Warum die Bewertung der Corona-Maßnahmen schiefgegangen ist

Unwissenschaftliche Methoden und zweifelhafte Mitglieder – was beim Evaluationsbericht des Sachverständigen-Ausschusses zur Covid-Pandemie auffällt

vom Recherche-Kollektiv Corona: ,
16 Minuten
Jutta Allmendinger (l-r), Soziologin, Hendrik Streeck, Virologe, Harald Wilkoszewski, Abteilungsleiter Kommunikation und Pressesprecher des WZB, Helga Rübsamen-Schaeff, Virologin und Chemikerin, und Christoph Schmidt, Präsident, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, nehmen an einer Pressekonferenz des Sachverständigenausschuss zur Evaluation des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) teil. Der IfSG präsentiert die Ergebnisse des Evaluationsberichtes über die bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen.

Schon bald nachdem die erste Welle der Pandemie abgeklungen war, im Frühsommer 2020, wurde der Wunsch nach einem Pandemierat laut. Das sollte ein Gremium sein, in dem Wissenschaftlerïnnen verschiedener Disziplinen sitzen. Sie sollten die Politik beraten und Erkenntnisse aus ihrem jeweiligen Forschungsbereich einbringen, um das Virus so gut wie möglich in Schach zu halten, ohne dass dabei allzu viel Schaden an anderer Stelle entsteht.

Mit der ersten Feststellung der epidemischen Lage nationaler Tragweite im März 2020 hätte der Bundestag ein solches Gremium fordern können. Die Regierung hätte es einberufen können. Beides ist nicht passiert. Die zeitnahe Erforschung der Corona-Schutzmaßnahmen blieb aus.

Nun, zweieinhalb Jahre später gibt es einen Sachverständigenausschuss, der die bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen, wie sie im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben sind, wissenschaftlich evaluieren soll. Er wurde im Sommer 2021 einberufen und hat 18 Mitglieder. Die Sachverständigen wurden jeweils zur Hälfte vom Bundestag und der Bundesregierung benannt. Dabei fehlten Absprachen, die eine Interdisziplinarität des Gremiums sichergestellt hätten. Nur so lässt sich erklären, warum sechs Juristïnnen, jedoch nur drei Virologïnnen – aber nur einer mit epidemiologischen Kenntnissen – und null Statistikerïnnen dem Ausschuss angehören. Die Zusammensetzung ist nur einer der Gründe, warum es jetzt viel Wirbel um den am 1. Juli 2022 vorgelegten Abschlussbericht des Gremiums gibt.

Der Bericht selbst ist – diplomatisch ausgedrückt – eine Enttäuschung. Eine vertane Chance, wie die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung schreibt. Diesen Frust hätte man dem Gremium und uns allen ersparen können. Warum es trotzdem dazu kam, hat politische Gründe. Doch bevor es um diese geht, tut ein Blick in den Bericht not.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Olaf Scholz (SPD) vor einem großen Bundesadler
Angela Merkel und Olaf Scholz im Dezember 2021: Der Bundestag hat der Regierung weitreichende Kompetenzen eingeräumt, den Infektionsschutz zu gewährleisten.

Welche Verbindungen haben die Autorïnnen?

Dem Sachverständigenausschuss gehören 18 Sachverständige an. Der Berliner Virologe Christian Drosten verließ Ende April das Gremium. Es fehle sowohl an Zeit für eine wissenschaftliche Auswertung als auch an Personal, lautete seine Begründung. Für ihn rückte der Epidemiologe Klaus Stöhr nach, der in der Öffentlichkeit oft gegensätzliche Positionen von Drosten einnimmt. Mit ihm waren nur drei Virologïnnen vertreten, wobei Stöhr in dem Papier gar nicht als Virologe geführt wird, sondern als „unabhängiger Konsultant“. Was auch immer das heißen soll.

Sogar der Vorsitzende des Sachverständigenausschusses, Stefan Huster, kritisierte, Bundestag und Bundesregierung hätten das Gremium nach der anteilsmäßigen Beteiligung der Parteien (Parteienproporz) besetzt und nicht nach den nötigen Fachgebieten. Ein Wissenschaftler, der bei einer Sitzung des Ausschusses dabei war, berichtet, dass die Mitglieder selbst feststellen, in diesem Gremium keine wissenschaftliche Arbeit machen zu können.

Weitere Vertreterinnen von Epidemiologie, dem Fach über die Ausbreitung von Krankheiten, oder der Statistik, dem Fach zur systematischen Zusammenfassung der vorhandenen Daten, fehlten völlig. „Für die Evaluation der einzelnen Maßnahmen war der Ausschuss von Anfang an zu dünn aufgestellt“, sagte der Jurist Huster der Süddeutschen Zeitung.

Querdenker in den Reihen des Ausschusses

In den Ausschuss geschafft hat es jedenfalls ein ehemaliger Professor für Electrical Engineering an der Jacobs University Bremen. Nicht nur, dass er fachfremd ist, irritiert an Werner Bergholz. Er gehört ganz offenbar der Querdenker-Szene an. So hat er am 11. Juni 2022 unter anderem gemeinsam mit den Corona-Leugnern Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg einen neuen Berufsverband für Ärzte gegründet. Diese Information wurde von verschiedenen einschlägigen Webseiten veröffentlicht.

Bergholz wurde von der AfD-Fraktion in den Ausschuss berufen. Bekannt machte ihn das via YouTube verbreitete Video eines Corona-Skandals. Auf einer Veranstaltung im September 2021 behauptete er gemeinsam mit den emeritierten Pathologen Arne Burghardt und Walter Lang, es gebe mehr Impftote als bislang bekannt und die Impfstoffe seien verunreinigt. Auf das mehr als dreistündige Video dieser sogenannten Pathologie-Konferenz folgten scharfe Reaktionen. Nicht nur, dass YouTube das Video entfernte. Auch die Deutsche Gesellschaft für Pathologie distanzierte sich in einem Statement „scharf“ von dem Video. Die darin präsentierten Daten seien „nicht wissenschaftlich fundiert“. Eine genauere Analyse des Skandals hat correctiv recherchiert.

Neben den 18 Ausschusssmitgliedern haben 20 weitere Sachverständige am Gutachten mitgewirkt. Allerdings werden nur die Titel und Namen der Personen aufgeführt, es fehlen weitere wichtige Informationen wie Lehrstuhl-Zugehörigkeit, Organisation oder Ähnliches.

Im Kapitel über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben sich gleich 14 externe Mitwirkende eingebracht. Einige von ihnen weisen Verbindungen in die umstrittene und Querdenker-nahe Initiative Familien auf, andere wie der Mediziner und Infektiologe Matthias Schrappe sind mit unsauberem wissenschaftlichen Arbeiten zu Covid-19 aufgefallen.

Mehrere fragwürdige Netzwerke sind über diese Mitwirkenden vertreten. Hier nur die wichtigsten Verbindungen:

Initiative Familien

Nicht nur hat die Initiative Familien soziale Teilhabe und Infektionsschutz für Kinder und Familien von Beginn an gegeneinander ausgespielt. Seit Beginn der Gründung wird der Organisation ein Abgrenzungsproblem zu Querdenkern nachgesagt.

Im März 2022 haben sowohl Klaus Stöhr als auch der frühere Frankfurter Gesundheitsamtsleiter René Gottschalk, die Kinderärztin Ursel Heudorf, der Internist Matthias Schrappe und die Ärztin Andrea Knipp-Selke diesen offenen Brief der umstrittenen Initiative unterzeichnet. Eine der fragwürdigen Forderungen: „Ein sofortiges Ende der Maskenpflicht in Schulen“. Knipp-Selke wird dabei auf der Website überdies als zugehörig zu der Initiative Familie aufgeführt.

Gottschalk und seine ehemalige Stellvertreterin Heudorf waren zudem mit Aussagen aufgefallen, die wenig Fach- und Literaturkenntnis vermuten lassen: „Die geführte Diskussion der Übertragungsmöglichkeit durch Aerosole ist von der Realität weit entfernt: Wäre dies ein wichtiger Übertragungsweg, hätten wir eine gänzlich andere epidemiologische Ausbreitung“, schrieben beide etwa im Hessischen Ärzteblatt Ausgabe 10/2020. Und das, obwohl bereits im Sommer 2020 genau dies von der Wissenschaftswelt diskutiert wurde, etwa hier im weltweit führenden Fachmagazin Nature und inzwischen in vielen Studien gezeigt werden konnte, zum Beispiel in diesem aktuellen Review.

„Eine andere Zukunft“

Die drei MItwirkenden Knipp-Selke, Epidemiologe Ralph Brinks und der österreichische Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger haben zudem am Dokumentarfilm Eine andere Zukunft von Patricia Marchart und Georg Sabransky mitgewirkt und hier teils unglaubwürdige Äußerungen getroffen. Journalist Gunnar Hamann hat den Film genauer analysiert, und zwar hier. Sprenger fordere darin „die Abschaffung aller Maßnahmen für Kinder und Jugendliche“, twitterte Hamann unter seinem Twitter-Handle Ostprog.

Stöhrs Netzwerk und das #DiviGateGate

Stöhr hat eine Initiative gegründet, die im Netz unter covid-strategie.de zu finden ist. An der Zuarbeit für den Ausschuss waren gleich fünf seiner engeren Mitstreiter beteiligt. Unklar bleibt, warum. So etwa Prof. Dr. Reinhard Berner von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der sich unter anderem im Jahr 2020 für eine Durchseuchung der Kinder ausgesprochen hat.

Mann hält auf Demo ein beleuchtetes Papp-Coronavirus hoch mit Schild, dies sei ein „Freiheitsvirus"
Querdenker-Demo im März 2021 in Bonn.

Weiterhin Matthias Schrappe; er fiel bereits 2021 als Hauptautor eines fehlerhaften Papiers auf, das den Hashtag #DiviGateGate erhielt. Worum ging es dabei genau? Ein Forscherteam um Schrappe hat in einer „Ad-hoc-Stellungnahme“ die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) der Manipulationen bezichtigt, und die Zeitung Die Welt hatte das sensationsheischende Papier aufgegriffen. Etliche Behauptungen der aufgegriffenen Behauptungen wurden inzwischen ausführlich widerlegt. Auch Andrea Knipp-Selke gehört nicht nur zu Stöhrs Netzwerk – wie eine weitere Corona-Netzwerk-Website belegt – und zur Initiative Familien, sondern war als Autorin am Skandalpapier #DiviGateGate beteiligt. Daneben sind auch die bereits erwähnten Professoren Gottschalk und Heudorf in der Arbeitsgruppe von Stöhr.

Weder der Expertenausschuss noch die weiteren Unterstützer haben eine Erklärung zu Interessenkonflikten abgegeben. Das ist eigentlich eine Mindestanforderung an ein wissenschaftliches Papier. Mögliche Konflikte der Autorïnnen bleiben damit im Dunkeln.

Wie schneidet die Methodik des Evaluationsberichts ab?

Es gibt insgesamt sehr viele Studien zu Corona, aber nur circa ein Prozent davon beschäftigt sich mit nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (NPI). Das sind aber genau die Maßnahmen, die der Bevölkerung in der Pandemie viel abverlangten: Kontakteinschränkungen, Masken, Zugangsbeschränkungen zu Restaurants und Veranstaltungen und Schulschließungen. Um diese Maßnahmen drehte sich der größte Teil der emotional aufgeladenen öffentlichen Debatte und der größte Teil der politischen Schwierigkeiten. Und zu genau diesen Maßnahmen wünschen sich nun – wenigstens im Nachhinein – alle mehr Klarheit: wie gut sie wirkten und welche Nebenwirkungen sie möglicherweise hatten.

In der Wissenschaft gibt es ein Studienformat, das besonders geeignet ist, verfügbares Wissen zu einer Forschungsfrage übersichtlich zusammenzufassen: systematische Übersichtsarbeiten. Solche Arbeiten sind jedoch noch nicht für alle Fragen rund um das Coronavirus verfügbar.

Der Ausschuss gibt im Bericht an, einem bei medizinischen Leitlinien üblichen Prozess folgen zu wollen. Dafür wertet eine Gruppe von Forscherïnnen und im Fachgebiet tätigen Sachverständige die verfügbaren Studien zu einer Frage aus und schreibt dazu, wie gut die Güte der Studie ist. Üblicherweise wird dann in einer Tabelle zusammengefasst, wie gut die evaluierte Maßnahme geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen und wie sicher man sein kann, dass die getroffene Aussage auch tatsächlich stimmt.

Problem: Dynamik der Pandemie

Nun ist eine der Schwierigkeiten in der Pandemie, dass viele Ziele, teilweise auch nebeneinander, bestehen können: Vermeidung von schweren Krankheitsverläufen und Tod, Vermeidung von Infektionen, Eindämmung des Virusgeschehens, Schadensbegrenzung bei schwer eindämmbaren Virusgeschehen, Bewahrung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems und so weiter. Noch dazu können sich die Ziele je nach Pandemiephase schnell ändern. Mit jeder neuen Variante werden die Karten neu gemischt – aber auch mit jedem neuen wirksamen Medikament oder an Varianten angepassten Impfstoffen.

Eine andere Schwierigkeit in einer pandemischen Welt ist, dass die Güte der meisten Studien nicht dem höchsten wissenschaftlichen Standard entsprechen kann. Dafür fehlen einfach die Voraussetzungen, weshalb niemand etwas dafür kann. Der wissenschaftliche Höchststandard verlangt, dass man zwei Gruppen miteinander vergleicht – und zwar fair. Nur so lässt sich herausfinden, ob es tatsächlich die Maßnahme war, die dafür sorgte, dass man das Ziel erreicht hat – oder vielleicht nur Zufall.

Solche Vergleichsstudien sind in einer Pandemie erstens kaum zu organisieren und zweitens ethisch problematisch. Will man beispielsweise in Landkreis A Kontakteinschränkungen einführen und in Landkreis B nicht, nur um anschließend festzustellen, dass mehr Menschen in Landkreis B am Virus gestorben sind oder mit dauerhafter Behinderung leben müssen? Wohl kaum lässt sich ein solches Vorgehen moralisch vertreten. Es ist also schwierig, die belastbarste Form von Evidenz unter pandemischen Bedingungen zu erzeugen. Aber das heißt noch lange nicht, dass eine Evaluierung zum Scheitern verurteilt ist.

Zahlreiche Impflinge warten in einer Schlange in den Messehallen auf ihre Impfung. Am letzten Tag der Erstimpfungen hat es im Hamburger Impfzentrum noch einmal Andrang gegeben.
Messehallen Hamburg im August 2021: Zu den wichtigsten Maßnahmen, um Menschen vor einer schweren Erkrankung an Covid-19 zu schützen, gehörte die Impfkampagne.

Problem: Methodentransparenz

Der Ausschuss hat nun in seinem Bericht sehr viel Mühe darauf verwandt, in vielen Absätzen zu erklären, warum es nicht so einfach ist, zu robusten Erkenntnissen über die Maßnahmen zu kommen. Aber dazu, wie sie bei der Auswertung genau vorgegangen ist, sagt der Bericht nur wenig. Deshalb sind alle Aussagen des Ausschusses zu der Wirkung der Maßnahmen schwer einschätzbar.

Es mangelt nicht nur an klaren Formulierungen, die es erlauben, die angewandte Methodik zu bewerten. Aus dem Bericht geht auch nicht eindeutig hervor, ob die Literaturauswahl systematisch erfolgte. Man kann lediglich lesen, dass die Autorïnnen eine systematische Literatursuche empfehlen. Zudem springen beim Lesen des Berichts schnell einige Mängel ins Auge, etwa beim Abschnitt über die Wirkung der Masken. Dazu später mehr.

Allgemein fällt auf, dass die einbezogenen Studien zum Teil schon zwei Jahre alt sind und manche nie ein Prüfverfahren durchliefen (sogenannte Preprints). Manche sind auch bis heute in keiner wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen. Das erklärt der Gießener Virologe Friedemann Weber in einem Twitter-Thread.

Der Münchner Physiker Martin Sauter findet außerdem Quellen, die auf Autoren zurückgehen, die an der von der Weltgesundheitsorganisation und wissenschaftlichen Fachgesellschaften deutlich kritisierten Great Barrington Erklärung mitgeschrieben haben. Diese Erklärung wird gerne vom Querdenker-Milieu herangezogen, um Corona-Schutzmaßnahmen anzugreifen.

Unterzeichnet wurde diese Erklärung in Great Barrington in Massachusetts – im dort ansässigen Think Tank American Institute for Economic Research (AIER). Zu dessen Geldgebern gehört der US-Öl-Milliardär Charles Koch, ein bekannter Leugner der Klimakrise. Weitere Einnahmen des Think Tanks stammen etwa aus profitablen Investitionen in fossile Brennstoffe, Energieversorger und die Tabakindustrie. Erklärtes Ziel von AIER: ​​„freie Märkte“ und eine „begrenzte Regierung“. Kurzum: Der Think Tank manipuliert die öffentliche Meinung für eine ungezügelte Wirtschaft, Klimakrise und Corona-Pandemie hin oder her.

Problem: Datenmanagement

Der Ausschuss betont, dass ihm zur Beurteilung der Maßnahmen zu wenig Daten zur Verfügung standen. Dafür kritisiert er das Robert-Koch-Institut (RKI) ziemlich deutlich. Es hat als Public-Health-Institut den Auftrag, das Infektionsgeschehen in Deutschland zu überwachen. Doch weder das RKI noch andere Forschungsgesellschaften haben in der Pandemie eine repräsentative Panelstudie aufgelegt. Mit dieser hätte man das Infektionsgeschehen und seine Folgen über die gesamte Dauer der Pandemie unabhängig von der Testinzidenz (die anfällig für Verzerrungen ist) auswerten können. Das ist tatsächlich kritikwürdig.

Doch ganz so valide ist das Argument der fehlenden Daten nicht, wie der Göttinger Physiker Matthias Linden auf Twitter schreibt: „Leider ist die Bestandsaufnahme möglicher Datenquellen in der Evaluation lückenhaft. Empfehlungen gehen daher an bereits geschaffenen Strukturen vorbei.“ In seinem Thread legt er dar, dass viele der gewünschten Daten eigentlich vorhanden sind, dass allerdings die systematische Verknüpfung und Auswertung nicht möglich ist.

Das heißt, nicht die Daten fehlen, sondern die Infrastruktur für die Zusammenführung. So gibt es beispielsweise Systeme, mit denen die Kapazitäten der Krankenhäuser in einer Region erfasst werden. Es fehlt jedoch an Ressourcen, solche Daten in die Analyse zu integrieren. Diese zu schaffen ist Aufgabe der Politik, konkret des Bundesgesundheitsministeriums – und nicht des RKI. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat angekündigt, dass ab September ein sogenanntes Pandemieradar bereitsteht, dass die Bewertung der Infektionslage quasi in Echtzeit ermöglicht. Doch was genau damit gemeint ist, bleibt derzeit unklar.

Problem: Berichtstyp

Wäre der Sachverständigenausschuss seinem Anspruch treu geblieben und hätte eine Art Leitlinie erstellt, hätte die Güte der Evidenz an dieser Stelle anders dargestellt werden müssen, zum Beispiel in Form von Tabellen. Zumindest hätte man dann zu jeder Bewertung dazu sagen müssen, wie belastbar die Aussagekraft ist, die zu der Bewertung geführt hat. Das ist aber leider nicht geschehen.

Natürlich gab es nachvollziehbare Schwierigkeiten. Ihretwegen scheint nun aber kein wirkliches Gutachten entstanden zu sein, sondern ein narratives Review. Über dieses Format sagt das Wissenschaftsnetzwerk Cochrane: „Bei narrativen Reviews gibt es einen großen Spielraum für Verzerrungen, da Reviewer Studien je nach deren Übereinstimmung mit zuvor gefassten Ansichten, Motivationen oder Hintergründen einbeziehen oder auslassen können. Reviewer können praktisch tun und lassen, was sie wollen, und jede Schlussfolgerung treffen, die ihnen und ihren Interessen genehm ist.“

Und so reicht der Eindruck, der sich beim Lesen immer wieder aufdrängt, von „Cherry Picking“ über schwammige Aussagen bis hin zur völligen Verdrehung von Studienergebnissen. Mit der in dem Bericht viel zitierten Evidenz nimmt der Sachverständigenausschuss es jedenfalls nicht gerade genau.

Beispiel: Masken

Im Evaluationsbericht steht, „dass das Tragen von Masken ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein kann.“ Es steht aber auch da, dass eine schlecht sitzende und nicht eng anliegende Maske einen verminderten bis keinen Effekt habe. Das stimmt so nicht. Es gibt viele Studien, die belegen, dass FFP2-Masken auch bei schlechtem Sitz vor einer Ansteckung schützen können, zum Beispiel diese Studie aus Deutschland, die im Bericht jedoch gar nicht erwähnt wird.

Ein Hinweisschild mit der Aufschrift: Schutzmaskenpflicht
Pflichten zum Tragen von Masken sollen Ansteckungen verhindern.

Ebenso verwunderlich ist, wie dieser Satz seinen Weg in das Papier finden konnte: „Die epidemiologisch messbare Wirksamkeit von Gesichtsmasken ist zwar durch mehrere Evidenzgrade belegt, aber gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen Bewertungen von chirurgischer und FFP2-Maske nicht abschließend zu beurteilen.“ Eine Studie von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation stellte nämlich fest, dass gut sitzende FFP2-Masken das Infektionsrisiko um den Faktor 30 senken können und selbst schlecht sitzende das Risiko um den Faktor 2,5 senken im Vergleich zu gut sitzenden chirurgischen Masken. Eine große Rolle spielt dabei auch ein einfacher Umstand: Je mehr Menschen Masken tragen, desto höher ist der Schutz für alle.

Seit Beginn der Pandemie begleitet uns die nach und nach erweiterte AHA+L+A-Regel: Abstand halten, Hygiene beachten, im Alltag Maske tragen, regelmäßig lüften und die Corona-Warn-App nutzen. Welchen Anteil haben die einzelnen Maßnahmen? Gibt es welche, die so wenig zum Schutz beitragen, dass man auf sie auch verzichten könnte? Und wie schneiden sie ab bei der Frage nach dem Nutzen im Vergleich zu den Risiken oder der Unbequemlichkeit? Dies zu evaluieren, wäre eigentlich die Aufgabe der Sachverständigen gewesen. Die Frage nach der besten Masken-Art ist dabei nur ein Detail.

Was im Bericht fehlt

Einige wichtige Maßnahmen hat sich der Ausschuss gar nicht angeschaut, obwohl es dazu Studien gibt (Beispiel 1, Beispiel 2). So fehlt zum Beispiel der ganze Bereich der Luftreinhaltung. Was bringen Lüftungsanlagen, Luftfilter und Luftreiniger, die mit UV-Licht arbeiten? Welche Rolle könnten sie in der nächsten Pandemiephase spielen?

Stattdessen fordert der Ausschuss einen besseren Schutz vulnerabler Gruppen. Dazu gehören nicht nur alte und kranke Menschen, sondern auch durch Armut oder Sprachbarrieren benachteiligte Personen, Kinder und Jugendliche. Doch all die speziellen Schutzkonzepte funktionieren nur dann, wenn zuerst das allgemeine Infektionsgeschehen eingedämmt wird.

Auch die breite, nicht-vulnerable Allgemeinheit muss also mitziehen bei den Maßnahmen. Ansonsten findet das Virus allzu leicht seinen Weg in die Einrichtungen oder zu beengt wohnenden Menschen. Das sagt auch ein Bericht, der im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums spezielle Schutzkonzepte für Pflegeheime untersucht hat.

Und noch ein anderes Problem klammert der Bericht fast vollständig aus: lang anhaltende Beschwerden nach einer Covid-Erkrankung. Vom Post-Covid- und Long-Covid-Syndrom sind umso mehr Menschen betroffen, je mehr sich infizieren. Die gerade zu Anfang hochgehaltene Strategie der Herdenimmunität erweist sich als Irrweg, der relevante Anteile der Bevölkerung dauerhaft schwächt.

Eine junge Frau sitzt in einer Kammer zur Messung der Lungenfunktion, davor ein Arzt.
Untersuchung von Lungenparametern in einer Reha-Klinik für Long-Covid-Erkrankte im Teutoburger Wald

Einige Mitglieder des Sachverständigenausschusses befürworten immer noch öffentlich diese in ethischer und gesundheitlicher Hinsicht schon lange nicht mehr tragbare Durchseuchungsstrategie, deren Langzeitfolgen derzeit gar nicht abschätzbar sind. Ist also fehlender Konsens in der Expertengruppe der Grund, warum dazu fast nichts im Bericht steht?

Was wird vom Bericht hängen bleiben?

Insgesamt fehlt dem Bericht etwas für wissenschaftliche Arbeiten Entscheidendes: die Transparenz. Wie ist die Gruppe zu ihren Fragen gekommen, wie hat sie relevante Literatur identifiziert, nach welchen Kriterien hat sie die Literatur ausgewählt, die sie verwendet hat, warum blieben renommierte Studien gar unerwähnt, wie ist sie zu ihren Schlussfolgerungen gekommen? Diese und ähnliche Fragen bleiben unbeantwortet – und so würde dieser Bericht nicht einmal den Ansprüchen an eine wissenschaftliche Seminararbeit im Studium genügen.

Aus der Argumentationstheorie ist Rosinenpicken als Technik bekannt. Dabei werden nur Belege oder Beispiele angeführt, die die eigene Argumentationslinie stützen; andere Belege, die gegen diese Beweisführung sprechen, werden bewusst weggelassen. Dieses Rosinenpicken ist eines der zentralen Merkmale von pseudowissenschaftlichen Argumentationen. Unterm Strich bleibt also der Eindruck, dass dieser Bericht nur einem Zweck dient: unter dem Deckmäntelchen der wissenschaftlichen Expertise den Maßnahmenkritikern (aus der Politik) Argumente zu liefern, mit denen sie effektiven Gesundheitsschutz torpedieren können.

Sofort nach Veröffentlichung des Berichts meldeten sich mehrere FDP-Politikerïnnen zu Wort, die stolz verkündeten, dass man nun eine Bestätigung für die eigene Einschätzung habe. Weder dürften die Freiheitsrechte durch Lockdowns noch die Bildungsrechte durch Schulschließungen eingeschränkt werden. Denn für deren Wirksamkeit fehle ja nachweislich die Evidenz.

Als ob sie diese Interpretation vorausgeahnt hätten, schreiben die Autorïnnen in ihren Bericht: „Die meisten der getroffenen Maßnahmen entziehen sich dabei einer klaren Kategorisierung in, richtig‚ oder, falsch‘. Der Evaluationsausschuss hat zwar versucht, den Graubereich zwischen, wirksam‚ und, unwirksam‘ einzuengen und damit den Entscheidungsträgern mögliche Abwägungen zu vereinfachen, sieht aber aufgrund fehlender Kausalanalysen in vielen Bereichen nicht die Möglichkeit, klare Aussagen zu treffen.“

Kanada hat völlig anders evaluiert

Auch andere Länder versuchen ihre Maßnahmen zu evaluieren, zum Beispiel Kanada. Der kanadische Bericht ist lediglich acht Seiten lang und vergleicht die Folgen und Maßnahmen der Pandemie mit neun anderen führenden Wirtschaftsnationen (G10). Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Evaluationsansätze sind. Kanada nutzt dafür auch Methoden des maschinellen Lernens, zum Beispiel um die Übersterblichkeit einzelner Länder zu vergleichen, und stellt die Auswirkungen der Pandemie in den G10-Staaten mithilfe vieler Grafiken dar, auch die wirtschaftlichen.

Aus diesem Bericht lässt sich schneller und sicherer herauslesen, wie die einzelnen Staaten im Vergleich abgeschnitten haben. Auch die kanadischen Autorïnnen weisen darauf hin, dass die kausalen Zusammenhänge zwischen Maßnahmen und Effekten nicht klar benannt werden können: Warum einzelne Länder bei unterschiedlichen Parametern besser oder schlechter abschneiden, lässt sich nicht leicht herausfinden. Die Autorïnnen empfehlen, dies später noch genauer zu untersuchen.

Trotzdem sind sich alle internationalen Expertïnnen einig, dass zusätzlich zu den Impfungen weiterhin nicht-pharmazeutische Maßnahmen zur Eindämmung und Schadensbegrenzung in der Corona-Pandemie nötig sind, da Impfungen nicht zuverlässig vor Übertragung des Virus schützen. Seit Omikron erst recht nicht.

Auch die Weltgesundheitsorganisation betrachtet mildere Maßnahmen wie Maskentragen weiterhin als einfaches und effektives Mittel zur Pandemiekontrolle. Wie gut mildere Maßnahmen wirken, hängt vor allem von zwei Bedingungen ab. Erstens, wie gut sie organisiert sind und in Echtzeit ausgewertet werden können (Monitoring. Hier ist die digitale Vernetzung der Meldebehörden mit Krankenhäusern und Arztpraxen wichtig. Und zweitens, wie sehr die Bürgerïnnen in die Lage versetzt werden, gute Entscheidungen zu treffen – gute Entscheidungen im Sinne von maximalem Gesundheitsschutz bei vertretbarem Aufwand (Schadensbegrenzung, Mitigation). In beiden Punkten muss sich Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Bericht des Sachverständigenausschusses.

Deutschland sollte seine Hausaufgaben machen

Dieses Ergebnis ist zugleich ein Arbeitsauftrag, dessen Wichtigkeit niemand unterschätzen sollte. Deutschland bekommt vermutlich schon bald die Gelegenheit zu zeigen, wie gut es seine Hausaufgaben gemacht hat. Aktuell machen sich steigende Fallzahlen (trotz zurückgegangener Testungen) bemerkbar, auch warnt der Bundesgesundheitsminister bereits vor der nächsten Herbst- und Winterwelle.

Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein, die Deutschland erlebt. Die Klimakrise begünstigt das Auftreten neuer, gefährlicher Viren, die von Tieren auf uns Menschen überspringen. Die Verantwortlichen der Ampel-Koalition hätten gut daran getan, wissenschaftliche Qualität vor eigene Interessen zu setzen, das Gremium ausgewogen zu besetzen und mit mehr Mitteln zu unterstützen. Auch, um einen guten Standard für die Zukunft aufzustellen.

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In einer früheren Version war an einer Stelle versehentlich von Martin Schrappe und nicht von Matthias Schrappe die Rede. Außerdem wurde die Berufsbezeichnung von Frau Knipp-Selke präzisiert. Zeitpunkt der Änderung: 8. Juli.2022,10.00 Uhr.

Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Andrea von Braun Stiftung gefördert.

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