Zwei Jahre nach „Montreal“: Wo steht die Welt beim wichtigsten Ziel für den Naturschutz?
Es ist das größte Naturschutz-Versprechen der Menschheitsgeschichte: 30 Prozent der Erde sollen bis 2030 unter einen wirksamen Schutz gestellt werden. Dieses Ziel beschlossen die Staaten der Erde einstimmig, als sie in Montreal das Weltnaturabkommen auf den Weg brachten. Wie sieht es zwei Jahren nach Montreal und fünf Jahre vor dem Zieldatum mit der Umsetzung aus?
Ein Hammerschlag, eine Sekunde der Stille, dann bricht tosender Applaus aus.
Als in der Nacht des 19. Dezember 2022 im verschneiten Montreal das Weltnaturabkommen nach wochenlangen Verhandlungen unter Dach und Fach ist, erheben sich Hunderte Menschen von ihren Stühlen und spenden minutenlang stehend Beifall. Ein einzelner Sektkorken knallt.
Während die Delegationen aus Europa beginnen, sich die Hände zu schütteln oder sich gegenseitig zaghaft auf die Schultern zu klopfen, umarmen, herzen und küssen sich die Abordnungen aus den Ländern des globalen Südens im schmucklosen Konferenzsaal der kanadischen Metropole Montreal. Sie feiern das Zustandekommen des wichtigsten Abkommens zum Schutz der Natur, das jemals beschlossen wurde. Selten lag so viel Hoffnung in der Luft.
30×30 – so wichtig für das Überleben wie 1,5 Grad
Es ist das größte Naturschutz-Versprechen der Menschheitsgeschichte: 30 Prozent der Landfläche der Erde und ein ebenso großer Anteil der Ozeane sollen bis 2030 unter einen wirksamen Schutz gestellt werden. Dieses sogenannte 30×30-Ziel beschlossen die Staaten der Erde vor zwei Jahren einstimmig, als sie am 19. Dezember 2022 im kanadischen Montreal das Weltnaturabkommen auf den Weg brachten. Das Vorhaben ist für das Überleben der Menschheit so zentral, dass es auf Augenhöhe mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens steht.
Doch wie sieht es zwei Jahren nach Montreal und fünf Jahre vor dem Zieldatum mit der Umsetzung aus?
Ernüchternde Zahlen der Vereinten Nationen
Die Euphorie ist verflogen – spätestens seit das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) vor Kurzem ernüchternde Zahlen vorgelegt hat. Nach Analyse der Expertinnen und Experten sind die Staaten beim 30×30-Ziel in den ersten beiden Jahren nur im Schneckentempo vorangekommen. Seit Abschluss des Montreal-Abkommens wuchs die Fläche der neu ausgewiesenen Schutzgebiete an Land nur um 0,5 Prozent und auf See sogar lediglich um 0,2 Prozent. Weltweit sind damit fünf Jahre vor dem Zieldatum bisher nur knapp 18 statt der anvisierten 30 Prozent der Landflächen in irgendeiner Form geschützt.
Dutzende neue Schutzgebiete sind nötig - jeden Tag
Auf den Meeren sieht die Quote mit 8,4 Prozent noch schlechter aus. Um das Ziel in den verbleibenden fünf Jahren noch zu erreichen, fehlen allein an Land Naturschutzgebiete auf einer Fläche etwa des Doppelten der USA.
Täglich müssten mehr als 10.000 Quadratkilometer neuer Schutzgebiete hinzukommen. Auf den Weltmeeren müssten in den kommenden Jahren bis 2030 an jedem Tag Dutzende neue Meeresschutzgebiete ausgewiesen werden, rechnet ein renommiertes Forscherteam vor.
Staaten machen Hausaufgaben nicht
Es war klar, dass ein so weit reichendes Ziel nicht über Nacht umgesetzt werden kann und dass komplexe und langwierige Planungs- und Abstimmungsprozesse nötig sind, wenn es darum geht, Flächen im großen Maßstab weniger oder gar nicht mehr zu nutzen.
Deshalb muss die in den ersten Jahren nur schleppend vorangegangene Ausweisung neuer Schutzgebiete noch kein Vorbote für ein Scheitern sein.
Allerdings sind die mageren Zahlen nicht das einzige Alarmzeichen: Um angesichts der kurzen Zeit bis 2030 nicht noch mehr Zeit zu verlieren, hatten sich die Staaten in Montreal selbst Hausaufgaben mit auf den Weg gegeben, die es bis zu diesem Herbst abzuliefern galt, als in Cali die erste sogenannte Überprüfungskonferenz stattfand.
Nur 44 von 200 Staaten lieferten Fahrpläne aus der Naturkrise
Alle Länder sollten die Zeit bis November 2024 genutzt haben, um eigene Pläne – sogenannte Biodiversitätsstrategien – auszuarbeiten. Das sind konkrete Fahrpläne, wie sie die Ziele des Weltnaturabkommens bis 2030 bei sich umsetzen wollen.
Abgeliefert haben diese Pläne bis Ende Dezember aber nur 44 der 196 Mitgliedstaaten. Ein genauerer Blick in diese Pläne zeigt, dass es viele Länder nicht mehr so ernst mit ihrer Selbstverpflichtung zum 30-Prozent-Naturschutzziel meinen. Besonders besorgniserregend ist, dass mit China, Kanada und Australien nur drei der zehn flächengrößten Länder der Erde überhaupt Pläne vorgelegt haben. Angesichts der riesigen Fläche, die noch für den Naturschutz fehlt, geht es aber nicht ohne Beiträge der Top-15-Staaten.
Brasilien und Kolumbien bringen Hoffnung
Immerhin kommen auch von einigen Ländern positive Zeichen, die noch keine fertigen Pläne vorgelegt haben – beispielsweise aus Brasilien. So bekannte sich der Präsident des fünftgrößten Landes der Erde, Luiz Inacio Lula da Silva, klar zum 30-Prozent-Ziel – ein angesichts der enormen Artenvielfalt und der Größe des Landes kaum zu überschätzendes Signal. Wie beim Klimaschutz kann auch die biologische Vielfalt der Erde nicht ohne einen großen Beitrag Brasiliens gelingen.
Auch Kolumbien – ebenfalls ein Biodiversitäts-Champion im globalen Maßstab – geht als Gastgeber voran und verkündete in Cali vor einigen Wochen selbstbewusst, bis 2030 sogar 34 Prozent seiner Fläche unter wirksamen Schutz gestellt zu haben und dabei die Rechte der indigenen Bevölkerung zu stärken.
Diese Länder bleiben aber Ausnahmen. Andere große und wegen ihres Artenreichtums besonders wichtige Staaten sind viel weniger aktiv. Russland als flächengrößter Staat zählt dazu, ebenso wie Indien. Die USA sind kein Mitglied der UN-Konvention über biologische Vielfalt und deshalb ohnehin nur Zaungast. Indonesien als ein weiteres wegen seiner Größe und Artenreichtums unverzichtbares Land erwähnt in seiner Strategie das 30-Prozent-Ziel nicht einmal direkt, sondern kündigt eher unverbindlich einen „effektiven Schutz und Management“ von Gebieten mit großem Wert für die Biodiversität an.
Nach zwei Jahren werden die Ziele bereits aufgeweicht
Viele andere Länder verzichten selbst auf solche indirekten Bezüge auf das 30-Prozent-Ziel. Andere Staaten wiederum schrauben ihre vor zwei Jahren eingegangene Verpflichtung drastisch auf 20, zehn oder noch weniger Prozent herab. Auch das EU-Land Ungarn will von der Verpflichtung offenbar nichts mehr wissen.
UN-Politiker zeigen sich gelassen, Naturschützer sind alarmiert
Naturschutzexperten zeigen sich alarmiert: „Das Ambitionsniveau liegt deutlich unter dem, was in Montreal vereinbart wurde“, sagt Georg Schwede, Europachef der Natur-Lobbyorganisation Campaign for Nature. Er sieht die Verwirklichung der Montreal-Ziele akut gefährdet. „Mit den vorliegenden Plänen kann die Trendwende in der ökologischen Krise des Planeten nicht gelingen“, sagt der Naturschützer. „Wenn jetzt in der Staatengemeinschaft nicht alle Alarmglocken schrillen, können wir das 30-Prozent-Ziel schon heute vergessen“, warnt Schwede. „Wir brauchen mehr Tempo, und ein viel stärkeres Bewusstsein für die Dringlichkeit.“
Es fehlt an Geld
Dass die Umsetzung des wichtigsten Naturschutzziels so langsam vorankommt, liegt auch am Geld. Denn gerade in den artenreichen, aber armen Ländern der Erde kann Naturschutz nur gelingen, wenn es dafür eine Kompensation gibt. Die Industriestaaten hatten sich deshalb dazu verpflichtet, die armen Länder ab 2025 mit jährlich mindestens 20 Milliarden Dollar zu unterstützen und den Betrag bis 2030 auf mindestens 30 Milliarden anzuheben.
Das Geld soll helfen, Schutzgebiete einzurichten und ein Ausgleich dafür sein, dass die artenreichen Länder des globalen Südens auf eine nicht nachhaltige Wertschöpfung durch die Zerstörung ihrer Naturschätze verzichten.
„Wir brauchen saubere Luft – aber auch Brot“
Doch dieses Ziel wird verfehlt. Nur Tage vor Beginn des Zieljahres klafft immer noch eine Lücke von über vier Milliarden Dollar. Auf die Folgen für die Umsetzung auch des 30-Prozent-Ziels in den Ländern des Globalen Südens wies in Cali auch die kongolesische Umweltministerin Ève Bazaiba hin. Überall gelte das Verursacherprinzip – nur die westlichen Staaten glaubten, dass sie gleichzeitig immer mehr Treibhausgase in die Luft blasen und von den armen Ländern verlangen könnten, bei sich die Umwelt nicht anzurühren, sagte sie bei der UN-Naturkonferenz in Cali. „Es stimmt, auch wir brauchen saubere Luft“, betonte die Ministerin und Menschenrechtsaktivistin. „Aber wir brauchen auch Brot.“
Auch Sandra Diaz zieht ein ernüchtertes Zwischenfazit. Die argentinische Biologin hat als Ko-Vorsitzende die Arbeiten am „Global Assessment“ des Weltbiodiversitätsrates mitgearbeitet – jenes Reports, der der Welt 2019 vor Augen geführt hat, dass eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind, wenn nicht rasch die Wende im Umgang mit dem Planeten kommt.
Ein Abkommen zu schließen, ersetzt die Mühen seiner Umsetzung nicht
Das Weltnaturabkommen sei ein hervorragender Fahrplan aus der Krise, sagt Diaz im Gespräch. Es sei wie eine Karte, die den Aufstieg zum Mount Everest genau beschreibe. „Unersetzlich für den Erfolg – aber sie ersetzt nicht die eigentliche Arbeit, den Aufstieg.“ Diese Anstrengung müssten die Staaten schon selbst unternehmen.
„Der Fortschritt auf dem Weg zum Gipfel ist beunruhigend langsam“, sagt Diaz. Ohne Hoffnung ist Diaz nicht. Das Bewusstsein darüber, wie wichtig der Schutz der Natur für die Menschheit sei, habe spürbar zugenommen, sagt sie. Auch kämpften weltweit jeden Tag viele tausend Menschen für die Natur und erreichten dabei auch etwas. „Naturschutzbemühungen finden jeden Tag statt und retten kleine, aber wichtige Teile des Lebens auf der Erde“, sagt die Wissenschaftlerin. „Aber sie spiegeln noch nicht das Ausmaß der Krise wider.“
Deutschland - allenfalls Durchschnitt
Deutschland schaffte es erst in letzter Minute, eine Biodiversitätsstrategie vorzulegen. Am Mittwoch verabschiedete das Bundeskabinett nach langer Blockade durch die FDP den Fahrplan zur Umsetzung der internationalen und der europäischen Naturschutzziele. In dem unter Federführung von Bundesumweltministerin Steffi Lemke entstandenen Dokument bekennt sich die gesamte Bundesregierung zum 30-Prozent-Ziel. Diese Zusagen einzuhalten, wird aber auch hierzulande noch riesiger Anstrengungen bedürfen.
Denn bisher hat Deutschland rund 18 Prozent seiner Landfläche als Teil der 30-Prozent-Ziels – das auch in der europäischen Biodiversitätsstrategie verankert ist – an die EU-Kommission gemeldet.
Deutschland sieht pauschal Gebiete als geeignet an
In der Liste enthalten sind pauschal alle Naturschutzgebiete, Nationalparke, Biosphärenreservate, Vogelschutz- und FFH-Gebiete. Doch daran, dass alle diese Gebiete wirklich dem Kriterium eines „wirksamen Schutzes“ der Biodiversität in ihnen entsprechen, gibt es erhebliche Zweifel. Einer neuen Analyse des Naturschutzbundes Nabu zufolge erfüllen maximal sechs Prozent der von Deutschland nach Brüssel als Schutzgebiete für das 30-Prozent-Ziel gemeldeten Gebiete die erforderlichen Kriterien der EU-Kommission. „Vielen fehlt es an den Grundlagen für wirksamen Schutz: Es gibt häufig keine klare Zielsetzung, keine ausreichende rechtliche Sicherung, keine Maßnahmenpläne und kein Monitoring“, kritisiert Nabu-Schutzgebietsexpertin Jennifer Krämer.
Nabu sieht nur sechs Prozent der deutschen Schutzgebiete als geeignet für 30×30
Selbst die Nationalparks fallen jenseits ihrer Kernzonen beim an formellen Kriterien orientierten Nabu-Check durch: Viele sind zu klein oder es gibt keine ausreichend großen nutzungsfreien Gebiete darin.
„Deutschland ist damit auf keinem guten Weg, seine Verpflichtung aus dem Biodiversitätsabkommen von Montreal bis 2030 zu erfüllen“, sagt Krämer. Krämer will sieht aber noch Hoffnung. So sind die vom Umweltministerium als geeignet nach Brüssel gemeldeten Vogelschutzgebiete zwar in der Nabu-Prüfung durchgefallen. „Damit ist aber nicht das Konzept der Vogelschutzgebiete schlecht, sondern nur seine Umsetzung“.
Wie viele andere Expertinnen und Experten kritisiert Krämer das Fehlen klarer Vorgaben dafür, was in einem Schutzgebiet erlaubt ist und was nicht. „Es braucht gute Pläne, die für alle einsehbar sind, die nachvollziehbar sind, in denen klar steht, was man in dem Gebiet darf und was man in dem Gebiet nicht darf.“ Pauschale Bestimmungen, dass auch in Schutzgebieten eine „ordnungsgemäße Landwirtschaft“ inklusive Dünger und Pestiziden erlaubt ist, erfüllen diese Kriterien nicht.
Vielen Vögeln geht es in deutschen Schutzgebieten besonders schlecht
Auch inhaltlich ausgerichtete Analysen zeigen, dass es nicht ausreicht, die einzelnen Schutzgebiete zusammenzurechnen, um das 30-Prozent-Ziel zu erreichen – das neben der Flächenzahl ausdrücklich einen wirksamen Schutz fordert. Ökologen der Uni Göttingen und des ornithologischen Fachverbandes DDA kommen in einer Studie zu dem Ergebnis, dass viele Vogelarten, wegen derer eigens Schutzgebiete ausgewiesen wurden, innerhalb dieser Gebiete noch größere Rückgänge verbuchen als in der nicht geschützten „Normallandschaft“.
Für viele weitere machte es keinen Unterschied, ob sie Schutzgebieten oder in der intensiv genutzten Landschaft lebten. Nur für 17 Prozent der Arten wurden positive Auswirkungen in Schutzgebieten gefunden. Dies deute darauf hin, „dass die Schutzgebiete keinen signifikanten Beitrag zu einer positiveren Entwicklung leisten“ und „derzeit nur für eine Minderheit der Zielarten effektiv ist“, folgern die Autoren in ihrer im Fachjournal Biological Conservation erschienenen Arbeit.
EU-Gerichtshof verurteilt Deutschland wegen mangelndem Naturschutz
Vor wenigen Wochen hatte der Europäische Gerichtshof Deutschland deshalb sogar verurteilt, weil sich der Zustand der Natur in den ökologisch besonders wichtigen Grünland-Schutzgebieten immer weiter verschlechtert und dagegen keine effektiven Maßnahmen ergriffen würden. Es ist bereits das zweite EUGH-Urteil gegen Deutschland wegen mangelhaften Naturschutzes in Schutzgebieten. Deutschland sehe tatenlos zu, wie immer mehr Wiesen entweder zu Acker umgebrochen oder durch viel zu häufige Mahd und Düngung zu ökologischen Wüsten werden – so lässt sich das Urteil zusammenfassen.
Europaweit wenig Lichtblicke
Doch wird das 30-Prozent-Ziel in anderen EU-Ländern wesentlich besser umgesetzt?
Nein, lautet das Ergebnis einer europaweiten Analyse des Naturschutz-Dachverbandes BirdLife International. „Der Stand der Umsetzung der Schutzgebietsziele ist nicht zufriedenstellend“, bilanziert die Organisation. Formell liege die Abdeckung mit Schutzgebieten an Land in der EU mit 26 Prozent zwar recht gut im Plan. Aber auch Birdlife moniert eine zu geringe Wirksamkeit der Schutzgebiete. Nur noch weniger als jede dritte Vogelart (27 Prozent) weise eine stabile Population auf, kritisiert der Verband und der Trend gehe weiter in die falsche Richtung.
Tatsächlich zeigt beispielsweise der von der EU oft als Indikator herangezogene Index der häufigen Vögel drastische Einbrüche in den vergangenen Jahren auf, die sich ungebremst fortsetzen. Der Rückgang ist hauptsächlich auf die intensive landwirtschaftliche Bewirtschaftung und die veränderte Flächennutzung zurückzuführen. Im Meeresschutz ist die Lücke deutlich größer. Hier sind EU-weit erst 12 Prozent erreicht.
„Der Verlust der biologischen Vielfalt nimmt weiter zu, und die wichtigsten Ziele für den Schutz von Lebensräumen und Arten werden verfehlt“, lautet das Fazit von BirdLife. „Ohne stärkere Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, mehr Geld für den Naturschutz und strengere Vorgaben wird die EU ihre Biodiversitätsziele für 2030 verfehlen und die Klimakrise weiter anheizen.“