Insektensterben: Wir wissen, was zu tun ist, aber wir unternehmen nichts
Fünf Jahre nach Erscheinen der Krefelder Studie sehen Experten etwas Licht, aber viel Schatten
Aus der Ferne sieht die Malaise-Falle inmitten hoher vertrockneter Halme und Besenheide aus wie ein Zelt. Aus der Nähe erkennt man, dass das Zelt im unteren Teil nur aus einer schwarzen Gaze-Wand besteht. Fliegen Insekten dagegen, steigen sie auf Richtung Licht, geraten in den weißen Gazetrichter, der das Dach bildet und sie schließlich in die Flasche mit Alkohol lenkt.
„Heute sind gar nicht so viele Insekten unterwegs“, sagt Thomas Hörren, der Vorsitzende des Entomologischen Vereins Krefeld. Es ist zu windig. Er schraubt die Flasche ab und schaut hinein. „Trotzdem ist die Probe hochdivers.“ Die Artenvielfalt der gesammelten Insekten erkennt sogar ein Laie: Große Wespen und Falter schwimmen in der Flüssigkeit, ein Ohrwurm und Fliegen in allen Farben und Größen.
Fänge wie dieser haben die Daten geliefert für die Krefelder Studie, die vor fünf Jahren international Furore machte. Ihr ursprüngliches Ziel war es, die Diversität von Insektenpopulationen in ausgewählten Naturschutzgebieten Deutschlands zu erfassen. Ab 1990 stellten die Forscher in insgesamt 26 Naturschutzgebieten ihre Fallen auf: in Nordrhein-Westfalen, Rheinland Pfalz und Brandenburg. Zur Methodik der Studie gehörte auch, die Insektenbiomasse in den Fallen, also die Gesamtmenge aller gefangenen Insekten, regelmäßig und nach standardisierten Methoden zu messen. Im Laufe der Jahre fiel den Forschern auf, dass diese Biomasse ständig zurückging – in allen aufgestellten Fallen. Ihr abschließender Befund nach 27 Jahren: Die Insektenbiomasse in den untersuchten Gebieten war um erschreckende 75 Prozent geschrumpft.
Für Fachleute keine Überraschung
Es hatte schon in den Jahrzehnten zuvor verschiedene Untersuchungen zu Bestandsentwicklungen von Insekten gegeben, mit ähnlichen Ergebnissen. Weshalb die „Krefelder Studie“ für viele Fachleute keine Überraschung war. Was diese Studie jedoch von allen früheren unterschied: Nie zuvor hatte ein Forschungsteam über so lange Zeit und an so vielen Stellen die Entwicklung von Insektenpopulationen beobachtet. Entsprechend groß war das Echo in der Öffentlichkeit. Martin Sorg, bis Anfang des Jahres Vorsitzender des Entomologischen Vereins Krefeld, gab unzählige Interviews und hielt auf der ganzen Welt Vorträge.
Die erste und wichtigste Konsequenz aus der Krefelder Studie war ein Versprechen: „Wir werden das Insektensterben umfassend bekämpfen.“ So schrieben es CDU und SPD 2018 in ihren Koaltionsvertrag. Die beiden Regierungsparteien kündigten konkrete Maßnahmen an: Landwirte sollten Pestizide einsparen, das Bundesforschungsministerium Geld bereitstellen, um die Ursachen des Insektensterbens zu erforschen. Die Gelder flossen, und davon habe die Forschung auch profitiert, sagt Bernhard Misof, Direktor des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Der Zusammenschluss der Naturkundemuseen in Bonn und Hamburg gehört zu den Institutionen, die sich seit jeher der Erforschung der Insektenwelt widmen – und nach Wegen suchen, ihren Niedergang aufzuhalten. Eine Forderung der Wissenschafts-Community fand fast wörtlich Eingang in das Koalitionspapier: „Wir wollen ein wissenschaftliches Monitoringzentrum zur Biodiversität.“
Nationales Monitoringzentrum unterstützt Projekte der Länder
Im Januar 2021 nahm das „Nationale Monitoringzentrum zur Biodiversität“ (NMZB) in Leipzig seine Arbeit auf. Andreas Krüß vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) leitet den Aufbau des Zentrums.
Krüß und seine Kollegïnnen zählen selbst keine Insekten; sie beschließen auch keine konkreten Projekte. Das ist Sache der Bundesländer; die konkrete Planung übernehmen die Umweltbehörden vor Ort. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sind Expertïnnen bereits ausgeschwärmt, um Daten zu sammeln. Die übrigen Länder wollen 2023 an den Start gehen.
Das NMZB koordiniert alle Vorhaben der Bundesländer, übernimmt bis zur Hälfte der Kosten und sorgt dafür, dass die Daten der Forschung zur Verfügung stehen. Das ist gar nicht so selbstverständlich: Viele Daten aus der Vergangenheit sind in den Schubladen von Forscherïnnen verschwunden oder nicht angemessen publiziert worden. Auch sind die Ergebnisse vieler Studien nicht vergleichbar, weil die federführenden Expertïnnen bei ihren Messungen unterschiedliche Methoden und Standards verwandt haben.
Zu Beginn beschränkt sich das Insektenmonitoring des NMZB lediglich auf zwei Gruppen: Tagfalter und Heuschrecken. Diese decken zwar nur einen kleinen Ausschnitt der Insektenvielfalt ab, aber sie haben zwei entscheidende Vorteile, sagt Andreas Krüß: Sie lassen sich gut direkt in der Natur bestimmen. Die Sammler brauchen sie also nicht zu fangen und aufwändig im Labor unterm Mikroskop untersuchen.
Die Krefelder Studie war nur ein Zwischenschritt
Der zweite Vorteil: Es gibt genügend Expertïnnen für beide Artengruppen. Mit dem Tagfaltermonitoring Deutschland existiert bereits eine bundesweite Erhebung, an deren Methoden sich die Leipziger für ihren neuen Ansatz anlehnen. Eines jedoch unterscheidet das neue Monitoring von dem Citizen-Science-Projekt: Während beim Tagfaltermonitoring ehrenamtliche Schmetterlingskennerïnnen Daten sammeln, werden sich die neuen Monitorings auf hauptberufliche Entomologen stützen. Andreas Krüß: „Wir können von Ehrenamtlichen nicht verlangen, dass sie immer in die Bresche springen. Dafür gibt es Profis, und die muss man dafür bezahlen.“
Für die Krefelder Entomologen war die Studie von 2017 eigentlich nur ein Zwischenschritt. Sie haben weiter Daten gesammelt – auch am Egelsberg. Rund dreieinhalb Gramm Insekten fängt die Malaisefalle dort jeden Tag – da kommen Millionen Insekten zusammen. Alle zwei Wochen wechselt ein Helfer die Flasche. In dem Behälter, den Thomas Hörren in der Hand hält, schwimmen viele große, aber vor allem unzählige kleine Flugtiere – viele kaum größer als ein Staubkorn.
Dieses „Luftplankton“ stellt die Forscher vor besondere Herausforderungen. Denn bisher hat es noch niemand geschafft hat, alle Insektenarten in einer solchen Falle zu bestimmen. Viele der kleinen Fliegen, Wespen und Bienen sind noch nicht einmal als Arten identifiziert und beschrieben.
Zwar erleichtert die Technik des Metabarcodings die Arbeit der Wissenschaftler. Aber damit lassen sich lediglich die bekannten Arten bestimmen. Beim Metabarcoding benutzen Biologen ein bestimmtes Gen, das in jeder Tierart einmalig unterschiedlich ist. Oft genügt es, einen kleinen Teil eines Tieres oder sogar nur eine Wasser- oder eben eine Alkoholprobe zu analysieren, in der es gelegen hat. Wenn aber eine neue Art in einem Fang auftaucht, müssen Taxonomen dieses Tier natürlich erst einmal ganz klassisch bestimmen und einen neuen Barcode in ihre Datenbank einspeisen.
Das Bestimmen der Arten ist aber unerlässlich. Denn eine entscheidende Frage hat die Krefelder Studie offen gelassen: Gehen mit dem Rückgang der Biomasse auch Arten verloren?
Wenn die Biomasse schrumpft, schwindet die Artenvielfalt
In einem Naturschutzgebiet sind die Krefelder der Frage bereits nachgegangen: Es liegt an der Wahnbachtalsperre östlich von Bonn. Dort haben die Entomologen 1989 und 2014 jeweils sämtliche Schwebfliegenarten bestimmt. Beim Vergleich der Ergebnisse aus beiden Jahren stellten sie fest, dass die Populationen im Zeitraum dazwischen deutlich geschrumpft waren, sogar bei den relativ häufigen Arten. Einige Arten waren vollständig verschwunden. Thomas Hörren: „An Standorten, wo die Biomasse heute niedriger ist, haben wir auch eine geringere Diversität als früher.“
Die Datensammlung der Krefelder im Wahnbachtal und an anderen Standorten sind Teil eines bundesweiten BfN-Projekts. DINA, „Diversität von Insekten in Naturschutz-Arealen“, erfasst, wie sich die Populationen von Insektenarten in 21 Schutzgebieten der Republik entwickeln. Das soll verstehen helfen, welche Umwelteingriffe das Insektensterben ausgelöst haben und weiter vorantreiben.
Diese Frage konnte die Krefelder Studie jedoch noch nicht beantworten – und das, obwohl sie an so vielen Orten und über einen so langen Zeitraum unternommen wurde. Die Ergebnisse lieferten zwar etliche Anhaltspunkte, aber keine „rauchenden Colts“.
Es gibt jedoch eine Gruppe von „Verdächtigen“, die ganz oben auf der Liste steht: Pestizide, also Substanzen, die gezielt unerwünschte Beikräuter oder Schadinsekten bekämpfen sollen, aber häufig auch andere Organismen schädigen und töten. Um diese Substanzen zu identifizieren, haben Thomas Hörren und seine Kollegïnnen den Alkohol der DINA-Proben analysiert. Dabei kamen im Schnitt 16 verschiedene Stoffe zusammen.
Einige der Mittel waren auf Flächen ausgebracht worden, die direkt an die untersuchten Naturschutzgebiete grenzen. Andere hatte der Wind von viel weiter entfernten Flächen herbeigeweht. Ihr genauer Ursprung war nicht mehr festzustellen.
Pestizide beeinträchtigen viele Schutzgebiete, denn diese sind häufig von landwirtschaftlich genutzten Flächen umgeben und liegen Kante an Kante mit intensiv bearbeiteten Feldern. Wenn man die Strecken addiere, in denen Naturschutzgebiete und landwirtschaftliche Nutzflächen direkt, also ohne Puffer, aneinanderstoßen, komme man auf 11.000 Kilometer, sagt Thomas Hörren.
Und die direkte Nachbarschaft von Nutzflächen ist oft nicht das einzige Problem. Denn wenn ein Areal zum Schutzgebiet erklärt wird, in dem bereits landwirtschaftliche Flächen liegen, dann dürfen die Landwirte diese Flächen weiterhin ohne Einschränkungen bearbeiten – inklusive Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger. Einschränkungen müssen die Behörden in jede einzelne Schutzgebietsverordnung schreiben – und die Bauern voll für den Mehraufwand entschädigen.
Daten über Pestizide für die Forschung
Es wäre schon viel gewonnen, sagt Thomas Hörren, wenn die Forschung genauer wüsste, welche Substanzen wo ausgebracht werden. Aber das ist bislang jedenfalls kaum herauszufinden. Zwar gehört es zur „guten fachlichen Praxis“, dass Bäuerinnen und Bauern über genau Buch darüber führen, welche Substanzen sie wann in welcher Menge ausbringen; die Daten müssen sie drei Jahre lang aufbewahren. So schreibt es die Pflanzenschutzmittel-Anwendungsverordnung vor. „Aber es gibt keine zentrale Stelle, die diese Daten erfasst und der Forschung anonym zur Verfügung stellen kann.“ Weshalb Forscher bis heute nicht darauf zugreifen können.
Mit dem bundesweiten Monitoring könnte sich das jetzt ändern. Andreas Krüß ist überzeugt: Zur Erfassung der Biodiversität gehört nicht nur, Zahl und Artenzugehörigkeit der Insekten zu betrachten – Expertïnnen müssen viel gezielter als bisher nach den Faktoren suchen, die diese Vielfalt bedrohen. Dazu gehören Änderungen der Landnutzung etwa wie der Umbruch von Wiesen zu Ackerland, die Entwässerung von Feuchtgebieten und das Verschwinden der Weidetiere. Hinzu kommen andere Faktoren wie Lichtverschmutzung und der Klimawandel, über dessen Rolle auf das Artensterben bislang auch immer noch viel zu wenig bekannt ist.
Aber die „große Unbekannten“ unter den Ursachen des Insektensterbens sind nach wie vor die Pestizide. „Wir sind mit den Verantwortlichen im Dialog, damit diese Informationen künftig zugänglich sind“, sagt Krüß diplomatisch: „Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, weil der Druck da jetzt sehr hoch ist.“
Bis das Monitoring erste Datenreihen liefern kann, werden jedoch noch mehrere Jahre vergehen. „Es ist viel notwendige Forschung liegen geblieben in den letzten 30 Jahren“, sagt Christoph Scherber. Der Biologe leitet seit Kurzem das neue „Zentrum für Biodiversitätsmonitoring“ am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, dem LIB in Bonn. „Die Natur überrascht uns immer wieder mit ihrer Komplexität.“
„Wir wissen längst genug, um Maßnahmen zu ergreifen.“
In einem sind sich die Expertïnnen vom LIB und anderen Forschungseinrichtungen, aber auch von Behörden wie dem BfN und Naturschutzverbänden einig: Es ist längst genug bekannt, um endlich effektive Maßnahmen zum Schutz der Insekten umzusetzen – Maßnahmen, von denen schon jetzt aus Feldversuchen bekannt ist, dass sie wirken. Damit ließe sich im besten Fall der Niedergang der Biodiversität insgesamt bremsen.
Zwar würden bis heute immer wieder Rufe laut, dass es vor der Umsetzung konkreter Maßnahmen etwa in der Landwirtschaft „mehr Daten“ brauche. Aber in diesen „Mehr Daten!“-Rufen liege auch eine Strategie, sagt Christoph Scherber. Bestimmten Interessengruppen sei daran gelegen, Unsicherheit zu schüren und Reformen zu blockieren. Das sei nicht akzeptabel: „Die Evidenz ist so überwältigend, dass man jetzt aktiv werden muss.“
Wer fünf Jahre nach „Krefeld“ schon auf konkrete Projekte zum Stopp des Insektensterbens gehofft hatte, sieht sich enttäuscht. Aber das ist kein Grund zur Resignation: Politisch hat die Studie einiges in Bewegung gebracht. In Bayern initiierten die ÖDP, der Landesbund für Vogelschutz und die Grünen 2019 das Volksbegehren „Artenvielfalt & Naturschönheit in Bayern ‚Rettet die Bienen‘“, das dank überwältigender Resonanz in ein neues Naturschutzgesetz mündete. In Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Brandenburg hat es ähnliche Initiativen gegeben, auch wenn diese weniger erfolgreich waren als das Original.
In der vergangenen Legislaturperiode einigten sich Umweltministerin Svenja Schulze und ihre Kollegin Julia Klöckner aus dem Landwirtschaftsressort nach langem Ringen auf ein neues Insektenschutzgesetz. Das Pflanzengift Glyphosat soll von 2023 an verboten, die Pflanzenschutzmittel-Anwendungsverordnung ergänzt werden, um ein Verbot des Pestizideinsatzes in Flora-Fauna-Habitat-Schutzgebieten durchzusetzen.
Noch stehen diese Verbote nur auf dem Papier, und auf europäischer Ebene gibt es längst Bestrebungen, sie aufzuweichen oder gar zu kippen. Auch die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) hat die erhofften Impulse für den Naturschutz vermissen lassen.
Die Normallandschaft ist für sie lebensfeindlich geworden
Aus Naturschutzsicht reicht das bisher geplante bei Weitem nicht aus: „Glyphosat ist ja nur die Spitze des Eisberges. Wir müssten noch über viele andere Pestizide sprechen“, sagt Florian Schöne, der Geschäftsführer des Deutschen Naturschutzrings, des Dachverbands von 100 Umwelt- und Tierschutzorganisationen in Deutschland. „Niemand kontrolliert, ob die Verbote in unseren Schutzgebieten tatsächlich eingehalten werden. Wir müssen sie viel besser schützen.“
Denn was vielen nicht bewusst ist: Für viele bedrohte Arten sind die Schutzgebiete inzwischen die letzten Rückzugsorte. Die Normallandschaft ist für sie lebensfeindlich geworden. Und daran sind nicht nur die Pestizide schuld.
Wer sich auf der Ebene des Egelsbergs im Kreis dreht, sieht Schlote in der Ferne. Die Autobahn ist gerade mal einen halben Kilometer entfernt. Auf der anderen Rheinseite liegen die Kraftwerke und Stahlhütten des Ruhrgebiets. Ringsum stehen die Ställe der Viehzüchter.
Autoverkehr, Industrie und Landwirtschaft stoßen so viel Stickstoff aus, dass auf jeden Hektar Land in Deutschland soviel Dünger allein aus der Luft niedergeht, wie ein Bauer in den 1950er Jahren in Form von Stallmist auf seine Felder brachte.
Für die meisten heimischen Pflanzen ist das ein Problem, denn sie sind an karge Bedingungen gewohnt. Wenn man die Flächen sich selbst überlässt, werden diese Hungerkünstler schnell von Pflanzen mit großen Stickstoffhunger verdrängt wie Brennnesseln oder fetten Gräsern. Mit den genügsamen Pflanzen verschwinden die Insekten, die sich auf diese Gewächse spezialisiert haben. Wenn man die Vielfalt der Flora und Zahl und Artenreichtum der Insekten erhalten will, muss man Naturschutzflächen also „künstlich“ mager halten.
Dilemma: Biotopschutz oder Artenschutz?
Doch es ist schwierig, gegen die Umwelteinflüsse an zu arbeiten. Thomas Schmitt, der Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg bei Berlin, beschreibt den Zwiespalt so: Früher, als Äcker und Wiesen noch arm an Nährstoffen waren, hatten pflanzliche Hungerkünstler genügend Zeit, sich zu entwickeln, Blüten und Samen zu bilden und damit für Nachwuchs für das nächste Jahr zu sorgen. Um die Flächen offen zu halten, reichte es, sie einmal im Jahr zu mähen oder zu ernten oder ein paar Kühe darauf grasen zu lassen.
Heute bekommen auch die kargsten Böden allein aus der Luft so viel Dünger ab, dass sie auch bei jährlicher Mahd schnell zuwuchern und verbuschen. Um die an schmale Kost gewöhnte Flora zu erhalten, müsste der Zuwachs an Biomasse also häufiger abgeräumt werden, damit die Nährstoff-Überdosis allmählich reduziert wird, die Böden „ausmagern“ können. Bei kürzeren Mahd-Intervallen hätten die pflanzlichen Hungerkünstler aber nicht mehr ausreichend Zeit, Blüten und Samen zu bilden – ein schwer lösbares Dilemma für alle, die offene Flächen mit ihrem Artenreichtum erhalten wollen.
Es bräuchte ein politisches Gesamtkonzept zum Schutz der Biodiversität, um solche Probleme wirksam anzugehen. Aber ein solches Konzept fehlt, konstatiert Christoph Scherber vom LIB: „Es hat sich hier nichts gebessert.“ Für wirklich durchgreifende Änderungen, glaubt Scherber, brauche es nicht weniger als einen Systemwechsel. Dahingehend, dass Bauern ausreichend Geld bekommen, wenn sie auf Erträge verzichten und Lebensräume schützen, erhalten oder wiederherstellen. Dass in den Preisen für Produkte tatsächlich die Kosten enthalten sind, die ihre Herstellung und der Transport für die Allgemeinheit verursachen. Dass Flächen nicht mehr nur nach ihrem Ertrag bewertet werden, sondern auch nach ihrem ökologischen Wert. Der sich am Ende auch in barer Münze auszahlen kann, wie der Entomologe Bernhard Misof unterstreicht: Landwirtschaftliche Flächen mit höherer Artenvielfalt, sagt er, lieferten messbar höhere Erträge an Nutzpflanzen ab.
In ihrer „Berliner Erklärung“ im Vorfeld des G7-Gipfels hat Misof gemeinsam mit knapp 1800 anderen Wissenschaftlerïnnen mehr Mut zu naturbasierten Lösungen gefordert. Eine der fünf Forderungen: 30 Prozent der Flächen an Land und auf See müssen unter strikten Schutz gestellt, 20 weitere Prozent renaturiert werden.
30 Jahre nach der Konferenz von Rio und der Unterzeichnung der ersten Internationalen Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt schreitet die Zerstörung der Biosphäre immer noch weitgehend ungebremst voran. Dass die sinkenden Bestandskurven sich umdrehen bleibt vorerst ein Wunschtraum. „Wir müssen viel mehr Anstrengungen unternehmen“, sagt Christoph Scherber.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.