Sympathisch und beliebt – das Rotkehlchen ist „Vogel des Jahres“
Eine unserer häufigsten Arten gewinnt die erste öffentliche Wahl zum Jahresvogel. Eine gute Entscheidung
Während ich über seine Wahl schreibe, hüpft der Sieger der Abstimmung vor meiner Nase herum. Es geht um die Wahl zum „Vogel des Jahres“, deren Ergebnis am Freitag bekanntgegeben wurde.
Nicht, dass das Rotkehlchen sich groß darum scheren würde, zum zweiten Mal Deutschlands „Vogel des Jahres“ zu sein und deshalb vor meinem Fenster aufkreuzt. Es ist einfach immer da. Selbst, wenn gerade nicht viel los ist an der Futterstelle. Allerdings immer nur für wenige Sekunden. Belagern Stare, Stieglitze und Haussperlinge den Futterplatz oft regelrecht, so schnappt das Rotkehlchen sich blitzschnell einen Bissen und taucht sofort wieder ab – nur, um ein paar Sekunden später ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen: Der Vogel des Jahres 2021 hat es oft eilig.
Oder doch nicht?
Denn manchmal hockt der eben noch so agile Flitzer für gefühlte Ewigkeiten im Halbdunkel unter einem Busch. Aufgeplustert zu einem dicklich-runden Ballon wirkt er in diesem Moment irgendwie eingeschnappt. Seine in der Sonne apfelsinen-orange leuchtende Brust nimmt sich dann im Schatten so blass aus wie eine Aquarellzeichnung, die zu viel Wasser abbekommen hat.
Auch sonst ist der Vogel des Jahres bemerkenswert uneindeutig. Sein gelegentlich sehr robustes Auftreten selbst gegenüber viel größeren gefiederten Konkurrenten steht in eigentümlichem Kontrast zu seinem verhaltenen, ja schüchternen Gesang, den er schon seit einigen Wochen bereits sehr früh morgens vorträgt. Sein scharfer Ruf dagegen passt wiederum besser zum Stänkerer am Futterplatz als zum weihnachtlichen Postkartenmotiv, als das sich das Rotkehlchen einen Platz in vielen Wohnungen erobert hat.
Schon am Namen des Rotkehlchens stimmt nichts so richtig
Mal furchtlos, mal scheu; mal melodisch, mal metallisch-scharf; mal flink, mal plump: So richtig schlau werde ich aus dem Vogel des Jahres nicht.
Das scheint nicht nur mir so zu gehen. Schon sein Name ist ein großes Missverständnis. Weder ist sie rot, noch beschränkt sich die Färbung des Rotkehlchens auf seine Kehle, sondern umfasst das Gesicht und die Brust. Orangebrüstchen wäre wohl die treffendere Beschreibung. Den Namen Rotkehlchen müssten wir aber nicht aufgeben. Er könnte an einen Verwandten gehen, der bisher unter dem wenig imaginativen Namen Zwergschnäpper firmiert.
Aus der Verwandtschaft haben viele den Titel „Vogel des Jahres“ verdient, aber das Rotkehlchen verdient ihn auch ein zweites Mal..
Auch Tiersystematiker hat das Rotkehlchen übrigens schon verwirrt. Wurde es lange gemeinsam mit einigen anderen eng verwandten Arten der Familie der Drosseln zugerechnet, zeigten molekulargenetische Untersuchungen dann aber, dass Rotkehlchen, Nachtigall, Steinschmätzer und Blaukehlchen als weitere Familienangehörige näher mit den Fliegenschnäppern verwandt sind als mit den Drosseln. Seitdem werden sie als Schnäpperverwandte in der Familie der Muscicapidae geführt.
Bis zu 90 Millionen Rotkehlchen-Paare leben in Europa
Aus dieser engen Verwandtschaft hätten einige den Titel „Vogel des Jahres“ durchaus auch verdient: Das sein Siedlungsgebiet entschlossen ausbauende Schwarzkehlchen, das ebenso auf dem Vormarsch befindliche Blaukehlchen, die keiner weiteren Beschreibung bedürfende Nachtigall und allen voran das Braunkehlchen, das als Langstreckenzieher und Wiesenbewohner gleich an unterschiedlichen Orten des Globus einen beinahe aussichtslosen Überlebenskampf gegen die industrielle Landnutzung kämpfen muss.
Als Art sind dem Rotkehlchen diese Probleme eher fremd. Es ist die achthäufigste Vogelart in Deutschland. Unter 100 Vögeln hierzulande sind mehr als vier Rotkehlchen. Wahrscheinlich mehr als vier Millionen Brutpaare leben unter uns.
Und nicht nur hier ist das Rotkehlchen häufig. Mit einem Verbreitungsgebiet auf 24 Millionen Quadratkilometern in Europa und Asien ist es vielerorts ein gewohnter Anblick. Es wird geschätzt, dass europaweit zwischen 60 und 90 Millionen Rotkehlchen-Paare leben, das sind rund 90 Prozent aller Rotkehlchen der Erde.
Mehr als 450.000 Menschen haben über den „Vogel des Jahres abgestimmt
Wäre es bei dieser Wahl zum „Vogel des Jahres“ traditionell zugegangen, wäre ganz sicher eine andere Vogelart im 50. Jubiläumsjahr auf bestem Weg zum Siegertreppchen als das Rotkehlchen.
Denn Auswahlkriterium bei den bisherigen Nominierungen hinter geschlossener Tür „ist die Gefährdung der Art oder ihres Lebensraums“, schreibt der Landesbund für Vogelschutz (LBV), der die Wahl gemeinsam mit dem Naturschutzbund Nabu seit 1971 ausrichtet. Zum Jubiläum wollten die Verantwortlichen in Nabu und LBV aber mal etwas neues ausprobieren, um den etwas angestaubten Titel zu beleben und mehr öffentliche Resonanz zu erhalten, als die obligatorischen Zweispalter auf den bunten Seiten der Zeitungen.
Das war erfolgreich. Deutlich mehr als 450.000 Menschen haben ihre Stimme abgegeben. Deutschland ist nicht Großbritannien (wo übrigens das Rotkehlchen die inoffizielle Wahl zum Nationalvogel gewonnen hat) und deshalb ist es enorm, wenn weit über eine Viertelmillion Menschen für einen Vogel auf den Knopf drücken.
Muss ein würdiger „Vogel des Jahres“ bedroht sein?
Doch die Öffnung der Wahl für alle und vor allem das Ergebnis sorgt auch für Kritik. „Für den Artenschutz bringt die Wahl nichts“, wenden jetzt vor allem diejenigen ein, die mit dem „Vogel des Jahres“ in der bisherigen Tradition der Vogelwahl eine klare Botschaft zur äußerst prekären Lage vieler Vogelarten und ihrer Lebensräume verknüpfen wollen.
Aus dieser Kritik spricht auch die sehr verständliche Verzweiflung darüber, dass der Kampf um den Erhalt der gefiederten Biodiversität bei weitem nicht den öffentlichen Stellenwert bekommt, den er bräuchte (nicht zuletzt aus diesem Grund haben wir uns ja auch als Flugbegleiter-Team zusammengefunden.) Im Kampf um Aufmerksamkeit für den Schutz bedrohter Arten und Lebensräume hatte sich die Vogelwahl über die Jahre zu einem verlässlichen Instrument gemausert.
Dies zugunsten der Publikumsbeteiligung aufzugeben, wird von manchen nun als Fehler erachtet. Doch ehrlicherweise hat die Wahl zu einem „Vogel des Jahres“ für den unmittelbaren Artenschutz auch bisher nicht wirklich etwas gebracht.
Gerne wird der Wanderfalke als erster Jahresvogel angeführt, um den umwerfenden Erfolg seines spektakulären Comebacks auf das Konto der „Vogel-des-Jahres-Kampagne“ zu verbuchen. Das ist natürlich Quatsch. Wenn jemandem die Krone als Schutzpatronin für Wanderfalke, Seeadler, Uhu und andere gebührt, dann ist es die US-Biologin Rachel Carson, die mit ihrem bereits 1962 erschienenen Hauptwerk Silent Spring die verheerenden Auswirkungen des Pesitzids DDT aufgezeigt und damit den Anstoß für das Verbot auch hierzulande gegeben hat.
Das zu sagen, bedeutet nicht, die Verdienste der vielen Aktiven in Nabu und LBV für den Schutz dieser und weiterer Arten gering zu schätzen. Durch ihre Arbeit für einzelne Arten vor Ort, aber auch durch ihre beständige öffentliche Lobbyarbeit ganz allgemein „für die Vögel“ leisten sie einen wichtigen Beitrag. Und die gute Nachricht ist: das kann auch mit einem „Vogel des Jahres“„ gelingen, der Rotkehlchen heißt.
Allerdings auf eine andere Weise als es beim Rotmilan (als deutsche „Verantwortungart“), bei Goldregenpfeifer und Seggenrohrsänger (als Vertreter bedrohter Lebensräume) oder bei Rebhuhn und Kiebitz (als Opfer einer umweltfeindlichen Landwirtschaftspolitk) der Fall wäre: Das Rotkehlchen wirbt schlicht als Sympathieträger und Repräsentant für alle Wildvögel.
Auch das Rotkehlchen braucht Schutz
An ihm lassen sich aber auch naturschutzpolitische Probleme thematisieren. Etwa die trotz Verbots immer noch mitten in Europa blühende illegale Verfolgung von Singvögeln. Zehntausende Rotkehlchen werden vor allem in der italienischen Lombardei während des Herbstzugs in Bogenfallen gefangen und dann zu dutzenden pro Portion auf Spießen zu Maispolenta verspeist.
Das Komitee gegen den Vogelmord kämpft seit Jahrzehnten mit Vogelschutzcamps vor Ort gegen diese barbarische Praxis. Was sagen seine Aktivisten, wenn das Rotkehlchen „Vogel des Jahres“ wird? „Wir freuen uns“, sagt Axel Hirschfeld, der zahlreiche Vogelschutzcamps in Italien organisiert hat. „Wir sind der Überzeugung, dass nicht nur Seltenheit ein Kriterium sein sollte, sich für eine Vogelart zu engagieren.“
Viele Tierliebhaber stimmten mit, nicht nur Vogel-Profis
Wenn weit mehr als eine Viertelmillion Menschen abstimmen und dabei aus mehr als 300 Vogelarten eine bestimmte auswählen, verdient das einen zweiten eingehenden Blick. Denn es ist ein großer Zensus, der etwas darüber verrät, mit welchen Augen viele Menschen auf die gefiederte Vielfalt hierzulande blicken.
Solche Menschen, die sich wahrscheinlich nicht so professionell mit Vögeln beschäftigten wie viele derjenigen, die sich in der Vogelschutz- und Ornithologieszene tummeln. „Das Rotkehlchen ist niedlich, das wähle ich“ – So oder so ähnlich dürfte manche Entscheidung getroffen worden sein. Oder: „Das kenn ich, das haben wir doch da und da gesehen.“ Die Wahl des Rotkehlchens zum „Vogel des Jahres“ ist damit vielleicht auch Ausdruck einer Aneignung des Themas Vögel durch einen breiteren Teil der Gesellschaft als bislang.
Das dürften dann diejenigen unter den Initiatoren der Vogelwahl als Bestätigung empfinden, die es allein als Erfolg ansehen, dass überhaupt mehr über Vögel gesprochen wird und dass auch mal eine gewisse Leichtigkeit bei der Befassung mit dem Thema Natur und Naturschutz erlaubt ist – trotz der dramatischen Lage dieser und anderer Tiergruppen.
„Es ist ein unbekümmerter und komplett unproblematischer Umgang mit der Natur, wenn die Leute sich treffen und fragen: ‚Hey, hast du eigentlich schon für meinen Eisvogel gestimmt?‘ und einmal nicht zu hören kriegen: ‚Da stirbt was aus‘“, begründete der LBV-Vorsitzende Norbert Schäffer den neuen Ansatz im Flugbegleiter-Interview.
Die Wahl ist übrigens auch aus der Perspektive des Vogelschutzes insgesamt und des Schutzes der biologischen Vielfalt nicht so schlecht, wie manche glauben. Denn „mehr Gartenvielfalt“, wie der Wahlkampf-Slogan lautet, der dem Vögelchen von LBV und Nabu umgehängt wurde, ist bitter nötig. Steingarten-Boom und die tägliche Kriegserklärung in vielen Eigenheim-Siedlungen an jedwedes „wilde“ Grün zeigen das. Die Panzer in diesem urbanen Krieg gegen die biologische Vielfalt heißen Rasenmäher.
Bei aller Sympathie für das Rotkehlchen, auch ein Sieg der bis zuletzt zweitplatzierten Rauchschwalbe auf den letzten Metern wäre eine gute Entscheidung rechtzeitig zu ihrer Heimkehr aus dem Winterquartier gewesen. Sie trat mit dem vielleicht politischsten Wahlkampf-Motto aller Kandidatïnnen an: „Insektenschutz ernst nehmen“. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Die nächste Wahl findet im Herbst statt. Dann nicht über einen Vogel.