Beim Sparen von Erdgas ist Wärme der Schlüssel, Atomkraft hilft nur wenig
Die Diskussion über die Laufzeit der Kernreaktoren überlagert zurzeit die wesentlichen Frage: Wie kann es gelingen, dass Haushalte, Stromversorger und Industrie den Verbrauch von Erdgas um etwa 20 Prozent reduzieren? Ein Blick auf die Statistiken
Der Gasverbrauch muss drastisch sinken, wenn Deutschland im Winter den Notstand vermeiden will. Die Zahlen zum Verbrauch zeigen, dass Raumwärme und Warmwasser für mehr als die Hälfte des Bedarfs verantwortlich sind. Hier liegen große Einspar-Potentiale. Kernkraftwerke über das Jahresende 2022 hinaus am Netz zu lassen, wie es Union und die Regierungspartei FDP fordern, entschärft die Gefahr einer Knappheit beim Erdgas ersten Analysen zufolge kaum. Eine genauere Berechnung mit verschärften Bedingungen soll nun Klarheit bringen.
Am Ende stand die Koalition, genauer: sie stand auf. Die Abgeordneten der SPD, Grünen und FDP im Bundestag erhoben sich laut Protokoll von ihren Stühlen, um das „Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken“ in der vorletzten Sitzung des Parlaments vor der Sommerpause, am 7. Juli 2022, zu verabschieden. Weil tagsdrauf auch der Bundesrat zustimmte, sind bereits abgeschaltete Kohlemeiler wieder ans Netz gegangen, um die Stromerzeugung aus Gaskraftwerken wo immer möglich zu ersetzen. Das erscheint auch deswegen als gutes Timing, weil die Ostsee-Pipeline Nordstream 1, durch die Gas aus Russland strömt, zur regulären Wartung abgeschaltet wurde – und niemand weiß, ob sie danach wieder in Betrieb geht. (Über die Hintergründe des Baus der parallelen Pipeline Nordstream 2 berichtet dieser Artikel. Und in diesem Beitrag geht es um die EU-Taxonomie, die Finanzanlagen in Gas- und Atomkraftwerke als nachhaltig ansieht.)
In den Hintergrund gerückt erschien damit für einige Tage die Frage, ob die letzten drei deutschen Atomkraftwerke über ihre geplante Abschaltung am Jahresende hinaus Strom erzeugen sollen. Dafür wirbt weiterhin die Union: Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder hatte zum Beispiel im Radioprogramm von Bayern-2 gesagt, er halte es für „völligen Unsinn“ die Kernkraftwerke wie geplant zum Jahresende abzuschalten. „Es gibt keine Argumente, außer rein ideologischen Basta-Argumenten, die Kernkraft nicht zu verlängern.“ Auch FDP-Chef Christian Lindner hatte sich der Debatte gegenüber aufgeschlossen gezeigt.
Doch der Frieden in der Koalition ist spätestens gestört, seit der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Bundestag, Christian Dürr, direkt für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke wirbt – gleichzeitig und fast mit den gleichen Worten wie Oppostionsführer Friedrich Merz von der CDU. Allerdings liegt die Verbindung zwischen Gasimporten einerseits, und dem Strom aus Kernkraft andererseits, keinesfalls so klar auf der Hand wie es interessierte Politiker darstellen. Und es stimmt sicherlich nicht, wenn Söder sagt, nur Ideologie verhindere die Verlängerung der Laufzeiten: Fragen zur Sicherheit, zum Zustand und der Beschaffung von Kernbrennstoff, zu Zwischen- und Endlagern sowie zur Personaldecke sind entscheidend.
In dieser Situation hat das Wirtschafts-und-Klima-Ministerium nun zweierlei getan. Erstens wurden die Ergebnisse eines Stresstests für das Energiesystem aus dem Frühjahr veröffentlicht. Damals hatten die Expert:innen unter anderem mit einem Erdgas-Preis von 200 Euro pro Megawattstunde gerechnet, der zurzeit noch nicht erreicht ist: Er liegt (Stand 19. Juli 2022) bei 162 Euro. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, hatte zuletzt sogar von einem möglichen Plateau der Preisentwicklung gesprochen. Außerdem hatte das Szenario aus dem Frühjahr angenommen, dass die französischen Kernkraftwerke weniger Strom liefern. Das ist zurzeit wegen der anhaltenden Hitze der Fall, weil die Meiler nicht mehr genug Kühlwasser aus den aufgeheizten Flüssen entnehmen können. Das Ergebnis dieser ersten Prüfung: „Es kommt unter den getroffenen Annahmen zu keiner Lastunterdeckung“, heißt es in der trockenen Sprache der Fachleute. Sprich: Deutschland hat genug Strom. Und die inzwischen beschlossene Reaktivierung von Kohlekraftwerken spart eine Menge Gas, davon etwa zwei Drittel in Frankreich und Italien.
Zweitens hat der zuständige Ressortchef Robert Habeck (Grüne) nun einen zweiten Stresstest unter noch einmal verschärften Bedingungen angekündigt. Er erwartet davon aber erkennbar keine anderen Erkenntnisse. „Wir haben ein Gasproblem, beim Strom sieht es anders aus: (…) Um die Vorsorge weiter zu stärken, haben wir jetzt einen zweiten Stresstest veranlasst. Er betrachtet noch mal zugespitztere Szenarien“, sagte der Minister laut Tagesschau. Insbesondere die Situation in Bayern, wo die Stromversorgung im besonderen Maße von Gas- und Atomkraftwerken abhängt, sollen die Prüfer analysieren.
Der Gasbedarf sinkt um ein Prozent, wenn die Atomkraft weiter Strom liefert
Auch ihnen stellt sich dabei die Frage: Wie genau könnten Kernkraftwerke die Situation beim Gasverbrauch entspannen? Eine Analyse aufgrund bisheriger Daten folgt weiter unten. Hier nehmen wir zwei wesentliche Erkenntnisse vorweg. Erstens liefern Gaskraftwerke entweder Strom und Wärme gleichzeitig, und werden dabei eher vom Wärmebedarf getrieben als vom Strombedarf. Oder sie gleichen Schwankungen auf dem Strommarkt aus und passen das Angebot auf die jeweilige Nachfrage an. Zweitens: Keine dieser beiden Funktionen können Atomkraftwerke übernehmen: Sie sind groß und träge und so weit von Wohngebieten oder Industriebetrieben angesiedelt, dass keine Wärmenetze angeschlossen wurden.
Darum ändert der Weiterbetrieb der Kernreaktoren ersten Analysen zufolge nur sehr wenig am künftigen Gasbedarf. Der Verbrauch im Jahr 2023 wäre bei laufenden Atommeilern nur um ein Prozent geringer als mit abgeschalteten Reaktoren, zeigt eine Berechnung der Beratungsfirma Energy Brainpool im Auftrag von Green Planet Energy, einer Genossenschaft, die im Dunstkreis der Umweltorganisation Greenpeace entstanden und zuhause ist. Die Fachleute von Energy Brainpool haben in ihrem Simulationsmodell die Entwicklung für alle Stunden der kommenden beiden Jahre mit und ohne die drei verbliebenen Atommeiler berechnet und dann verglichen.
Sollte auf der Basis dieser schmalen Marge der Beschluss fallen, die drei Atommeiler noch über den Winter bis ins Frühjahr 2023 zu betreiben, dann müssten die Betreiber übrigens vermutlich vorher schon die Leistung drosseln, um mit ihrem Brennstoff hauszuhalten oder die Brennstäbe neu zu sortieren. In Fachkreisen heißt das „Streckbetrieb“, ein möglicher Strommangel würde damit also sogar vorgezogen.
Treten wir nun einen Schritt zurück: Um die Schlussfolgerung genauer zu verstehen, hilft ein Blick in diverse Statistiken. Die Antwort auf Frage, was ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke bewirken könnte, ist tief in andere Aspekte der Gasnutzung verstrickt. Auf dem Weg zur Klärung muss man das ganze System durchforsten und erläutern – oder es ist zumindest eine gute Gelegenheit dazu. Wir klären die Verhältnisse auf dem Gasmarkt zunächst am Beispiel des Jahres 2020; das ist das jüngste, zu dem vollständige, wenn auch teilweise noch vorläufige, Zahlen vorliegen. Es war gleichzeitig das erste Jahr der Corona-Pandemie, mit teilweise starken Verwerfungen in der Wirtschaft. Ein Vergleich der Energiebilanzen der Jahre 2019 und 2020 zeigt jedoch keine substantiellen Unterschiede. 2021 ist der Gasverbrauch nach vorläufigen Zahlen gegenüber dem Vorjahr um etwa fünf Prozent gewachsen. Und in den ersten Monaten dieses Jahres im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr bereits um 14 Prozent gesunken, erklärte Wirtschafts-und Klima-Minister Robert Habeck in den Tagesthemen.
1. Frage: Wohin fließt das Gas?
Nach Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen (AGEB) hat Deutschland im Jahr 2020 genau 871 Terawattstunden Erdgas verbraucht (TWh sind Billiarden Wattstunden; die Menge von Erdgas wird meist über den Energiegehalt gemessen, siehe den folgenden Exkurs). Davon ging ein knappes Sechstel (15, 8 Prozent) in die Stromerzeugung. Der Sektor mit dem größten Verbrauch war die Industrie (35 Prozent) vor den Privathaushalten (28, 6 Prozent). Insgesamt sieht die Verbrauchsstatistik so aus.
2. Frage: Wofür wird das Gas gebraucht?
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Daten nach den Zwecken aufschlüsselt, die Verbraucher von Erdgas damit verfolgen. Zahlen dafür gibt es vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und dem Statistischen Bundesamt (Destatis).
Hier sind zunächst zwei neue Sektoren zu sehen, die vor allem auf den Bedarf der Industrie zurückgehen: Sie erzeugt sehr viel Prozesswärme mit hohen Temperaturen, bei denen man zum Beispiel Metalle oder Glas schmelzen kann. Und sie nutzt einen Teil des Erdgases „nicht-energetisch“, wie es in der Statistik heißt, also als Rohstoff; das passiert vor allem in der chemischen Industrie. Sie wandelt die CH4-Moleküle des wesentlichen Bestandteils von Erdgas, Methan, in Basisverbindungen wie Ammoniak oder Acetylen um, die dann zu Dünger oder höherwertigen Substanzen verarbeitet werden.
Insgesamt aber dient gut die Hälfte des Gases dazu, Raumwärme und Warmwasser zu bereitzustellen. Die Haushalte verwenden Gas praktisch ausschließlich zu diesem Zweck, im Handel ist dieser Anteil ein wenig, bei der Industrie deutlich geringer. Zu den 44 Prozent Erdgas, die so ausschließlich den Zweck erfüllen, für behagliche Temperaturen zu sorgen, kommt der Verbrauch in großen Kraftwerken oder Anlagen im Keller von Mehrfamilienhäusern, die gleichzeitig Strom und Wärme erzeugen. Zwei Drittel des Stroms, der überhaupt aus der Verbrennung von Gas gewonnen wird, stammt aus solchen Kombi-Aggregaten, die daneben noch Häuser, Büros oder ganze Stadtviertel beheizen und oft nach deren Bedarf gesteuert werden.
Das genau macht es auch schwierig, in solchen Anlagen (der Fachbegriff ist Kraft-Wärme-Kopplung, KWK) Erdgas zu sparen: Es ist nicht damit getan, Strom aus anderen Quellen in das Netz einzuspeisen, solange der Wärmebedarf der jeweils angeschlossenen Häuser oder Betriebe nicht gedeckt ist. Hier könnten Sparappelle an Privathaushalte helfen. Für die Industrie, egal ob sie die nötige Energie aus öffentlichen Netzen bekommt oder solche Kraftwerke auf dem eigenen Werksgelände betreibt, bedeutet geringere Gasverbrauch oft, die Produktion zu verringern oder einzustellen.
3. Frage: Wann wird das Gas verbraucht?
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Gas je nach Jahreszeit sehr unterschiedlich nachgefragt und genutzt wird. Das zeigen diese Grafiken des BDEW. Zunächst für den Stromverbrauch: Hier sieht man leichte Dellen im Frühjahr sowie im Spätsommer bis Frühherbst.
Damit schwankt der Anteil der elektrischen Energie aus Erdgas etwas stärker als die gesamte Nachfrage nach Strom, die über die Monate eines Jahres ein ähnliches Muster aufweist. Aber noch viel ausgeprägter ist der Effekt der Jahreszeit beim gesamten Verbrauch von Erdgas über die Monate hinweg. Das ist auch wenig verwunderlich, wird doch damit vor allem im Herbst und Winter geheizt. Sparen kann man daher am meisten im Winter, vorbereiten muss man diese Maßnahmen aber möglichst in der warmen Jahreszeit.
4. Frage: Wo kann man Gas sparen? Und wie viel müsste es sein?
Um den zweiten Teil der Frage zuerst zu beantworten: Die Bundesnetzagentur setzt eine Reduktion von 20 Prozent an. Sie hat vor kurzem einige Szenarien veröffentlicht, wie gut oder schlecht Deutschland über den kommenden Winter kommen könnte. Es geht dabei primär um die Frage, ob genug Erdgas aus Pipelines, Flüssiggas-Tankern und den Speichern kommt, damit keine Verbraucher gegen ihren Willen abgeschaltet werden müssen. Oder ob die Speicher irgendwann im Dezember, Januar oder Februar leer sind und dann die Mangelwirtschaft beginnt.
Die Behörde variiert dabei drei Größen und lässt sie in unterschiedlichen Kombinationen in die Szenarien einfließen; eine davon ist eine Reduktion des Gasverbrauchs um ein Fünftel ab sofort (daneben: die Höhe eventueller Importe aus Russland und die Exporte bzw das Weiterleiten von Gas aus Deutschland in Nachbarländer). Die Größenordnung von 20 Prozent hält die Agentur offenbar für möglich und nötig. In zwei der Szenarien sorgt dieses Einsparen mit dafür, dass Deutschland an der akuten Gaskrise vorbeischrammt (allerdings dann nicht, wenn Russland die Pipeline Nordstream 1 nach der Wartung abgeschaltet lässt, Deutschland aber weiterhin wie bisher Gas an Nachbarländer weiterleitet).
Etwas höher legt Dr. Martin Pehnt vom Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg die Latte: „Das Ziel muss sein, dass jedes Unternehmen, jeder Gebäudeeigentümer, jede Heizkesselbetreiberin im nächsten Winter 25 Prozent Gas einspart. Dabei dürfen die Kundinnen und Kunden nicht allein gelassen werden.“
Wie kommt man angesichts der Verbrauchsstatistik auf eine solche Reduktion?
Aus den Zahlen und Grafiken lassen sich etliche Ansatzpunkte für das Sparen von Erdgas herauslesen – aber auch viele Schwierigkeiten.
- Privatwohnungen weniger zu beheizen, heißt es oft, spare sechs Prozent pro Grad Celsius, um das man die mittlere Raumtemperatur von 22 Grad aus senkt. Aber gemessen am gesamten deutschen Bedarf ist die anteilige Reduktion kleiner: Falls tatsächlich alle Bürger:innen des Landes die Absenkung schaffen sollten und sie auch für die Büros und sogar für Fernwärme und Wärmenetze gilt, dann könnte der gesamte Gasbedarf um gut zwei Prozent sinken. Bleiben die Räume sogar um zwei Grad kühler, bringt es dementsprechend etwa vier Prozent sinkenden Verbrauch. Wie groß das Potential insgesamt ist, darüber rätseln Expert:innen noch. Insgesamt, schätzt zum Beispiel Lamia Messari-Becker von der Universität Siegen, könnten Haushalte im Mittel 15 Prozent ihres Gasbedarfs einsparen. Auch Zahlen wie 20 oder 25 Prozent sind im Umlauf. Dazu dienen auch Optimierungen an der Heizanlage, ein sogenannter hydraulischer Ausgleich, die Absenkung der Vorlauftemperatur und eine Nachtabschaltung.
- Den Bedarf an Warmwasser um ein knappes Drittel zu reduzieren, zum Beispiel durch kürzeres Duschen, bringt noch einmal ungefähr zwei Prozent Reduktion des deutschen Gesamtverbrauchs an Erdgas. Je nach Haustechnik sind weitere Einsparungen aber schwieriger zu erreichen, weil ein Grundbedarf für das Bereithalten von Warmwasser zu jeder Uhrzeit und das Zirkulieren-lassen in den Leitungen anfällt. Daran lässt sich zwar manches optimieren, aber wenn die Temperatur im System unter 55 Grad sinkt, nimmt die Gefahr von Legionellen-Ausbrüchen zu.
- Die gleiche Größenordnung an Einsparung – ebenfalls zwei Prozent – ist zu erreichen, wenn die Industrie ihren Bedarf an Prozesswärme um ein Zwölftel reduziert. Hier ist vielleicht auch mehr drin, es dürfte aber Debatten um die Verteilung der Reduktionen auf einzelne Betriebe auslösen: Manche produzieren einfach weniger, bei anderen werden Maschinen beschädigt, weil zum Beispiel Reste von flüssigem Glas darin erstarren. Um solche Einsparungen zu optimieren, schwebt dem Wirtschaftsminister ein Auktionsmodell vor, mit dem Kompensationszahlungen für freiwillige Reduktionen vergeben werden.
- Damit der gesamte Verbrauch um weitere zwei Prozent sinkt, müssten die Chemiefabriken den Einsatz von Erdgas als Rohstoff um die Hälfte einschränken – ein sehr hoher Prozentsatz.
- Auch im Stromsektor ist eine Einsparung gleicher Größenordnung eher schwierig zu erreichen. Da schließlich ein Sechstel der gesamten Elektrizität aus Erdgas-Kraftwerken und -Anlagen stammt, müsste der Verbrauch um sechsmal zwei Prozent, also um 12 Prozent sinken – falls sich nichts an den Strukturen auf dem Strommarkt ändert. Darum lohnt hier ein genauerer Blick im nächsten Abschnitt.
5. Frage: Wofür wird Gas in der Stromerzeugung eingesetzt?
Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf den Einsatz von Gas zur Bereitstellung von Elektrizität zu werfen. Die notwendigen Daten dafür liefert die Webseite energy-charts.info, die von Bruno Burger am Fraunhofer-Institut für Solarenergie in Freiburg betrieben wird. Hier lassen sich die Verhältnisse im Stromnetz im Viertelstunden-Rhythmus verfolgen. Dabei ist es sinnvoll, statt wie bisher auf den Energiegehalt (zum Beispiel in Terawattstunden) auf die Leistung (in Mega- oder Gigawatt) zu blicken, also auf die Energie, die pro Zeiteinheit zur Verfügung gestellt wird. Es kommt nämlich im Stromnetz entscheidend darauf an, was wann zur Verfügung steht und nachgefragt wird. Außerdem lösen wir uns jetzt von Jahr 2020 und kehren nach 2022 zurück.
Auf den folgenden Grafiken sind die Anteile der verschiedenen Stromquellen übereinandergestapelt abgebildet. Ganz unten in Rot die Kernenergie, oben in Gelb der Strom aus Solarzellen und in Hellgrün die elektrische Leistung der Windräder an Land. Erdgas ist das orange-farbige Band in der Mitte, und die dünne schwarze Linie zeigt den jeweils momentanen Verbrauch (die „Last“).
Zwei Beispielswochen aus dem Jahr 2022, eine Mitte Januar und eine Ende Juni, zeigen deutlich, dass Erdgas auf dem Strommarkt im Wesentlichen die Funktion hat, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. Wenn morgens mehr Strom gebraucht wird, wie zum Beispiel am Morgen des 22. Januar, dann lassen sich Gaskraftwerke innerhalb kurzer Zeit von 8, 3 Gigawatt Leistung um 5:45 Uhr auf 16, 5 Gigawatt um 8:45 Uhr hochregeln.
Am 26.6. fangen die Gasmeiler ab mittags die nachlassende Produktion der Solarparks und -module auf: Um 13:15 Uhr sind 4, 2 Gigawatt Gas-Strom im Netz, um 19:30 Uhr schon 11, 6 Gigawatt.
In beiden Fällen werden also etwa acht Gigawatt innerhalb von wenigen Stunden aktiviert; oft geht es wie im zweiten Beispiel darum, das variable Leistungsangebot und die Energielieferung der erneuerbaren Energiequellen auszugleichen. Keine andere Kraftwerkstechnik kann diese Aufgabe übernehmen: In den Diagrammen schwankt zwar auch das dunkelbraune Band der Steinkohle, jedoch in kleinerem Ausmaß und mit geringeren Steigerungsraten.
Allerdings gibt es in beiden Wochen auch keinen Moment, an dem kein Strom aus Gas im Netz ist, in dem kein Gasmeiler Leistung bereitstellt. Es ist immer mindestens ein Sockel von vier bis fünf Gigawatt vorhanden. Rechnerisch wäre es oft möglich, diesen zu kappen; ideal wäre es, unter dem Gesichtspunkt des Einsparens, dass Gas überhaupt nur dann zum Einsatz käme, wenn es gar nicht mehr anders geht. Technisch ist das aber deutlich schwieriger als in der Theorie, und wirtschaftlich zu betreiben dürften die meisten Anlagen auch nicht sein, wenn sie ständig von jetzt auf gleich angeschaltet oder komplett abgeschaltet werden. Hinzu kommt, dass ja an viele Gaskraftwerke aller Größenordnungen Wärmenetze angeschlossen sind, deren Bedarf unabhängig von den Schwankungen auf dem Strommarkt ist.
Aber um das Potential zu verdeutlichen: Falls sich der Sockel der Gasleistung um zwei Gigawatt reduzieren ließe, dann könnte der gesamte Gasverbrauch um vier Prozent sinken.
Allerdings müsste der fehlende Strom dann woanders herkommen, und dafür kommen kurzfristig nur Kohlekraftwerke in Frage. Zudem steht zum Jahresende 2022 das Abschalten der verbleibenden Atomreaktoren an, dann vergrößert sich die gedachte Lücke von zwei Gigawatt um ganz reale 3, 5 bis 4 Gigawatt.
6. Frage: Wo kommt der zusätzliche Strom her, wenn die AKWs vom Netz gehen?
Ohne den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hätte die Antwort natürlich gelautet: aus Gaskraftwerken und den unter der Ampel-Regierung beschleunigt ausgebauten und auszubauenden erneuerbaren Energiequellen. Auch deswegen rufen Experten dazu auf, alle möglichen Hindernisse für Windräder und Solarparks schnellstmöglich zu beseitigen; daneben würden insbesondere Speicher gebraucht, weil sie im Zweifel noch schneller als Gaskraftwerke den Bedarf ausregeln könnten.
Falls indes Gas allein die Aufgabe hätte erfüllen müssen, die drei Kernreaktoren zu ersetzen, dann würden ungefähr 66 Terawattstunden mehr davon verbrannt; der deutsche Verbrauch wäre um etwa sieben bis acht Prozent gewachsen. Aber diese Antwort steht hier selbstverständlich im Konjunktiv, zunehmen kann die eingesetzte Erdgas-Menge zurzeit nicht mehr. Außerdem können andere Kraftwerke einspringen, so dass die naive Rechnung keine Basis in der Realität hat (siehe dazu auch Punkt 7.)
Robert Habeck und die Ampelkoalition haben stattdessen beschlossen, mehr Kohlekraft ins Netz einzuspeisen und Meiler aus der Reserve in die aktive Produktion zurückzuholen. Das „Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz“ ist bis März 2024 befristet, gilt also im Besonderen für die beiden kritischen Winter 2022/23 und 2023/24. Auch wenn der Minister die Entscheidung mit dem Sparen von Gas auf dem heutigen Stand begründet, werden die zusätzlichen bis zu zehn Gigawatt ab Januar kommenden Jahres auch die abzuschaltenden Kernreaktoren ersetzen.
Dieses Dilemma, den Kohleausstieg zu wollen und Kohlekraftwerke wieder einzuschalten, belastet Habeck als Grünen und das ganze Land, denn damit steigt absehbar auch der Ausstoß von Kohlendioxid. Allerdings unterliegt die Stromproduktion weiterhin dem europäischen Emissionshandel mit seiner Obergrenze, so dass die begrenzte Anzahl Zertifikate schneller aufgebraucht wird – falls zusätzlicher politischer Druck nicht auch hier zu einer Aufweichung führt. Eigentlich müssten auch die Ausgleichsforderungen der Konzerne im Rahmen des Kohleausstiegs sinken, wenn sie in den kommenden Jahren zusätzlichen Strom zu steigenden Preisen verkaufen können.
7. Frage: Und wenn man die Atomreaktoren weiter laufen lässt?
Die andere Alternative wäre, die Kernkraftwerke zumindest für einen Winter durch sich selbst zu ersetzen. Das könnte technisch möglich sein, wie ein TÜV zum Beispiel beim Reaktor Isar-2 zeigte; allerdings hatten sich die zuständigen Ministerien der Bundesregierung schon im März dagegen ausgesprochen. Der Vorteil wäre, dass die Meiler im Weiterbetrieb kaum CO2 ausstoßen (es stammt bei einer fertigen Nuklearanlage ohnehin praktisch nur aus Hilfsdiensten wie Lastwagentransporten). Der Nachteil ist – neben rechtlichen Problemen und Sicherheitsbedenken –, dass die Reaktoren noch schlechter die Schwankungen im Stromnetz ausgleichen können als Kohlekraftwerke. Sie dürften also kaum dazu beitragen, Gas einzusparen, sondern sorgen höchstens dafür, dass der Bedarf daran nicht steigt, wenn sie vom Netz gehen. Außerdem müsste dafür womöglich ihre Leistung bis zum Winter reduziert werden, damit dann noch genug Energie aus den radioaktiven Kernen gezogen werden kann. Es entstünde also womöglich schon vor dem Jahreswechsel Mangel auf dem Strommarkt.
Manchen Expert:innen geht es indes längst nicht mehr um ein paar Monate Verlängerung. Bekannte Ökonom:innen plädieren bereits für eine „Perspektive von fünf Jahren“, damit es sich lohne, AKWs wieder hoch zu fahren. Längere Atomlaufzeiten könnten einen „wichtigen Beitrag“ leisten, die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu verringern, sagte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm von der Universität Erlangen-Nürnberg dem Handelsblatt.
Die Reaktoren länger als bis zum (späten) Frühjahr 2023 zu betreiben, wäre jedoch nur mit neu zu bestellenden frischen Brennstäben technisch möglich. Die Meinungen, wie lang die Lieferfrist dafür ist, gehen etwas auseinander: Es könnte ein Jahr, aber auch bis zu zwei Jahre dauern. Nur im ersteren Fall und nur dann, wenn man die Elemente praktisch sofort bestellt, könnten sie rechtzeitig ankommen. Die Fabriken dafür stehen in westlichen Ländern, auf Uran aus Russland könnten sie als Rohstoff verzichten.
Stefan Büttner von der Universität Stuttgart hält das für eine brauchbare Lösung: „Die krisenbedingte Verlängerung der Atomkraftwerke scheint fürs Klima und die Energiesicherheit die bessere Lösung [als Kohlemeiler] zu sein.“ Die Lagerdauer von Atommüll würde dadurch kaum beeinflusst, und auch die Kosten wären gering: „Anders als bei neuen Atomkraftwerken wäre das kein Milliardengrab, sondern es geht nur um ein paar Brennelemente.“
Anderen Experten zufolge ändert ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke nur sehr wenig am künftigen Gasbedarf. Der Verbrauch im Jahr 2023 wäre nur um ein Prozent geringer als mit abgeschalteten Reaktoren, zeigt die zu Anfang erwähnte Berechnung der Beratungsfirma Energy Brainpool. Anders als in der naiven Rechnung oben geht es eben nicht um 66 Terawattstunden Gas, wenn die Kernkraftwerke vom Netz gehen, sondern nur knapp neun TWh. Das liegt an den erwähnten Gründen: Atomstrom ist weder geeignet, bei Spitzenlast schnell den Ausgleich zwischen Nachfrage und Angebot herzustellen, noch können Reaktoren Gaskraftwerke ersetzen, deren Betrieb vor allem dem Wärmebedarf angeschossener Netze, Stadtviertel oder Häuser folgt.
Fazit: Auf die Wärme kommt es an
Beim Einsparen von Erdgas geht es also vor allem darum, beim Erzeugen von Wärme weniger Energie – oder andere Formen davon – zu verbrauchen. Auf dem Strommarkt ist das Potential für eine Reduktion geringer, weil Gas einerseits Angebot und Nachfrage zusammenbringt, andererseits oft zur Erzeugung von Wärme genutzt wird. Das macht die Verhältnisse bei der Elektrizität komplex und letztlich auch störanfällig. Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Schäden angerichtet werden, wenn Deutschland beim Versuch, weniger Erdgas in Gaskraftwerken zu verbrennen, die Stabilität seines Stromnetzes riskiert und einen Blackout auslöst. ◀
Hinweis: Der Artikel wurde ursprünglich am 13. Juli 2022 veröffentlicht und ist am 19. Juli 2022 vor allem im ersten Textabschnitt mit aktuellen Entwicklungen ergänzt worden.