Weiter als der Minister
Bürger handeln bei der Wahl der Verkehrsmittel pragmatisch und zeigen sich offen für Neues
„Gegen jeden Menschenverstand“ – mit diesen Worten schmetterte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) viele Vorschläge für eine Verkehrswende ab. Umfragen und Studien zeigen jedoch, dass die Bürger bei der Wahl der Verkehrsmittel pragmatisch handeln und sich für Neues offen zeigen.
Die so genannte „Verkehrskommission“ ist in einem ersten Anlauf gescheitert. Die in ihrem Zwischenbericht festgehaltenen Vorschläge genügen Kritikern zufolge nicht, um die von der Regierung schon beschlossene Reduktion von 40 bis 42 Prozent CO2 im Verkehrssektor bis 2030 zu erreichen. Laut „Klimareporter“ fehlen noch immer zwischen 16 und 26 Millionen Tonnen CO2.
Die 20-köpfige Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Unternehmen, Gewerkschaften, Wissenschaft, Industrie- und Umweltverbänden sollte Vorschläge für die Reduktion des CO2-Ausstoßes erarbeiten. Bei dem Ergebnis soll es sich nach Berichten von Teilnehmern um einen Minimalkonsens handeln. Gegenüber Euractiv berichtete NABU-Verkehrsexperte Daniel Rieger, dass man sich auf etwa zwei Drittel der diskutierten Maßnahmen einigen konnte.
Status Quo hätte genügt
Das Verkehrsministerium hatte offenbar noch weniger erwartet. Gegenüber der Kommission hätten Mitarbeiter signalisiert, so erzählte Rieger, dass eine reine Feststellung des Status Quo für den Zwischenbericht genüge. CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hatte sich überdies immer wieder mit öffentlichen Äußerungen eingeschaltet. Ein Tempolimit bezeichnete er als „gegen jeden Menschenverstand“. Vorschläge, „die Zorn, Verärgerung, Belastungen auslösen oder unseren Wohlstand gefährden“, lehne er ab.
Rieger hält die vorgeschlagenen Investitionen von immerhin 160 bis 250 Milliarden Euro für „Wohlfühlmaßnahmen“. Unter anderem sollen die Bahnpreise durch eine Reduzierung der Mehrwertsteuer günstiger werden und Radwege ausgebaut werden. Eine verbindliche Quote für E-Autos oder ein Tempolimit hingegen waren außer Reichweite. Die in der Kommission anwesenden Vertreter der Automobilindustrie plädierten nämlich hier für ein „weiter so“ – höchstens über synthetisches Benzin („E-Fuels“) als Ersatzkraftstoff wollten sie mit sich reden lassen. Die Einführung einer CO2-Abgabe war ebenfalls kein Thema. Genausowenig wurde der nationale Flugverkehr thematisiert.
Bevölkerung ist „viel weiter“
Für Lars Grotewold, Leiter des Bereichs Klimawandel der Stiftung Mercator, ist der Minimalkompromiss eine „vertane Chance“: Das Ergebnis verdeutliche die großen Beharrungskräfte in der deutschen Verkehrspolitik. Und „zugleich sind die Bevölkerung und viele Unternehmen viel weiter“. Grotewold: „Die Mobilitätsrevolution passiert vor unseren Augen und ist nicht aufzuhalten.“
Das hat das Bundesverkehrsministerium seit vergangenem Jahr sogar schriftlich vorliegen: Die weltweit größte empirische Untersuchung zur privaten Mobilität zeigte unter dem Titel „Mobilität in Deutschland“ (MiD), dass sich die Alltagsmobilität verändert – und zwar nicht zu Gunsten des Autos: Über das Jahr 2017 verteilt berichteten Personen aus insgesamt mehr als 150 000 Haushalten über ihre Mobilität. Dabei konnten die Forscher die Ergebnisse mit einer Vorgängererhebung von 2008 vergleichen.
Demnach bleibt zwar das Auto bundesweit mit drei Viertel der Personenkilometer das dominierende Verkehrsmittel. Genutzt wird es vor allem von der älteren Bevölkerung. Doch bei den Jüngeren und in den Städten stehen die Vorzeichen umgekehrt: Ihre Mobilitätsquoten sinken, und Onlinehandel und Homeoffice nehmen an Bedeutung zu.
In der Kilometerbilanz gewinnt vor allem der öffentliche Verkehr mit Bussen und Bahnen: Sein Anteil stieg von 15 Prozent im Jahr 2008 auf 19 Prozent im Jahr 2018. In der Wegebilanz stieg sein Anteil auf 10 Prozent, das Fahrradfahren legte bundesweit auf 11 Prozent zu. Das Auto wird bundesweit für 57 Prozent der Wege genutzt.
Der ÖVPN spielt in den Städten noch eine größere Rolle: Mehr als 20 Prozent der Wege werden dort mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt. Das Fahrrad hat einen Anteil von 15 Prozent. 14 Prozent aller Haushalte haben sich bereits für mindestens ein Carsharing-Angebot angemeldet. Während in den großen Städten 40 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, sind es in den Kleinstädten und Dörfern der ländlichen Regionen 70 Prozent.
Flexible Mobilität
Mit einem Fokus auf Großstädte befragte auch der Verkehrs-Club Deutschland 2016 für die Studie »Multimodal unterwegs in Deutschlands Städten« 1000 Personen nach ihrem Verkehrsverhalten. Demnach kombiniert jeder Vierte häufig mehrere Verkehrsmittel auf einem Weg. Dabei handelt es sich vor allem um diejenigen, die das öffentliche Verkehrsangebot häufig frequentieren sowie um junge Erwachsene. 84 Prozent nutzen hierfür Webseiten und 46 Prozent Navigations-Apps, um eine passende Route zum Ziel zu finden. Ausschlaggebend für die Wahl der Verkehrsmittel sind gute Erreichbarkeit der Ziele (84 %), hohe Flexibilität (74 %) und die Zuverlässigkeit des Verkehrsangebotes (73%). Zu den „weichen Faktoren“ zählen Sicherheit (40 %), die Privatsphäre (30 %) oder die eigene Tagesform (22 %).
Dass die Menschen sich flexibel in der Wahl ihres Verkehrsmittels zeigen, stellte eine Studie der „Allianz pro Schiene“ und des Verkehrs-Clubs Österreich bereits 2011 fest. Befragt wurden in einer ersten Phase jeweils 1000 Personen in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Kroatien, Österreich und Ungarn. Die zweite Phase umfasste Befragungen mit jeweils 400 Wechselnutzern in zehn ausgewählten Regionen und Nahverkehrsverbünden.
Nur in den Niederlanden war die monomodale Nutzung (mit 43 %) am beliebtesten, bedingt vor allem durch einen hohen Anteil der Radfahrer. In allen anderern befragten Ländern war die multimodale Nutzung von Verkehrsmitteln (mit 70 %) deutlich weiter verbreitet als die monomodale Nutzung (mit 30 %). Knapp die Hälfte der Befragten änderte im Zeitraum von fünf Jahren die Wahl des bevorzugten Transportmittels, etwa weil sie den Wohnort oder den Arbeitsplatz wechselten. Aber auch die Erreichbarkeit der Ziele, Kosten und Fahrtdauer spielten für den Wandel im Verhalten eine Rolle.
„In die Zukunft einsteigen …“
Interessanterweise war die Atmosphäre in den Bussen und Bahnen für 27 Prozent der Befragten der ausschlaggebende Entscheidungsfaktor. Das Paradebeispiel dafür, welche Bedeutung dieser Faktor hat, ist die Wiedereinführung der Straßenbahn in Straßburg im Jahr 1994. Die Stadt unter der Führung von Catherine Trautmann entschied sich für das damals modernste Design. Ihr wird der Spruch nachgesagt, dass „wenn die Leute in die Straßenbahn einsteigen, sie das Gefühl haben müssen, dass sie in die Zukunft einsteigen.“
Internationale Künstler und Architekten, darunter Zaha Hadid, erhielten öffentliche Aufträge, Stationen und Strecken zu gestalten. Das Projekt wurde als Möglichkeit gesehen, die Stadt umfassend neu zu gestalten. Seit 1994 wurde das Streckennetz ständig ausgebaut, 2016 vorläufig abgeschlossen. Die letzte kleine Erweiterung fand 2018 statt. Die Fahrgastzahlen lagen 2003 mit 108 000 Passagieren täglich deutlich über den Planungsannahmen von 80 000. Zwei Drittel der im Stadtzentrum Beschäftigten nutzen für ihren Weg zur Arbeit die Straßenbahn.
Doch nicht nur das Mobilitätsverhalten wird flexibler. Das Thema der künftigen Mobilität wird inzwischen auch von gesellschaftlichen Kreisen behandelt, die im Grunde branchenfremd sind. So hat die Evangelische Kirche die „Petition Tempolimit“ gestartet. Sie läuft noch zwei Tage – und hat bereits rund 50 000 Unterzeichner gefunden. Für Lars Grotewold von der Stiftung Mercator lässt sich „Veränderung auch daran ablesen, dass sich neue Akteure um Fragen der zukünftigen Mobilität Gedanken machen.“