße eingeführt wurde, erzählt die Wissenschaftlerin. Einige Nachbar:innen – darunter auch Familien – wollten zum Beispiel an den Sonntagen mit dem Auto bis vor die Tür fahren und waren empört darüber, dass sie daran gehindert wurden. Doch die Kritik habe sich mittlerweile gelegt. „Das ist auch ein Vorteil bei Bottom-Up-Aktionen: Man kann die Maßnahmen erst einmal testen. Und die kleinen Veränderungen geben den Menschen Zeit, sich anzupassen.“
Dem Bezirksamt fehlt Personal
Doch das persönliche Engagement kann nur der Anfang sein. Tju setzt sich mit anderen Nachbar:innen dafür ein, dass der Kiezblock Realität wird. Sie haben Pläne entwickelt, welche Maßnahmen im Kiez umgesetzt werden könnten: Mögliche Diagonalsperren mit Pollern, Einbahnstraßen, Einfahrtssperren an Kreuzungen. Auch weitere Spielstraßen, mehr Bäume, Sitzbänke, Blumenkübel oder Stadtmöbel kommen in Frage.
Die Nachbar:innen des Reichenberger Kiez haben 1000 Unterschriften gesammelt und einen entsprechenden Einwohnerantrag im Kommunalparlament des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg eingereicht. Dieser wurde 2021 auch bewilligt. Der Kiezblock soll nun nach und nach geplant und umgesetzt werden. „Doch bislang ist nichts passiert“, sagt Tju und blickt niedergeschlagen zu einer Kreuzung am Ende der Straße, auf der die Autos in hoher Geschwindigkeit vorbeirasen. Tju wirkt nachdenklich. „Ja, es ist demotivierend, weil wir uns viel Mühe gegeben haben und jetzt warten wir. Wer weiß, wie lange.“
Auf Nachfrage von RiffReporter bei der Pressestelle des Bezirksamts kommt die Antwort: Derzeit stehe im Bezirk kaum Personal für die Planung und Umsetzung der Kiezblocks zur Verfügung. Eine Beschleunigung der Umsetzung sei im aktuellen Haushalt nicht möglich – und es fehlen Gelder. Denn die Berliner Stadtregierung aus CDU und SPD hat die Finanzierung der Kiezblocks stark gekürzt. Das Signal der Politik an die Bürger:innen sei: „Wir bremsen alles aus, außer Autos“, sagt Ragnhild Sørensen vom Verein Changing Cities.
Ein kleiner Trost: Immerhin wurden bereits in mehreren Berliner Bezirken erste kleinere Maßnahmen für die Kiezblocks umgesetzt. In einem benachbarten Kiez, nur wenige Minuten von der Forsterstraße entfernt, sieht man zum Beispiel, wie eine Diagonalsperre aussehen kann. Die Autos werden durch die Poller daran gehindert durchzufahren, Radfahrer:innen und Fußgänger:innen kommen hingegen problemlos an den Pollern vorbei. Beinahe stolz präsentiert Tju die Poller, die sich schräg über die Kreuzung ziehen. Ganz so, als würde er damit sagen wollen: Es geht doch, siehst du!
Erste Maßnahmen werden umgesetzt
Das Bezirksamt Friedrichshain Kreuzberg erklärt, dass zuerst dort Maßnahmen umgesetzt werden, „wo der objektive Handlungsbedarf besonders groß“ sei. Ein Beispiel: Wenn Anwohner:innen stark unter Lärm und Luftverschmutzung leiden, wird schneller gehandelt. Doch: Bislang wurde in ganz Berlin kein einziges Kiezblock-Konzept so richtig verwirklicht.
Dabei wächst der Druck aus der Bevölkerung: Neben den Kiezblocks gibt es auch andere Bottom-up-Initiativen von Nachbarschaften, die den öffentlichen Raum lebenswerter machen möchten. Dabei müssen die engagierten Anwohner:innen nicht immer das Rad neu erfinden, sondern lassen sich zum Teil aus dem Ausland inspirieren (siehe Kasten: Plan B 2030).
Und nicht immer sind junge Leute und Eltern mit kleinen Kindern die treibende Kraft (siehe Kasten: Papageiensiedlung).
Seitdem die CDU in Berlin mitregiere, spüre man in der Stadt den Gegenwind, erzählt Tju. Die Initiative für den Ausbau der Radwege stockt in Berlin, höhere Parkgebühren für SUVs wurden verworfen, Tramprojekte wurden gestoppt und nicht zuletzt wurde die so dringend benötigte Finanzierung der Kiezblocks gekürzt, bilanziert der Verein Changing Cities. „Man sieht klar den Fokus, der auf das Auto gelegt wird“, sagt Tju. „Ja, es ist frustrierend. Manchmal habe ich das Gefühl, wir entwickeln uns in Berlin, was den Verkehr angeht, zurück.“
Doch er und die anderen Nachbar:innen machen trotzdem weiter und gestalten das Quartier mit der Spielstraße und der Wildblumenwiese – eben im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Und so lange sie nicht die Lust verlieren.
Immer wieder grüßen Nachbar:innen Tju an diesem Tag beim Vorbeigehen. Ein Stück Dorfgefühl in der sonst so anonymen Großstadt. Durch die Arbeit am Kiezblock hat Tju viele neue Menschen im Kiez kennengelernt. Eine Nachbarin, Ramona, bleibt kurz stehen. Sie ist Verkäuferin in einem Bäckerei-Kollektiv und ist ebenfalls im Kiez aktiv, kümmert sich wie Luigi um die Wildblumenwiesen. „Es macht mir Freude, ich liebe es zu gärtnern“, sagt sie und strahlt, während sie von einer neu geplanten Wildblumenwiese erzählt. Sie wünscht sich noch mehr engagierte Mitstreiter:innen. „Arbeit gibt es genug“, sagt sie und lacht. Sie muss weiter. Es gibt immer was zu tun im Kiez.
Verschiedene Perspektiven müssen miteinbezogen werden
„Wenn sich die Menschen an solchen Initiativen beteiligen und die Veränderungen in ihren Kiezen sehen und erfahren, bleiben sie auch eher motiviert, sich langfristig zu engagieren“, erklärt Agnes Müller von der TU-Berlin. Doch das Engagement erfordert eben auch Zeit und Motivation. „Nicht jeder kann das in seiner Freizeit leisten.“
Und: Nicht alle sind begeistert, wenn Parkplätze abgeschafft, Straßen begrünt und Spielstraßen eingeführt werden. Das Auto, es ist und bleibt für viele ein Statussymbol und unersetzliches Verkehrsmittel. „Es gibt auch Einzelhändler:innen, die gegen verkehrsberuhigte Kiezblocks sind, weil die Kund:innen dann nicht mehr mit dem Auto vorfahren können, um die Ware zu verstauen“, sagt Müller. Dabei zeigen Studien, dass die Stärkung von ÖPNV, Fuß- und Radverkehr dem Handel sogar mehr Geld bringen können.
Andere Nachbar:innen haben laut Müller Angst vor zu viel Verschönerung, weil dann die Gentrifizierung in einem lebenswerten Kiez die Mieten dramatisch in die Höhe treiben kann. „Am Ende bedeutet Teilhabe auch, andere Meinungen zuzulassen, so viele Perspektiven wie möglich bei der Gestaltung der Kieze einzubeziehen“, sagt Müller. „Alle sollten ihre Ansichten, Wünsche und Vorstellungen eines lebenswerten Lebens äußern dürfen. Reden und Kompromisse finden, ist extrem wichtig.“
Tju jedenfalls ist überzeugt, dass ein verkehrsberuhigter Kiezblock am Ende auch diejenigen überzeugen wird, die noch skeptisch sind. „Wir können über jedes Auto weniger im Kiez glücklich sein. Das sage ich als Auto- und Motorradfahrer“, sagt er. Und freut sich schon auf den Juni. Dann wird die Forsterstraße sonntags wieder zur Spielstraße – mit Menschen statt Autos.
„Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden gefördert von der HERING-Stiftung Natur und Mensch.“