Fünf Jahre nach der „Krefelder Studie“: Wie steht es um das Insektensterben?
Antworten auf die wichtigsten Fragen
Das Besondere war das Echo. Als vor fünf Jahren, am 18. Oktober 2017, im FachmagazinPLOS one die Studie erschien, die seitdem nur noch die „Krefelder Studie“ heißt, berichteten Zeitungen, Sender und Onlineportale rund um den Globus über die Forscher des Entomologischen Vereins Krefeld und die zeltartigen Insektenfallen, die sie in Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland Pfalz und Brandenburg aufgestellt hatten. Denn das Ergebnis ihrer Untersuchung war erschreckend: Sie hatten die Biomasse der Insekten in ihren Fallen von 1990 an gewogen und festgestellt, dass sie im Laufe der Jahre um mehr als 75 Prozent geschrumpft war. Die Nachricht vom „Insektensterben“ ging um die Welt.
Nach fünf Jahren ist Zeit, zurückzublicken. Das macht Countdown Naturin einem langen Artikel, in dem es um die politischen und wissenschaftlichen Folgen von „Krefeld“ geht. An dieser Stelle erhalten Sie Antworten auf die wichtigsten Fragen rund um die Studie.
Wie überraschend kam die Nachricht vom Insektensterben?
„Das wissen wir doch alles längst.“ Das war Norbert Schäffers erster Gedanke, als er von den Ergebnissen der Krefelder Studie las. Denn wer sich so gut mit Insekten auskennt wie der Vorsitzende des bayerischen Landesbunds für Vogelkunde (LBV), wusste schon länger, wie schlecht es um die bei weitem größte Artengruppe der Tierwelt steht. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beklagten Regensburger Entomologen in einem Fachaufsatz, dass Zahl und Artenvielfalt der Tagfalter in der Umgebung geschrumpft seien. Und benannten auch schon die naheliegende Ursache: Weil der Mensch die Lebensräume der Tiere zerstöre.
Wer sind die Krefelder Entomologen?
Im Entomologischen Verein Krefeld haben sich ehrenamtliche Insektenkundler zusammengetan, um die Kerbtierfauna der Region zu erkunden, aber auch systematische Studien zu Vorkommen und Bestandsentwicklung verschiedener Insektengruppen zu unternehmen. Viele von ihnen arbeiten hauptberuflich als Lehrer oder Fernmeldetechniker und erforschen die Insekten lediglich in ihrer Freizeit. Doch das tun sie mit großem Einsatz und schon seit Jahrzehnten. Viele sind in dieser Zeit zu „Weltexperten für ihre Lieblingsinsekten“ geworden, wie das renommierte MagazinScience schrieb. Und sie können auf eine große Tradition zurückblicken: Der Verein besteht seit 1905. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Mitglieder eine riesige wissenschaftliche Insektensammlung mit mehr als einer Million Präparaten zusammengetragen. Die Stadt Krefeld hat die Sammlung als „bewegliches Denkmal“ eingestuft.
Welche Artengruppen hat die Studie untersucht?
In erster Linie Fluginsekten, die in sogenannten Malaisefallen gefangen wurden. In diese krabbeln zwar ab und zu auch Insekten ohne Flügel hinein, doch ist das eher die Ausnahme – gefangen und bestimmt wird vor allem, was Flügel hat; Falter und Bienen ebenso wie Fliegen und Käfer. Insekten, die im Boden oder ausschließlich im Wasser leben, bleiben komplett außen vor. Und auch bei den Fluginsekten decken die Fänge nicht alle Gruppen gleichmäßig ab. Libellen zum Beispiel haben so gute Augen, dass sie die Fallen sehen und ihnen ausweichen können.
Welche Hauptursachen des Insektensterbens wurden identifiziert?
Auf diese Frage konnte die Krefelder Studie keine eindeutige Antwort finden. Andere Studien zeigen jedoch, dass die intensive Landwirtschaft das größte Gewicht hat. Was nahe liegt, denn die etwa die Hälfte der Landesfläche Deutschlands wird landwirtschaftlich genutzt, als Acker- oder Grünland. Verbesserungen in diesem Bereich haben also weitreichende Auswirkungen. Was auf den übrigen 50 Prozent Fläche passiert, hat natürlich ebenfalls Einfluss auf die Insektenwelt: Nächtliche Lichtverschmutzung vor allem in den Städten stört die Orientierung nachtaktiver Insekten. Auch Versiegelung, Steingärten oder Flächenfraß machen den Insekten das Leben schwer.
Was kann der Einzelne gegen das Insektensterben tun?
„Jeder kann den Insekten und der Artenvielfalt helfen“, sagt Florian Schöne, der Geschäftsführer des Deutschen Naturschutzrings. Weniger fliegen und Auto fahren sowie ein sparsamer Stromverbrauch senken nicht nur den persönlichen CO2-Ausstoß, sondern auch die Emissionen von Stickstoff und damit die Überdüngung der Landschaft. Wer einen Garten oder auch nur einen Balkon besitzt, kann Insekten kleine Oasen oder sogar Rückzugsorte anlegen. Hilfreich ist es, Rasen selten zu mähen, kahle Flächen und ein bisschen Wildwuchs zu erlauben. Stein- und Schottergärten sind Todeszonen für alles, was lebt; Pestizide haben in Privatgärten schon gar nichts verloren. Auch das Konsumverhalten hat Einfluss: Wer regionale und Bioprodukte kauft, unterstützt Landwirte, die ihre Erzeugnisse weniger weit durch die Republik karren und ihre Flächen weniger intensiv bewirtschaften. Beides Maßnahmen, die sowohl das Klima als auch bedrohte Arten schonen.
Welche Folgen hat das Insektensterben?
„Insekten sind die Treiber unserer terrestrischen Ökosysteme“, sagt Bernhard Misof, Direktor des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Wenn sie verschwänden, wäre das eine Katastrophe. Denn sie erledigen viele sogenannte Ökosystemdienstleistungen, die auch für uns lebenswichtig sind. Das Bestäuben von Blütenpflanzen, zu der sowohl Bienen wie Fliegen beitragen, ist nur eine von vielen; weniger bekannt ist, dass Insekten auch viele unangenehme Aufgaben übernehmen. Fliegen, Wespen und Käfer räumen Kadaver weg, fressen Exkremente, reinigen Gewässer, belüften und bereiten den Boden auf. Und in artenreichen Lebensräumen halten sie sich gegenseitig im Zaum, sodass kein Quälgeist sich im Übermaß vermehren kann. Ohne Insekten sähen wir Menschen wirklich alt aus!
Insekten und ihre Larven sind zudem Grundnahrungsmittel für alle höheren Tierarten. Darum ist letztlich auch der millionenfache Vogelschwund Beleg dafür, dass es den Insekten schlecht geht.
Welche anderen Studien gibt es zum Insektensterben?
Allein die Roten Listen, die das Bundesamt für Naturschutz (BfN) koordiniert und herausgibt, sprechen eine deutliche Sprache: Von den etwa 7800 Arten, zu denen die Listen Daten enthalten, gelten 358 als ausgestorben oder verschollen. Fast 3700 haben den Status „selten“ oder „extrem selten“. Erst im März hat das Bundesamt für Naturschutz wieder einen Band der Roten Listen aktualisiert. Ergebnis: 40 Prozent der darin betrachteten Arten gelten als bedroht.
Der Nabu Baden-Württemberg hat in einer Präsentation mehr als zwei Dutzend Untersuchungen aus Deutschland und Europa zusammengetragen, die zu ähnlichen Befunden kommen wie die Krefelder Studie. Ihr übergreifendes Fazit: Für viele Insektenarten – Tagfalter, Nachtfalter, Schwebfliegen, Wildbienen, Wespen, Heuschrecken, Zikaden und Wanzen – geht es bergab. Gerade erst hat der Weltbiodiversitätsrat IUCN gemeldet, dass ein Drittel der europäischen Schwebfliegenarten auf der Roten Liste als bedroht einzustufen ist.
Thomas Schmitt, der Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts, hat die Entwicklung der Tagfalter im Raum Salzburg untersucht und gezeigt: Als der Mensch Ende des 19. Jahrhunderts begann, Moore im großen Stil trockenzulegen, brachen die Zahlen der Moorfalter ein. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Industrialisierung der Landwirtschaft Fahrt aufnahm, mit massivem Einsatz von Dünger und Pestiziden, schwanden die Arten der offenen Landschaft – vor allem der Brachflächen und Magerrasen.
Was hat die große Aufmerksamkeit für die Krefelder Studie ihren Initiatoren gebracht?
Die Krefelder Entomologen haben für ihre jahrzehntelange Forschung zahlreiche Auszeichnungen erhalten, etwa den Deutschen Biodiversitätspreis der Heinz-Sielmann-Stiftung. Martin Sorg, der damalige Vorsitzende, Leitende Wissenschaftler und Sammlungskurator des Entomologischen Vereins Krefeld, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet sowie dem Ehrenpreis der Bundesstiftung Umwelt. Die Stadt Krefeld hat ihren Entomologen die Stadtehrenplakette verliehen. Oberbürgermeister Frank Meyer sagte bei der Verleihung: „Wer immer noch gönnerhaft von ‚Hobby-Forschern‘ spricht, der hat nichts, aber auch gar nichts verstanden.“ Gerade ist der Verein aus dem alten Schulgebäude, das aus allen Nähten platzte, in einen Gewerbekomplex umgezogen. Dort ist Platz für die Sammlung, für die Forschung und für ihre Vermittlung. Denn auch Vorträge und Workshops gehören zur Arbeit des Vereins.
Geht es den Insekten heute besser als vor fünf Jahren?
Es gibt Insektengruppen, die sich in Deutschland ausbreiten. Das sind vor allem Arten, die Wärme lieben und durch den Klimawandel in neue Lebensräume vorstoßen können – die Blauschwarze Holzbiene Xylocopa violacea zum Beispiel oder Gottesanbeterinnen, die früher nur in Regionen mit besonders mildem Klima vorkamen. Gleichzeitig verlieren die Arten, die kühlere Bedingungen benötigen, ihre angestammten Lebensräume und wandern in nördlichere Regionen ab oder die Berge hinauf – wenn sie es denn können und dort bessere Bedingungen vorfinden. Sonst sind sie dem Untergang geweiht. Auch den Süßwasserinsekten geht es besser, weil sich die Wasserqualität in vielen Flüssen und Seen in den letzten Jahrzehnten stark gebessert hat. Die Dürren der letzten Jahre machen aber auch ihnen zu schaffen, ebenso Insekten wie Libellen, die auf Feuchtgebiete angewiesen sind. Viele Arten benötigen wenigstens ein bisschen Wasser für ihren Nachwuchs. Insgesamt sieht es also eher schlechter aus für die Insekten. Bernhard Misof, der Direktor des LIB, fasst es so zusammen: „Ich kenne keine neuere Studie, die zeigt, dass die Artenzahl von Insekten zugenommen hat.“ Der Entomologische Verein Krefeld hat seine Messungen auch nach der 2017 erschienenen Studie fortgeführt und ausgeweitet. Der Vorsitzende des Vereins Thomas Hörren sagt: „Auch an den neuen Standorten ist die Biomasse der Insekten auf dem niedrigen Niveau geblieben, das wir vor fünf Jahren festgestellt haben.“
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.