Streit um Pestizide: Werden sie doch nicht in allen Schutzgebieten verboten?
Die EU-Kommission will den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln halbieren und sie aus den Schutzgebieten Europas verbannen. Doch nach Bauernverbänden wenden sich nun viele Mitgliedsstaaten gegen diesen Kurs. Auch Agrarminister Özdemir bringt Lockerungen ins Spiel – bei Landschaftsschutzgebieten
Beim Begriff „Schutzgebiet“ stellen sich viele Menschen eine Gegend vor, die von menschlichen Aktivitäten weitgehend unberührt sind und in der sich die Natur erholen kann. Doch eine Ankündigung aus Brüssel aus dem Juni macht deutlich, dass die Wirklichkeit anders ist: Bislang dürfen Landwirte in Schutzgebieten auch Pflanzenschutzmittel einsetzen. Die EU-Kommission will das jetzt unterbinden – und Deutschland hat sich dem Ziel angeschlossen.
Dass es beim Einsatz von Pflanzenschutz in sensiblen Gebieten nicht um kleine Mengen geht, die Landwirte in Schutzgebieten gegen Wildkräuter, Pilzkrankheiten und Insekten versprühen, zeigt die heftige Reaktion des Deutschen Bauernverbands (DBV) auf die Pläne aus Brüssel. Als „fachlich nicht nachvollziehbar“ und als „Gefahr für die Ernährungssicherheit“ brandmarkte DBV-Präsident Joachim Rukwied den Kurs. Ihm zufolge wären knapp 3, 6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche von einem Pestizidverbot in Schutzgebieten betroffen.
„Die Umsetzung der vorgeschlagenen Regelungen würde alleine bei Getreide jährliche Ertragsverluste in der Größenordnung von rund sieben Millionen Tonnen zur Folge haben“, rechnete der Bauernverband vor.
„Schauen Sie sich unsere Böden und Bestäuber an“
Zum Vergleich: Die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche in Deutschland beträgt knapp 17 Millionen Hektar. Der Plan der EU-Kommission betrifft also ein Fünftel davon. Besonders betroffen wären Obst-, Gemüse- und Weinbauregionen, in denen intensiv gespritzt wird, um die Ernten zu sichern: „Diese Sonderkulturen hätten in solchen Regionen keine Chance mehr“, warnt der DBV und zeichnet zugleich ein harmonisches Bild von dem Einfluss der Landwirtschaft auf Schutzgebieten.
„Unsere Bäuerinnen und Bauern haben den Einsatz und die Risiken bei der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln in der Vergangenheit bereits deutlich reduziert und erbringen zahlreiche Leistungen beim Umwelt- und Naturschutz“, sagt DBV-Präsident Rukwied.
Die EU-Kommission sieht das aber anders. „Schauen Sie sich unsere Böden an – 70 Prozent sind in schlechtem Zustand, was die Nahrungsmittelproduktion in bestimmten Gebieten bereits einschränkt“, sagte Frans Timmermans, zuständiger Vizepräsident der EU-Kommission, in leidenschaftlichem Ton bei einer Pressekonferenz, „schauen Sie sich die Bestäuberinsekten an – jede dritte Art ist im Rückgang begriffen, obwohl 80 Prozent unserer Kulturpflanzen von ihnen abhängen.“
Wissenschaftler gegen Ukrainekrieg als Argument für weniger Naturschutz
Zahlreiche wissenschaftliche Studien untermauern, dass die Biodiversität in Deutschland und der EU stark abnimmt. Ein Indikator, mit dem das Bundesamt für Naturschutz die Vogelvielfalt der Agrarlandschaft misst, hat sich seit 1970 mehr als halbiert. EU-weit haben Ornithologen gerade einen Rückgang der Vogelarten, die typische für die Agrarlandschaft sind, um 60 Prozent seit dem Jahr 1980 diagnostiziert.
In Deutschland schwindet die Vielfalt der Blütenpflanzen in der Landschaft Jahr um Jahr. Und Pestizide werden nicht nur in großer Zahl in Insekten gefunden, sie gelangen über Fließgewässer selbst dann in Naturschutzgebiete, wenn diese fernab von Anbauflächen liegen. Die Kommission sieht darin auch ein Risiko für die verlässliche Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Auch international gibt es Bemühungen, den Einsatz von Pestiziden drastisch zu reduzieren. Entsprechende Ziele sind im Weltnaturabkommen festgehalten, über das 196 Staaten verhandeln.
Bereits im März hatten mehr als 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davor gewarnt, den Ukrainekrieg als Argument gegen die Nachhaltigkeitsstrategien der EU einzusetzen. Sie richteten einen entsprechenden offenen Brief an Regierungen und die EU-Kommission, nachdem Unsicherheiten in der Versorgung der Welt mit Weizen aus der Ukraine die allgemeine Nervosität gesteigert hatten und Bauernverbände gefordert hatten, Naturschutzpläne im Dienst der heimischen Produktion zurückzufahren.
Umweltziele, etwa zur Minderung des Pestizideinsatzes, aufzugeben, würde „uns nicht vor der gegenwärtigen Krise schützen, sondern sie vielmehr verschlimmern und die Krise dauerhaft machen“, heißt es in dem Brief mit Bezug auf Erderwärmung und der Verarmung der Natur. Zu den Erstunterzeichnern gehören mit Josef Settele und Hans-Otto Pörtner zwei international renommierte Umweltforscher, die in den weltweit wichtigsten Wissenschaftsgremien für Klima, dem IPCC, und Biodiversität, dem IPBES, tätig sind.
Timmermans reagiert seither regelrecht allergisch auf Forderungen aus den Reihen der europäischen Bauernverbände, wegen der Unsicherheiten im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine neue Umweltregularien auszusetzen. „Den Krieg in der Ukraine zu nutzen, um Vorschläge zu verwässern und den Europäern Angst zu machen, dass Nachhaltigkeit weniger Lebensmittel bedeutet, ist, offen gesagt, ziemlich unverantwortlich“, sagt der Kommissions-Vize. Er sieht die Ernährungssicherheit nicht durch mehr Naturschutz, sondern etwa durch Bodenerosion und zunehmende Dürren infolge des Klimawandels bedroht.
Droht Bauern die „Zwangsökologisierung“?
Brüssel hat deshalb gleich mehrere Masterpläne für nicht weniger als eine grundlegende Transformation der europäischen Landwirtschaft auf den Weg gebracht: den Green Deal, die Biodiversitäts-Strategie, die „Vom Hof zu Gabel“ (Farm-to-Fork) und die Richtlinien zum nachhaltigen Gebrauch von Pestiziden. „Ohne diese Veränderungen riskieren wir den Zusammenbruch von Bestäubung und von Ökosystemen, was sich noch stärker auf die Ernährungssicherheit und die Lebensmittelpreise auswirken wird“, warnt Stella Kyriakides, die EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
Werden die Pläne konsequent umgesetzt, müssten sich Landwirte auf zahlreiche Veränderungen einstellen. Dazu zählt auch eine Halbierung des Pestizideinsatzes, was Mengen und Giftigkeit betrifft, bis 2030. Der Einsatz von Pestiziden in Schutzgebieten ist nun zu einem besonders umkämpften Politikum geworden.
Das landwirtschaftliche Fachmedium „agrarheute“ zitiert Landwirte mit Urteilen wie „Zwangsökologisierung“ oder „Schande für die europäische Demokratie“, weil sich die Bauern nicht ausreichend repräsentiert sehen. „Überflüssig und sinnlos“ seien die Pläne, von „Enteignung“ ist die Rede. Viele Landwirte beklagen auch einen massiven Vertrauensbruch, denn bei der Ausweisung von Schutzgebieten sei ihnen zugesagt worden, die landwirtschaftliche Produktion werde dadurch nicht eingeschränkt.
Auch Agrarwissenschaftler stimmen in die Kritik ein. Andreas von Tiedemann, Leiter der Abteilung für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen, sagt: „Ich kann nicht verstehen, warum wir als Gesellschaft eine solche wichtige, zivilisationstragende Technologie wie den Pflanzenschutz permanent schlecht reden und nicht einsehen wollen, wie hilfreich sie ist.“ Er warnt vor erheblichen Ernterückgängen, sollte die EU ihren Kurs durchsetzen.
Schutzgebiet ist nicht gleich Schutzgebiet
Ein besonderer Stein des Anstoßes ist die Frage, ob ausnahmslos alle Typen von Schutzgebieten von dem geplanten Verbot erfasst sein sollen. Denn Schutzgebiet ist nicht gleich Schutzgebiet.
Das Beispiel Deutschlands zeigt, dass es viele unterschiedliche Arten von Schutzgebieten gibt. In ihnen werden auch bisher Eingriffe des Menschen sehr unterschiedlich streng erlaubt oder reguliert. So gelten in Nationalparks und in Naturschutzgebieten weitreichende Veränderungs- und meist auch Nutzungsverbote. Sie nehmen nur eine begrenzte Fläche ein, im Fall der Naturschutzgebiete sind es sechs Prozent, von denen viele ohnehin kaum landwirtschaftlich nutzbar wären.
Landschaftsschutzgebieten dagegen umfassen ein gutes Viertel der gesamten Landesfläche. In ihnen ist fast jede Nutzung möglich, solange sie nicht den Charakter oder das Gesamtbild der Landschaft insgesamt beschädigen. Ganze Regionen sind als Landschaftsschutzgebiete ausgewiesen, etwa der Bayerische und der Oberpfälzer Wald und das Sauerland. 42 Prozent der Landesfläche von Nordrhein-Westfalen fallen unter die Regelungen, die für Landschaftsschutzgebiete gelten – entsprechend weitreichend wäre ein komplettes Pestizidverbot.
Nach hitzigen Debatten über den Insektenschwund und den Niedergang der Biodiversität in der Agrarlandschaft hat in Deutschland schon die frühere Bundesregierung in Verantwortung von Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) die Regeln für den Pestizideinsatz in Schutzgebieten verschärft. Allerdings fielen die Änderungen auf Druck von den Bundestagsfraktionen der Großen Koalition und aus den Bundesländern nicht so weitgehend aus wie ursprünglich geplant.
Die Regeln sind in einem Wortungetüm namens „Pflanzenschutzanwendungsverordnung“ verpackt. Demnach sind in Naturschutzgebieten, Nationalparken, Nationalen Naturmonumenten und Naturdenkmälern alle Herbizide verboten sowie Insektizide, die als „bienengefährlich“ oder „bestäubergefährlich“ eingestuft sind. In sogenannten Flora-Fauna-Habitat-Schutzgebieten gilt das Anwendungsverbot seit 2021 auch. Den Ankündigungen der Landwirte, dass die Ernten dadurch geringer werden, wurde Rechnung getragen. Sie werden mit 250 Millionen Euro jährlich entschädigt.
Umweltbundesamt für strengen Kurs
Doch das scheinbar umfassende Gesetz lässt weitreichende Ausnahmen zu. So können Bundesländer für Naturschutzgebiete eigenständig den Einsatz von Pestiziden mit Sondergenehmigungen durchwinken. Sie können sich dabei ganz legal über die Bundesregeln hinwegsetzen. In FFH-Gebieten gilt das Verbot der Herbizide und einiger Insektizide zum Beispiel nicht auf Ackerflächen und im Weinbau. Insgesamt ausgespart sind zudem Landschaftsschutzgebiete und Biosphärenreservate, obwohl in letzteren eigentlich nur nachhaltig gewirtschaftet werden soll. Zudem bleibt es bisher weitgehend undurchsichtig, wer in Deutschland welche Pestizide in welchen Mengen einsetzt. Das behindert auch ein Monitoring, das für den Naturschutz wichtig wäre.
Das Umweltbundesamt kritisiert den bisherigen Kurs in Deutschland. Die geltenden Regeln blieben „deutlich“ hinter den eigentlich ökologisch nötigen Maßnahmen für den Insektenschutz zurück. Dass auf den Flächen, für die Ausnahmen gelten, die Landwirte von einem freiwilligen Verzicht auf Pflanzenschutzmitteln überzeugt werden, sieht das UBA als zu unverbindlich an. Es bleibe „abzuwarten, ob freiwillige Maßnahmen eine deutliche Reduzierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes bewirken können.“
Der harte Pestizid-Kurs, den die EU-Kommission im Frühsommer verkündet hat, würde nun ganz im Sinn des Umweltbundesamts auch in Deutschland alle Ausnahmen beseitigen. Alle „sensiblen Gebiete“ würden dann künftig pestizidfrei bleiben.
Doch nicht nur bei den Bauernverbänden, auch bei Mitgliedstaaten formiert sich Widerstand – und zwar gegen alle Ziele für den Pestizideinsatz, also auch dessen Halbierung bis 2030. Im Lauf des Jahres drängen mehrere nationale Regierungen in Brüssel mit wachsender Vehemenz darauf, die Umweltpläne der Kommissionen nochmal grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen oder die Verhandlungen darüber sogar ganz abzubrechen. Triebkräfte sind dabei Österreich, Malta und fast alle osteuropäischen Länder.
Von Abstimmung zu Abstimmung wurden die Stimmen der Kritiker lauter. Bei einer Abstimmung im EU-Rat am 16. November stellten sich nur noch neun der 27 Mitgliedstaaten vorbehaltlos hinter die Kommissionspläne. Der Plan von EU-Kommissionsvize Timmerman, die Restriktionen für Pestizide möglichst rasch umzusetzen, hat damit einen erheblichen Dämpfer erhalten. Denn ohne Einwilligung der Mitgliedstaaten kann die Kommission nichts umsetzen. Fortschritte dürfte es nur geben, wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen nochmal untersucht werden – und das kann dauern.
2023 fallen viele wichtige Entscheidungen
Deutschland zählt sich eigentlich zu den Unterstützern der EU-Umweltstrategien. Doch im Bundeslandwirtschaftsministerium von Cem Özdemir (Grüne) werden inzwischen andere Töne angeschlagen. Staatssekretärinnen des Ressorts haben bei Auftritten vor Landwirten bereits mehrfach zum Pestizidverbot in allen Schutzgebieten gesagt, dass „die Verordnung in dieser Härte nicht kommen wird.“
Als Begründung führen die Fachleiter des Ressorts an, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern sehr viele Gebiete als sensibel eingestuft habe und „diese werden nicht eins zu eins in den europäischen Ansatz übernommen“, wird die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium, Ophelia Nick, zitiert. Agrarmedien berichten bereits, dass die EU-Kommission zurückrudert und das Pestizidverbot für Schutzgebiete massiv aufweichen wolle. Dazu könnte zählen, dass Wirkstoffe mit niedriger Giftigkeit doch erlaubt sind und zum Beispiel Landschaftsschutzgebiete nicht unter das Verbot fallen. Anfang Dezember deutete auch der Chef der Behörde, Agrarminister Özdemir, an, dass es „aus unserer Sicht noch Anpassungen“ brauche.
Glyphosat und Crispr-Cas auf der Agenda
2023 wird für den Umgang Deutschlands und Europas mit Pestiziden ein sehr wichtiges Jahr. Neben den Regeln für die Mengen, die eingesetzt werden dürfen, und die Frage der Schutzgebiete kommt noch ein weiteres heißes Eisen auf den Tisch: Im Lauf des kommenden Jahres wird entschieden, ob das umstrittene Herbizid Glyphosat erneut für fünf oder zehn Jahre zugelassen wird. Die bisherige Zulassung endet am 31.12.2023.
Die Bundesregierung hat sich für ein Verbot ausgesprochen und dieses in Deutschland schon teilweise umgesetzt. Dagegen zeigt sich der Hersteller, die Bayer AG, „zuversichtlich“, dass das Mittel weiter im Einsatz bleiben wird. Zudem wird in der EU entschieden, ob der Einsatz von neuen biotechnischen Methoden in der Pflanzenzucht wie zum Beispiel „Crispr-Cas“ weiter streng reglementiert wird, oder ob es wie in den meisten anderen Staaten der Welt einen einfacheren Umgang mit weniger Reglementierung geben wird. Wissenschaftler sehen die Chance, mit Hilfe der Technologie Kulturpflanzen genetisch präzise so zu verändern, dass sie gegen bestimmte Schadorganismen resistent wären. Das könnte den Pflanzenschutz weg von chemischen hin zu biotechnischen Verfahren bringen.
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können unsere weitere Berichterstattung über Biodiversität mit einem Riff-Abo fördern.