Im Auge der Krähe: Ein Kinofilm wirbt um mehr Verständnis für Rabenvögel

Nicht nur wir beobachten die Rabenvögel. Auch sie beobachten uns – und zwar seit Jahrtausenden. Damit hätten sich die klugen Vögel ein kollektives Wissen über die Menschheit angeeignet, meint der Journalist Martin Schilt in seinem Dokumentarfilm „Krähen“. Belegen kann er diese These nur teilweise. Dennoch ist ihm ein sehenswerter Kinofilm gelungen.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
7 Minuten
Eine Nebelkrähe sitzt in der Nacht auf dem Riesenrad im Wiener Prater.

Es lohnt sich, auf seine Kinder zu hören. Vor rund zehn Jahren feierte der Schweizer Martin Schilt gerade die Premiere seines neusten Dokumentarfilms über eine Jodler-Gruppe, die die Hitparaden stürmte. Doch er wusste nicht, welches Projekt er als nächstes anpacken sollte. Sein Vogel-begeisterter Sohn hatte eine Idee: „Mach doch einen Film über Krähen!“

Anders als sein Sohn hatte Martin Schilt damals keine grosse Ahnung von Vögeln. Auch für Krähen hatte er sich nie besonders interessiert. Doch nach den ersten Recherchen begannen ihn die klugen Rabenvögel, zu denen die Krähen gehören, zu faszinieren. Es folgten sieben Jahre Dreharbeiten rund um den Globus.

Derzeit läuft sein Film „Krähen – Nature is watching us“ in Schweizer Kinos. Demnächst soll der 90-minütige Dokumentarfilm auch in österreichischen und im kommenden Jahr in deutschen Kinosälen zu sehen sein.

Mit Attrappe an die Kamera gewöhnen

Der Untertitel „Nature is watching us“ verrät die Grundidee des Films: Nicht nur wir Menschen beobachten die Krähen, die Krähen beobachten auch uns. Wer nun annimmt, dass dies die Dreharbeiten einfacher gemacht hat, liegt allerdings falsch. Denn die zwar neugierigen, aber auch äusserst vorsichtigen Rabenvögel, mögen es nicht besonders, wenn Filmleute mit dem Kameraobjektiv auf sie zielen, so die Erfahrung von Martin Schilt: Erste Aufnahmen hätten nicht Krähen bei ihrem natürlichen Verhalten gezeigt, sondern Krähen, die das Filmteam bei der Arbeit beobachteten.

Es bedurfte daher Geduld und Tricks, um die Vögel unverstellt vor die Linse zu bekommen. Damit die Filmemacher eine Nebelkrähenfamilie in ihrem Nest in Wien möglichst ungestört filmen konnten, stellten sie zunächst eine Kameraattrappe auf. So konnten sich die Vögel an den komischen Apparat gewöhnen und liessen sich dann nicht mehr von ihm ablenken.

„Schwarze Chronisten“

Für Martin Schilt sind die Rabenvögel mehr als aufmerksame Zeitgenossen. Da sie den Menschen seit Tausenden von Jahren begleiten, bezeichnet er sie als „unsere schwarzen Chronisten“.

In Cartoon-artigen Sequenzen zeichnet der Dokumentarfilm die gemeinsame Geschichte von Menschen und Rabenvögeln nach: von den Urzeiten, als die Raben den Jägern folgten, um etwas von deren Beute abzubekommen, über die Schlachtfelder, auf denen die Krähen an Leichen herumpicken, bis zur Street Parade in Zürich, an der jährlich Hundertausende von tanzfreudigen Menschen zusammenkommen und entsprechend Abfall liegen lassen, den die Krähen nach Fressbarem durchsuchen.

Wo Menschen sind, da sind auch Rabenvögel.

Doch Ähnliches gilt auch für andere Kulturfolger wie Mäuse oder Ratten, die von der Koexistenz profitieren. Den Unterschied sieht Martin Schilt in der Intelligenz der Rabenvögel. Dank ihrer kognitiven Fähigkeiten hätten sie gar ein „kollektives Wissen“ über die Menschen aufgebaut. Eine mutige These. Schilt versucht sie zu belegen, indem er führenden Rabenforschern über die Schulter schaut.

So besucht er etwa den amerikanischen Ornithologen John Marzluff und dessen Team an der University of Washington. Marzluff gelang es zu zeigen, dass Rabenvögel – in seinem Fall Amerikanerkrähen – menschliche Gesichter voneinander unterscheiden und sich noch Jahre später an diese erinnern können. Wer sich schlecht gegenüber einer Krähe verhält, indem er ihr zum Beispiel nachstellt, dessen Gesicht vergisst die Krähe nicht. Und sie gibt dieses überlebenswichtige Wissen an ihre Artgenossen weiter.

Nun wollen die Wissenschaftler dem Geheimnis der Rabenintelligenz noch weiter auf den Grund gehen, wofür sie den Vögeln direkt ins Gehirn schauen. Die Szenen einer Krähe, die narkotisiert in einen Computertomographen gesteckt wird, um ihre Hirnaktivitäten zu erforschen, gehören zu den eindrücklichsten des Films.

Nahes Verhältnis von Raben und Menschen

Auch der wissenschaftliche Ziehvater von Marzluff hat mehrere Filmauftritte. Bernd Heinrich hat in jahrelangen Beobachtungen das Sozialverhalten der Kolkraben erforscht. Auch im Alter von über 80 Jahren kann er von seinen Kolkraben nicht lassen. In beneidenswerter Fitness klettert er auf der Suche nach Rabennestern in den Wäldern Maines an der Ostküste der USA geschickt die Bäume hoch.

Und im Winter legt Heinrich Hirsche, die auf der Strasse totgefahren wurden, in den Schnee, um Kolkraben anzulocken. Raben verfügen zwar über eindrückliche Schnäbel. Doch sie vermögen damit nicht, die Haut eines Hirsches aufzureissen. Raben benötigen Helfer, die ihnen den Zugang zum Fleisch und den Innereien freilegen, seien es Menschen wie Heinrich, der mit einem Messer den Bauch des Kadavers aufschlitzt, oder Wölfe mit ihrem starken Gebiss.

Aus diesem Grund folgen die aasfressenden Rabenvögel den Menschen und Beutegreifern auf der Jagd. Manche meinen auch, dass die Rabenvögel die Jäger zu den Beutetieren führen würden – das wäre ein weiteres Zeichen der engen Beziehung zwischen Menschen und Rabenvögeln.

Auf dem Teller sind Raben tabu

Dieses spezielle Verhältnis ist in vielen Kulturen verankert. Rabenvögel wurden und werden verehrt als Symbole der Weisheit – aber auch gefürchtet als Vögel des Todes. Und Bernd Heinrich berichtet im Film noch etwas Aussergewöhnliches: Auf dem Speisezettel des Menschen stünden sehr viele Vogelarten, aber Rabenvögel kämen in der Regel nicht auf den Tisch: Sie seien tabu. Raben, so Heinrich, seien halt etwas Besonderes.

Dickschnabelkrähen suchen auf einer Strasse in Tokyo nach Fressbarem im Abfall.
NIcht zur Freude aller Stadtbewohner: Dickschnabelkrähen tun sich am Abfall auf den Strassen Tokyos gütlich.

Dieses Besondere zeigt Martin Schilt in seinem Film, dem die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich die Erzählstimme leiht, in teilweise poetischen Bildern (Kamera: Karen Vázquez Guadarrama und Attila Boa) sowie an vielen Beispielen. Seien es die intellektuellen Überflieger unter den Rabenvögeln, die Geradschnabelkrähen aus Neukaledonien, die aus Zweiglein und Blättern Werkzeuge herstellen, um in Baumlöchern nach fetten Larven zu fischen. Oder seien es Dickschnabelkrähen, die sich bestens an das Grossstadtleben in Tokyo angepasst haben und ihre Nester aus Drahtkleiderbügeln bauen, die sie von Wäscheleinen stibitzt haben.

Martin Schilt beobachtet die Rabenvögel in verschiedensten Ländern und Umgebungen. Das führt die Allgegenwart dieser Vögel, die viele nur dann wahrnehmen, wenn sie Lärm machen oder mit ihrem Kot Autos verschmutzen, deutlich vor Augen.

Doch weniger wäre mehr gewesen. Die vielen Schauplätze gehen teilweise zulasten der Vertiefung, manches wird nur oberflächlich angetippt, wie etwa im Fall der riesigen Mülldeponien bei Delhi, über denen nicht nur Krähen, sondern noch viel mehr Schwarzmilane kreisen. Oder wenn der „Ravenmaster“ des Tower of London für ein kurzes Interview vor die Kamera tritt. Der Herr der Kolkraben muss dafür sorgen, dass immer mindestens sechs Raben im Tower verbleiben, sonst geht gemäss einer Legende das britische Königreich unter. Beides, die Müllverwertung durch Rabenvögel in Indien, als auch die Tradition der Rabenhaltung in London, hätte mehr Platz verdient.

Krähe im Raumschiff

Und wie steht es mit der These, dass die Krähen über ein kollektives Wissen über den Menschen verfügten? Nun, belegen kann der Film sie nicht. Wir werden wohl nie erfahren, was genau die Krähen wissen, geschweige denn was sie von uns denken.

Da muss uns die eigene Fantasie weiterhelfen. Der Film endet mit einer Zeichentrick-Sequenz. Sie zeigt eine Krähe in einem Raumfahrzeug über der Erde schwebend. Und das Publikum wird mit einer Frage entlassen: Werden uns die Krähen überleben? Die Antwort steht aus. Sicher aber ist, dass die Rabenvögel hier auf Erden bereits jetzt mehr Aufmerksamkeit verdient haben – weshalb man dem Film zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer wünscht.

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