Ein Foto aus Papua, KI und Schwarmwissen: So wurde der verschollene Prinzenhabicht wiederentdeckt
In Papua-Neuguinea fliegt dem deutschen Fotografen Tom Vierus ein ihm unbekannter Vogel vor die Linse. Die internationale Orni-Szene feiert seinen Schnappschuss als Sensation, das Bild geht um die Welt. Im exklusiven Interview erzählt er, wie es dazu kam.
Bis 45 Zentimeter groß, graues Federkleid, leuchtendes Orange um Schnabel und Augen: So lautet der Steckbrief des Prinzenhabichts – Keango oder Kulingapa heißt er in den lokalen Sprachen. 1936 hatte der deutsche Evolutionsbiologe und Naturforscher Ernst Mayr den stolzen Greifvogel nach einer Reise durch Papua-Neuguinea erstmals beschrieben. Seither machte er sich rar. Ein paar Mal wurde er auf der Insel offiziell identifiziert, doch außer einem Balg, der 1969 im American Museum of Natural History in New York landete, existierten keine weiteren wissenschaftlich validen Foto-, Ton- oder physischen Belege. Tachyspiza princeps, so sein lateinischer Name (früher: Accipiter princeps), galt als „verschollen“ – bis der deutsche Fotograf Tom Vierus den Vogel jetzt fotografierte.
RiffReporter: Tom, du warst im März 2024 mit dem WWF auf einer Expedition in New Britain, der größten Insel des Bismarck-Archipels von Papua-Neuguinea. Was habt ihr da gemacht?
Tom Vierus: Das Pazifik-Team des WWF wollte im Distrikt Pomio mit Einheimischen beraten, wie es dort Naturschutzprojekte unterstützen kann. Dafür traf es lokale Umweltschützerïnnen, Lokalpolitikerïnnen, Farmerïnnen etc., und mein Job war es, die Expedition mit der Kamera zu dokumentieren. Aber als Wildlife-Fotograf halte ich natürlich auch immer Ausschau nach Tieren. Erst recht in Papua-Neuguinea, einem der unberührtesten, artenreichsten Länder der Welt.
Pomio liegt so ziemlich am gegenüberliegenden Ende der Erdkugel. Wie kommt man da hin? Und wie sieht es aus?
Ich lebe auf Fidschi, für mich ist die Hauptinsel Papua-Neuguineas nicht so weit weg, aber Pomio schon. Man kommt dort nur per Boot hin, wir fuhren acht Stunden übers offene Meer, bis die Vulkankegel der Insel New Britain vor uns aufragten. Wir besuchten mehrere Küstendörfer und wurden dann vom lokalen Krankenwagen abgeholt – dem einzigen Auto in der Gegend. Das war ein uralter Range Rover, in den wir uns zu zehnt reinquetschten, um quer durch den Regenwald in die Nakanai Mountains zu fahren. Am Ende der Piste erreichten wir ein Bergdorf. Über den Feldern und Kaffeeplantagen hing noch der Morgennebel, aus den Hütten rauchten Holzfeuer. Ich fand die Szenerie unfassbar schön. Geradezu mystisch.
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Morgennebel in den Baumkronen der Nakanai Mountains, der Heimat des Prinzenhabichts. Hier heißt der Vogel Keango oder Kulingapa.
Um die Insel New Britain im Bismarck-Archipel zu erreichen, fährt man acht Stunden von der Hauptinsel Papua-Neuguineas übers offene Meer.
Gärten, Felder, Kaffeeplantagen: Im Regenwald rund um die Dörfer im Distrikt Pomio betreiben die Familien Subsistenzlandwirtschaft…
… und können das ganze Jahr über ernten.
Gespräche über Naturschutzprojekte: WWF-Officer Ken Mondiai berät mit Einheimischen über besonders wertvolle Gebiete.
Frauen sind die traditionellen Hüterinnen des Landes. Sie treffen die zentralen Entscheidungen, die Gemeinschaften Pomios sind matrilinear organisiert.
Wie habt ihr euch verständigt?
Insgesamt leben in Pomio rund 500.000 Menschen, die sich in mehrere indigene Gruppen mit über 70 Sprachen aufteilen, aber meist auch Pidgin-Englisch sprechen, einen Mix aus Englisch und lokalen Sprachen.
Und wie leben die Menschen?
Das Dorf, dessen Namen ich bewusst nicht nenne, hat ein paar Hundert Bewohner. Sie wohnen noch in traditionellen Rundhütten, wie sie selbst in Papua-Neuguinea inzwischen selten sind. Kein fließend Wasser, kein Strom, kein Handynetz, aber dank Solarpanels auf den Dächern haben einige Licht. Die Familien betreiben Brandrodungs-Wanderfeldbau, in der fruchtbaren Vulkanerde gedeiht alles: Bohnen, Salat, Maniok zum Beispiel. Es gibt eine Schule für die Kinder und größere Hütten oder überdachte Plätze, in denen man sich abends am Lagerfeuer trifft, diskutiert oder Geschichten erzählt. Durch die westliche Brille könnte man sagen, die Leute leben in Armut. Ich sage lieber, ihr Leben ist sehr ursprünglich und eng verbunden mit der umgebenden Natur.
Wie kam es zu deiner Begegnung mit dem Prinzenhabicht?
Während das WWF-Team Gespräche führte, bat ich drei Jäger, mir den umliegenden Regenwald zu zeigen. Wir trafen uns bei Sonnenaufgang, und es ging gleich gut los: Auf einem schmalen Baumstamm mussten wir über einen Fluss balancieren! Aus Sorge um mein Equipment habe ich meine Kamera lieber an meine trittsicheren Begleiter abgegeben und erst am Ufer wieder übernommen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihnen verständlich machen konnte, dass ich nicht Tiere jagen will, sondern fotografieren. Das ergab für sie wenig Sinn, ich war der erste „Tourist“, den sie kennenlernten. Doch dann zeigten sie mir alles, was sie kannten: Insekten, Schlangen, Tauben, Papageien…
… und den Prinzenhabicht?!
Nein, der saß superweit weg in einem Baum. Ich sah ihn zufällig durch mein 800-Millimeter-Objektiv und hab nur schnell auf den Auslöser gedrückt. Das war wirklich nicht aufregend (lacht), ich hatte keine Ahnung, was das für ein Vogel ist. Ich bin einfach ein großer Birder-Enthusiast und fotografiere immer alle Vögel, die ich sehe, auch wenn’s kein gutes Foto wird, um die Art später zu bestimmen. Leider hatte ich insgesamt nur wenige Stunden Zeit, richtig tief konnten wir gar nicht in den Wald rein. Ein paar Tiere konnte ich dennoch fotografieren.
Treffpunkt Regenwald: Der Schnabel des Papua-Einhornvogels ist auf der Oberseite stark geriffelt.
Neuguinea-Edelpapagei: Sein Name erklärt sich mit dem bunt schimmernden Gefieder.
Elfenbein-Fruchttauben beim Turteln: eine weitere endemische Art im Bismarck-Archipel.
Der Bismarck-Maina gehört zu den Staren. Er kommt nur in Teilen Papua-Neuguineas sowie auf den Salomonen vor.
Heuschrecke auf pinkfarbenen Blumen: Auch die Insektenwelt Papua-Neuguineas bietet eine große Artenvielfalt, die wissenschaftlich kaum dokumentiert ist.
Die Braune Nachtbaumnatter entdeckte Fotograf Tom Vierus nicht im Regenwald, sondern im Toilettenhäuschen.
Wie ging es dann weiter?
Zurück zu Hause habe ich die Fotos der Vögel, die ich nicht kenne, bei „iNaturalist“ hochgeladen.
Was ist iNaturalist?
Eine Citizen-Science-Website zur Erforschung der Biodiversität, die auf Schwarmwissen gründet: Jeder kann dort Fotos hochladen mit Angaben zum Fundort, und jeder kann sie sich anschauen und beim Bestimmen helfen. Außerdem werden die Bilder geteilt mit wissenschaftlichen Datensammlungen wie der Global Biodiversity Information Facility. Neuerdings kommt auch KI zum Einsatz. Die schlug vor, dass „mein Vogel“ ein Prinzenhabicht sei, New Britain Goshawk auf Englisch. Ein Birder namens Mathieu bestätigte den Artnamen kurz darauf – mir sagte der damals nichts, ich las nur, dass die IUCN ihn als „gefährdet“ einstuft, aber sehr wenig Datenmaterial über ihn existiert.
Bis sich im Juni ein weiterer Vogelexperte auf iNaturalist meldete…
„Tom, ist das wahr?“, schrieb er. „Der Vogel gilt als verschollen!“ Dazu taggte er die Organisation „searchforlostbirds.org“. Dahinter steckt ein Projekt der Vogelschutzorganisationen BirdLife International, Re:Wild und American Bird Conservancy, das weltweit nach „verlorenen Vögeln“ sucht, nach Arten, von denen es schon lange kein wissenschaftlich valides Lebenszeichen mehr gibt.
140 Vögel stehen auf der Fahndungsliste von „Lost Birds“
Als verschollen definiert „Search for lost birds“ Arten, „die seit über zehn Jahren in freier Wildbahn nicht mehr durch fotografische, akustische oder genetische Informationen bestätigt wurden und keine Ex-situ-Population in menschlicher Obhut haben“. Kann das auch bedeuten, dass er für Einheimische nicht als verloren gilt?
Absolut. Es geht vielmehr um wissenschaftliche Lücken. 140 Vögel stehen auf der „Fahndungsliste“, darunter der Prinzenhabicht. Mein Fund wurde von dem renommierten Ornithologen John Mittermeier, dem Gründer der Organisation, genau untersucht. Zum Beispiel befragte er den WWF-Officer aus Pomio und der wiederum Leute aus den Nakanai Mountains zu dem Vogel, der dort Keango oder Kulingapa heißt. Sie bestätigten, dass er superselten sei. Im September verkündete „Search for lost birds“ offiziell, mein Bild sei die erste belegte Entdeckung der Art seit 55 Jahren – und das einzige Foto des Prinzenhabichts überhaupt. Ich wünschte nur, es wäre etwas besser…
Ach, um die Welt ging es auch so!
Ja, darüber habe ich mich sehr gefreut – und bestenfalls kriege ich auch noch mal ein richtig gutes hin. Der WWF veröffentlichte die „Prinzenhabicht News“ weltweit mit dem Ziel, Aufmerksamkeit auf die Naturschätze Pomios zu legen. Und die mediale Resonanz ist riesig – schon über 500 Millionen Menschen haben das Foto im Internet gesehen! Wenn ich damit dazu beitragen kann, dass es den örtlichen Gemeinden gelingt, mithilfe des WWF ihre Natur zu schützen, macht mich das persönlich sehr stolz. Genau darum geht es mir bei meiner Arbeit als Naturschutz-Fotograf und Filmemacher.
In Pomios Regenwald läuft es wie im Rest der Welt: Erst kommt die Straße, dann fallen rechts und links die Bäume….
… und wo früher reiche Wildnis wuchs, entstehen Palmöl-Plantagen, so weit das Auge reicht.
Diese Ölmühle in Pomio wird vom malaysischen Konzern Gilford betrieben, umgeben von rund 60.000 Hektar Plantagen.
Doch vielerorts kann die Natur noch geschützt werden. Dieser Fluss fließt unterirdisch aus einem Karstmassiv ins Meer.
Gelingt es denn?
Die Menschen in Pomio haben ihre Natur bis heute sehr gut bewahrt. Sie ist dort nicht nur Lebens- und Wirtschaftsraum, sondern auch eine spirituelle Quelle. Aber es existieren nur sehr wenige wissenschaftliche Studien zur biologischen Vielfalt. Dank des Prinzenhabichts konnten wir zeigen, wie hoch das Potenzial zur Entdeckung rarer und auch neuer Arten ist – nicht nur unter Vögeln.
Also alles bestens?
Leider nein. Die Menschen brauchen ein Einkommen, der Druck wächst: Auch hier werden neuerdings Straßen gebaut, Wälder gerodet, Palmölplantagen angelegt – gleichzeitig fließt viel Geld in Schutzprojekte, nicht nur vom WWF, und die Regierung von Papua-Neuguinea hat die Nakanai Mountains als Unesco-Weltnaturerbestätte beworben. Ich glaube, die nächsten Jahre werden entscheiden, ob das Gleichgewicht zwischen Entwicklung und Schutz gehalten werden kann – oder nicht.
Letzte Frage: Vor Reisen nach Papua-Neuguinea wird ja aufgrund der Sicherheitslage immer wieder gewarnt. Wie seid ihr damit umgegangen?
Papua-Neuguinea kämpft mit einigen Problemen, darunter große Armut und Korruption rund um die vielen wertvollen Rohstoffe, an denen internationale Konzerne interessiert sind. Doch die Kriminalität konzentriert sich meist auf die Städte, insbesondere auf die Hauptstadt Port Moresby. Reisende verbringen dort in der Regel so wenig Zeit wie möglich, denn das restliche Land ist riesig und im Kontrast dazu vielfältig, meist friedlich und bietet eben diese wunderbare Natur und Artenvielfalt. Wir hatten auf Teilstrecken des Trips bewaffnete Begleiter dabei – allerdings nicht in Pomio. Dort waren die Menschen freundlich und hießen uns überall willkommen.
Danke für das Interview, Tom.