Kann Europa in der Landwirtschaft auf die Hälfte der Pestizide verzichten?
Die EU will die Verwendung von Pestiziden bis 2030 stark einschränken. Ein ehrgeiziges Projekt. Ökologischer Pflanzenschutz muss sich verbessern, Hightech auf dem Acker könnte dabei helfen. Trotzdem müssen die Landwirte mit geringeren Ernten rechnen. Bevor die Maßnahme zum Umweltschutz erfolgreich sein kann, ist noch viel zu tun. Eine Analyse.
Es gibt etliche Wochen im Jahr, in denen Landwirte nicht gern über den Verzicht auf Pestizide sprechen. Nämlich dann, wenn ihre Pflanzen besonders gefährdet sind. Für jede Jahreszeit gibt es hunderte Beispiele wie dieses: Im südlichen Teil Hessens traf es nach dem 21. Februar 2021 vor allem die Rapsbauern, als viele Käfer auf ihre Äcker flogen. In dieser Februarwoche fanden die Landwirte täglich bis zu 500 Große Rapsstängelrüssler und Gefleckte Kohltriebrüssler in den Kontrollfallen am Rande ihrer Felder. Beide Käferarten gehören zu den weitverbreiteten Rapsschädlingen. Die Weibchen legen ihre Eier in den Stängeln ab. Das behindert erst das Wachstum, später fressen die Larven die Pflanzen.
Im konventionellen Landbau greifen die Bauern in diesem Moment zu einem speziellen Insektizid, das mehr als 85 Prozent der Käfer tötet. Landwirte in Hessen wissen, was ohne Schädlingsbekämpfung passiert. Auf mehreren nicht behandelten Vergleichsflächen entdeckten die Experten des Pflanzenschutzdienstes Hessen zwei Monate später abhängig vom Schädlingsbefall des jeweiligen Feldes auf hundert Pflanzen gerechnet zwischen 40 und 920 Larven.
Der Schwarze Kohltriebrüssler erreichte die Rapsfelder erst im Oktober 2021. Die Käfer legen im Winter ihre Eier ab, im Januar greifen die Larven dann den Raps an. Wo nicht gespritzt wurde, waren teilweise mehr als 90 Prozent der Pflanzen befallen. Einige Bauern brachen die Flächen um – und gaben den Anbau und damit die Hoffnung auf eine Ernte auf.
Die deutsche und europäische Landwirtschaft ist schon seit langem ohne Pflanzenschutzmittel kaum zu denken. Im Jahr 2020 wurde lediglich ein Zehntel der deutschen Ackerflächen ökologisch bewirtschaftet. Nur jeder siebte Betrieb verzichtet gemäß der Vorgaben des Ökolandbaus auf chemische Mittel. Für die übrigen Landwirte, den sogenannten konventionellen Betrieben, gehören Pestizide zum Alltag. 29.000 Tonnen Wirkstoffe wurden im Jahr 2021 in Deutschland verkauft.
Flächen für Ökolandbau verdoppeln
Europa steht die Landwirtschaft vor gewaltigen Veränderungen. Die „Zukunftsstrategie ökologischer Landbau“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums sieht vor, den Flächenanteil des Ökolandbaus bis 2030 zu verdoppeln. Die Europäische Union will den ungehemmten Einsatz von Pestizide nicht länger tolerieren und ihn drastisch reduzieren. Der Einsatz von Pestiziden und das Risiko durch deren Anwendung soll bis 2030 halbiert werden, heißt es in der Verordnung zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, der sogenannrten „Sustainable use of pesticides regulation“.
„Die Zeit der chemischen Pestizide ist vorbei“, sagte EU-Kommissarin Stella Kyriakides bei der Vorstellung des Entwurfs im Juni 2022.
Die Kritik des Deutschen Bauernverbands an diesem Kurs fällt vernichtend aus: Der EU-Plan zur Pestizidhalbierung sei überambitioniert, unverantwortlich und gefährde die globale Versorgungssicherheit. Bauernpräsident Joachim Rukwied bezweifelt gar die Kompetenz der Verfasserinnen und Verfasser des Plans in Brüssel. „Die genannten Maßnahmen sind weder praxistauglich noch verhältnismäßig und im Hinblick auf die Erreichung der naturschutzfachlichen Ziele größtenteils wenig geeignet“, sagt er.
Debatte um Pestizide polarisiert stark
Diese heftige Reaktion ist typisch. Die notwendige Debatte um die Zukunft der Landwirtschaft hat radikale Lager gebildet, ein Schwarz-Weiß-Denken gezüchtet. „Was ich seit 50 Jahren beobachte, ist die Mentalität der Ausbringer und Hersteller der Pestizide, die Kritik erstens kleinreden und abwiegeln, zweitens behaupten, es gäbe keine Alternativen und drittens sagen, es gäbe Zwänge ökonomischer Art, die eine Umstellung verhindern“, sagt Robert Finger von der ETH Zürich. Der Vorsitzende des World Food System Center ist überzeugt, dass die notwendigen Veränderungen im globalen Ernährungssystem nur in der Zusammenarbeit aller Akteure entlang der Wertschöpfungskette der Lebensmittel möglich sind.
Dagegen nimmt Andreas von Tiedemann, Leiter der Abteilung für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen, eine klare Position pro Pestizide ein. Er erforscht seit 30 Jahren Wirkweise und Effizienz von Pflanzenschutzmitteln. Für ihn stehen die Vorteile klar im Vordergrund. Der Wissenschaftler findet die öffentliche Debatte um die Nachteile der Pestizide wirklichkeitsfremd. „Ich kann nicht verstehen, warum wir als Gesellschaft eine solche wichtige, zivilisationstragende Technologie wie den Pflanzenschutz permanent schlecht reden und nicht einsehen wollen, wie hilfreich sie ist“, sagt von Tiedemann.
Weniger Pflanzenschutz pro Tonne Weizen
Der Druck der Gesellschaft, den Pflanzenschutz umweltfreundlicher zu machen, habe schon Effekte gezeigt, so der Wissenschaftler. „In der Gesamtheit der eingesetzten Mittel liegen wir heute im Vergleich zu den 90er Jahren bei 60 bis 70 Prozent weniger Einflussnahme auf die Umwelt, das kann man mit verschiedenen Parametern messen“, berichtet von Tiedemann. Seit 1995 sei zum Beispiel der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln im Weizen pro Tonne Ernteprodukt um 24 Prozent gesunken. In der Vergangenheit sei eine substanzielle Verbesserung nur durch technischen Fortschritt entstanden, aber nie durch eine pauschale Begrenzung der eingesetzten Menge an Pflanzenschutzmitteln.
Deshalb fehlt von Tiedemann eine nachvollziehbare Begründung, warum die EU die Pestizide nun erneut an den Pranger stellt. Der Wissenschaftler sagt, dass bei der Bewertung der Landwirtschaft häufig Dinge vermischt würden, die nicht zusammengehörten. Der Einsatz von Pflanzenschutz sei beispielsweise nicht die Ursache für große Monokulturen.
„Was auch immer Sie am Pflanzenschutzmitteleinsatz verändern, es wird keinen Einfluss auf die Biodiversität haben“, sagt er. „Wir wissen aus 60 Jahren Pflanzenschutz: Es gibt selbst unter den Schaderregern, die wir seit vielen Jahren direkt bekämpfen müssen, keine einzige Art, weder bei Unkräutern, noch bei Schadinsekten oder Schadpilzen, die dadurch ganz verschwunden wäre“, so von Tiedemann.
Allerdings hat die Leopoldina, der Dachverband der deutschen Wissenschaftsakademien, einen Rückgang an Tier- und Pflanzenarten in Agrarlandschaften diagnostiziert. Die Ursachen seien im Wesentlichen die Intensivierung der Landnutzung und durch biologisch-technische Innovationen für die Erreichung von Produktionszielen bedingt, heißt es in einer Stellungnahme von 2020. Einer von mehreren Faktoren sei die „vorbeugende und oft flächendeckende Nutzung von Pflanzenschutzmitteln“. Deutsche Wissenschaftler haben in jüngster Zeit zudem Pestizide an Orten in der Natur gefunden, wo sie nicht sein sollten, und in Konzentrationen über den Grenzwerten. Ein Projekt des Helmholtz-Umweltforschungszentrums Leipzig im Auftrag des Umweltbundesamts hat ökologische Schäden durch Pestizide in Kleingewässern quantifiziert.
Erntemengen sinken um 20 Prozent
Solche Ergebnisse sorgen für Schlagzeilen.Doch die große Frage ist, ob die Öffentlichkeit auch bereit ist, die konkreten Auswirkungen des EU-Vorschlags auf die Ernten zu akzeptieren. Dass weniger Pestizide auch weniger Ertrag pro Hektar Ackerfläche bedeuten, darin sind sich die meisten Experten einig. „Wir werden maßgeblich an Produktivität verlieren“, sagt von Tiedemann. Eine pauschale Verringerung der Pflanzenschutzmittel um 50 Prozent bedeute einen Rückgang der Erntemengen um etwa 20 Prozent. „In manchen Kulturen wird es noch schlimmer sein“, sagt der Wissenschaftler, „in Europa werden auch Standorte betroffen sein, die sehr günstig und sehr produktiv sind und für die Welternährung gebraucht werden.“
Aktuelle Zahlen bestätigen den Trend. Die Agrarmarktinformations-Gesellschaft (AMI) schätzt den durchschnittlichen Ertrag bei Biogetreide im Jahr 2021 auf 3, 7 Tonnen pro Hektar und damit etwa so hoch wie im Jahr zuvor. Die beliebtesten Getreidesorten der alternativen Landwirte nach dem Weizen sind Dinkel und Hafer. Die konventionellen Bauern ernteten hingegen rund knapp 7 Tonnen Getreide je Hektar und damit doppelt so viel wie ihre Kollegen im Biolandbau. Beim Weizen fallen die Unterschiede besonders deutlich aus, beim Hafer geringer. Im Getreide spielt der Erfolg des herkömmlichen Anbaus für die Versorgung eine wichtige Rolle. Die Ökobauern haben nämlich 2021 nur drei Prozent der deutschen Getreideernte produziert.
Nutzpflanzen besser an die Fläche anpassen
Dass solche Unterschiede in der Erntemenge möglich sind, liegt am modernen Pflanzenschutz und Agrartechniken. „Überspitzt gesagt, konnte man in der Vergangenheit mit nahezu unbegrenzten Ressourcen wie Wasser, Düngemittel und Pflanzenschutzmitteln auf jedem Standort gute Erträge mit fast beliebigen Kulturen erzielen“, sagt Jens Karl Wegener vom Julius Kühn-Institut (JKI) für Kulturpflanzen. „Kein Winzer käme auf die Idee, seinen Weinberg an einem Nordhang anzulegen, aber im Ackerbau haben wir das in gewisser Weise getan“, so Wegener.
Der Professor gehört zu denen, die konkrete Lösungen suchen, um weniger Pestizide einzusetzen und doch gute Ernten zu bekommen. Er entwickelt das Konzept des „Spot farmings“, bei dem kleinere Flächen nach den spezifischen Anforderungen des Ackers bewirtschaftet werden und Platz für Nützlinge lassen. Wegener wählt nicht nur spezielle Sorten, sondern verändert auch Saatzeitpunkt und Abstand der einzelnen Pflanzen. Große Maschinen sind für diese Flächen dann kaum noch geeignet. Wegener will sie durch kleinere autonome Roboter ersetzen, die sich um die Pflanzen kümmern und sie über präzise Geodaten erkennen. Die Maschinen könnten beispielsweise zwischen Zuckerrüben Unkräuter hacken und damit bis zu 90 Prozent an Herbiziden sparen.
Schon die Ankündigung eines Verbots kann also die Quelle neuer Ideen sein. Der Züricher Professor Robert Finger empfiehlt für den Ausstieg aus den Pestiziden eine Kombination verschiedener Ansätze – und dazu zählen höhere Preise durch staatliche Abgaben. „Heute sind Pflanzenschutzmittel generell zu billig, potenzielle Schäden für Mensch und Umwelt nicht in Preisen integriert“, erklärt er. Lenkungsabgaben könnten den entscheidenden Anreiz geben, damit Landwirte schädliche Pflanzenschutzmittel durch weniger schädliche Mittel ersetzen oder ganz auf sie verzichten.
In Hessen bekämpfen zahlreiche Bauern den Maiszünsler mit einem natürlichen Widersacher, der Trichogramma-Schlupfwespe. Das Insekt legt seine Eier in die Gelege der Maiszünsler, die dann nicht mehr schlüpfen. Weil die Landwirte einen Zuschuss bekommen, kostet die alternative Zünslerabwehr nicht mehr als der Insektizideinsatz. Die Wespen können mit kleinen Drohnen auf den betroffenen Feldern verteilt werden. Der Wirkungsgrad der alternativen Methode lag bei den Feldversuchen in Hessen im Durchschnitt bei etwa 50 Prozent, die Wespen schnitten also schlechter ab als die Pestizide. Doch der richtige Zeitpunkt der Freisetzung der Wespen scheint den Erfolg zu beeinflussen. Werden die Landwirte richtig beraten und die Felder frühzeitig mit GMS-Daten für Drohnen codiert, erreichen die Wespen eine Erfolgsquote von 80 Prozent und mehr.
Dänemark macht gefährliche Pestizide teurer
Dänemark ist diesen Weg gegangen. Dort reguliert der Staat die Preise für Pflanzenschutzmittel nach einem komplizierten System anhand von ökologischen Kriterien und dem Vorhandensein von Alternativen. Pestizidgegner sehen darin ein Vorbild für Deutschland. Mit einer etwas veränderten Abgabe könnte Deutschland das europäische Ziel erreichen und bis 2030 die Verwendung und das Risiko chemischer Pestizide sowie den Einsatz von Pestiziden mit höherem Risiko jeweils um 50 Prozent verringern, heißt es in einer Studie des Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Die Erlöse der Lenkungsabgabe sollen in die Weiterbildung von Landwirten fließen, schlägt die UFZ vor. Über den Umweg der Pestizidpreise könnte so das Agrarsystem zu mehr Nachhaltigkeit umgebaut werden. Das Autorenteam muss allerdings eingestehen, dass die veränderte Preisstruktur nicht nur den Pestizidverbrauch verringert: Auch die Ernten werden geringer ausfallen als bisher.
Klar ist jedenfalls, dass eine generelle Reduzierung der Pestizide um 50 Prozent nach dem Rasenmäherprinzip keine gangbare Lösung ist. Die EU wird besser erklären müssen, mit welchen Maßnahmen sie das anspruchsvolle Ziel erreichen will. Zwischen den Zeilen des Redetextes der EU-Kommissarin Stella Kyriakides lässt sich lesen, dass der Umweltschutz wohl eine höhere Priorität bekommen soll als der maximale Ernteerfolg. „Wir können, müssen und werden die Bauern auf ihrem Weg zu mehr Nachhaltigkeit unterstützen“, sagte Kyriakides. Die Landwirte werden sich Unterstützung wünschen, die ähnlich konkret formuliert wird wie das Einsparvorhaben bei den Pestiziden.
Konkrete Ausgestaltung des Plans fehlt
Doch bis in Brüssel über den Antrag abgestimmt wird, vergeht noch viel Zeit. Die fehlende Definition der 50-Prozent-Vorgabe öffnet den Gegnern des Plans viele Möglichkeiten, noch Einfluss zu nehmen. Welcher Vergleichszeitraum soll gewählt werden? Einige Pflanzenschutzmittel werden von nämlich Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich eingesetzt, in trockenen Jahren werden beispielsweise weniger Mittel zur Bekämpfung von Pilzen benötigt. Ist jede einzelne Substanz gemeint oder die Summe einer Pestizidklasse, die eine bestimmte Wirkung hat? Soll die Zahl der Wirkstoffe halbiert werden, die Zahl der Anwendungen, die verkaufte Menge oder die mit Pflanzenschutzmitteln behandelte Fläche? Noch fehlen Antworten auf diese Fragen.
Lars Neumeister, einer der AutorInnen der UFZ-Studie, schlägt vor, zunächst einfache Lösungen zu suchen. „Über die Hälfte des Pestizideinsatzes findet auf Mais, Wintergerste und Weizen statt“, sagt er. Wenn man da vernünftige Maßnahmen ergreife, könne man schon viel erreichen. Generell sei der Weg, dass die Landwirte wieder mehr Fruchtarten anbauen. „Der Werkzeugkasten ist sehr voll, ein guter Landwirt kennt das alles“, so Neumeister.
Matthias Liess, der am Helmholtz-Umweltforschungszentrum in Leipzig erforscht, wie Pestizide Kleingewässer verändern, empfiehlt als wichtigsten Schritt, Gräben, Bächer, Teiche und Flüsse mit breiten, dicht bewachsenen Randstreifen vor dem chemischen Eintrag zu schützen. „Zwanzig Meter breite Randstreifen auf jeder Seite können gut verhindern, dass zu viele Pestizide ins Gewässer gelangen“, sagt er.
Weizen liefert ohne Fungizid 25 Prozent weniger
Viele Forschergruppen haben die EU-Pläne bereits vorweggenommen und erforschen den Einfluss eines geringeren Pestizideinsatzes in Feldversuchen. In Deutschland lief eine große Studie zu Winterweizen der Universitäten Gießen und Hannover. Dabei wurden 191 Weizensorten, die in den letzten 50 Jahren in Westeuropa gezüchtet und in großen Mengen angebaut wurden, über zwei Vegetationsperioden an sechs verschiedenen Standorten mit drei Anbauflächen miteinander verglichen. Die Wissenschaftler untersuchten zwei Einflussfaktoren: zum einen halbierten sie die eingesetzte Düngermenge, zum anderen verzichteten sie auf pilztötende Mittel. Der Verzicht auf Fungizide verringerte den Ernteertrag um etwa 25 Prozent. Die jüngeren Hochleistung-Weizensorten schnitten dabei besser ab als die älteren Varianten.
Es sind solche Ernteeinbußen, die den konventionellen Landwirten Sorgen bereiten, weil sie nicht wissen, ob sie die Verluste durch höhere Weizenpreise ersetzt bekommen. Andere Bauern fürchten um die komplette Existenz.
In Hessen, wo sich im Jahr 2021 die Kirschfruchtfliege als dominierender Schädling im Obstanbau ausbreitete, gibt es nur ein einziges zugelassenes Insektizid gegen diesen Schädling. „Die Unsicherheit, ob eine ausreichende Anzahl wirksamer Mittel mit unterschiedlichen Wirkstoffen für alle gefährdeten Kulturen zu Verfügung steht, ist für die Gesamtsituation nicht förderlich“, heißt es im Bericht des Pflanzenschutzdienstes Hessen.
Obstbauern verunsichert
Viele Obstbauern erwarten weitere Einschränkungen bei der Auswahl geeigneter Insektizide. Damit sei die zukünftige Entwicklung für Betriebsinhaber weiterhin nicht planbar, urteilen die Experten. Erste Obstbauern hätten geplante Neupflanzungen bereits verschoben.
Andreas von Tiedemann hofft, dass das, was er als Fehler der Vergangenheit bewertet, nicht wiederholt wird. „Ab 2014 ist die Beizung von Saatgut schrittweise verboten worden, das betraf erst den Mais, dann den Raps und jetzt die Zuckerrübe, drei große Kulturen, die für uns wichtig sind“, sagt er. Dabei wird das Saatgut vor dem Ausbringen auf dem Acker mit Insektiziden behandelt, um die jungen Pflanzen vor Insektenbefall zu schützen. Dass Beizmittel einen negativen Effekt auf Insekten haben, ist nach von Tiedemanns Meinung wissenschaftlich nicht belegt. Dagegen führe ein Verzicht auf das Beizen zu intensiverem Spritzen später im Jahr. Landwirt setzten durch das Verbot nun drei- bis fünfmal im Herbst flächenmäßig ein Insektizid ein, was ein deutlich stärkerer Eingriff sei. „Der Insektizideinsatz hat sich durch das Verbot der Saatgutbeizung vervielfacht“, sagt der Göttinger Forscher.
Besonders betroffen von den EU-Plänen sei der Raps. „Sie können keinen Raps anbauen ohne Insektizide, es gibt weltweit 31 Schadinsekten an Raps, die man kontrollieren muss, und das geht leider nur chemisch, weil es keine resistenten Sorten gibt“, sagt von Tiedemann.
Milde Winter helfen den Schädlingen beim Raps
Auch Katrin Carrel, Agraronomin am Landwirtschaftlichen Kompetenzzentrum Strickhof in der Schweiz, kennt das Problem. Raps, insbesondere der Bio-Raps, sei eine Risiko-Kultur. „Die Klimaerwärmung bringt warme Temperaturen im Herbst und milde Winter, alles was die Entwicklung von Schädlingen fördert und beschleunigt“, sagt sie. Von der Saat bis zur Ernte stehe Raps rund elf Monate auf dem Feld – in dieser Zeit könne viel passieren. Carrel kennt viele Landwirte, deren Versuch, Bio-Raps anzubauen, am Schädlingsbefall scheiterte und deshalb lieber andere Ackerkulturen anbauen. „Aktuell sind wir immer noch in einer Situation, in der Landwirtschaftsbetriebe vorwiegend marktwirtschaftlich geprägte Entscheidungen treffen“, sagt sie.
In der Schweiz fördert der Staat deshalb den Rapsanbau durch sogenannte Einzelkulturbeiträge für Ölsaaten: 700 Franken pro Hektar sollen Landwirte ermutigen, das Risiko einzugehen.Nachhaltige Landwirte können eine zusätzliche Förderung erhalten. „Die Idee dabei ist, dass der Anbau von Ölsaaten wie Raps im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt, weil die Schweiz so weniger abhängig von Importen wird“, sagt sie.
Wer die Fördersumme erhalten möchte, muss allerdings mehr tun, als nur den Pestizideinsatz zu verringern. Die Behörden verlangen Abwechslung in der Fruchtfolge, es ist nicht erlaubt Raps nach Raps oder Weizen nach Weizen anzubauen. „Dies ergibt langfristig Sinn, damit sich keine Schädlinge wie Nematoden oder Krankheiten wie Rapskrebs oder Halmbruch beim Weizen im Boden anreichern und so mittelfristig zu abnehmenden Erträgen führen“, sagt Katrin Carrel.
Sortenwahl kann Pflanzen schützen
Sie empfiehlt den Bauern, weniger anfällige Sorten anzubauen. Frühblühender Raps sei beispielsweise besser vor dem Rapsglanzkäfer geschützt, weil dieser die noch geschlossenen Blütenknospen durch Fraß schädige, aber nicht bereits geöffnete Blüten. Auch der Standort des Rapsfeldes könne Vorteile bringen. „Rapsschädlinge mögen keinen Wind, insbesondere der Rapsglanzkäfer nicht“, sagt Katrin Carrel.
Die Beispiele zeigen: Bei der Begrenzung von Pestiziden geht es um viel mehr, als nur um eine Prozentzahl, wie stark der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert werden soll. Die EU greift mit ihrem Plan tief in die landwirtschaftliche Praxis ein. Sie muss deshalb auch Antworten geben, wie sich ein solcher Schritt auf Ernten und Einkommen der Landwirte auswirken wird. Derzeit liegt diese Ergänzung des Pestizidplans nicht vor. Das versperrt den Weg zu einem sinnvollen Kompromiss.
Mehr als die Hälfte des Getreides wird verfüttert
Die Alternativen für die Landwirtschaft sind nämlich größer als nur die Umstellung von chemischen Mitteln auf eher biologischen ausgerichteten Ackerbau. Das Beispiel Getreide zeigt nämlich, dass eine Verringerung der Erträge nicht automatisch zu einem Versorgungsproblem der Bevölkerung führt. In Deutschland wurden 2020 etwa 42 Millionen Tonnen Getreide geerntet, aber nur 8, 6 Millionen Tonnen wurden als Nahrungsgetreide in Deutschland benötigt. 25 Millionen Tonnen landeten im Futtertrog für Tiere, der Rest wurde entweder exportiert, an die Industrie geliefert oder energetisch verwertet.
Wer Ernteeinbußen in Kauf nehmen möchte, sollte also gleichzeitig überlegen, ob sich der Bedarf an Getreide nicht ebenfalls verändern kann. Landwirtschaft ist kompliziert, eine einfache Lösung nicht in Sicht. Symbolische Maßnahmen wie eine pauschale Reduzierung der Pestizide helfen da nicht weiter.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.