Die einzigartigen Kelly-Zwillinge
Oder: Warum ich für RiffReporter so viel über Epigenetik schreibe.
Mark und Scott Kelly sind einzigartig. Als eineiige Zwillinge haben sie nahezu identische Gene. Doch damit nicht genug: Scott ist Astronaut. Er verbrachte vom März 2015 bis zum Februar 2016 fast ein ganzes Jahr in der internationalen Raumstation ISS. Sein Bruder Mark blieb auf der Erde. Für die Wissenschaft ergab sich eine perfekte Versuchsanordnung. Denn Scott setzte sich nicht nur einer außergewöhnlichen Umwelt aus, er ließ auch noch eine genetisch nahezu gleiche Kontrollperson auf der Erde zurück. Forscher können nun ungeahnt präzise messen und mit einer idealen Kontrolle vergleichen, welche Auswirkungen das Leben im Weltraum auf einen Menschen hat und wie lange es hinterher dauert, bis sich die Biologie wieder normalisiert.
Noch sind die wenigsten Daten des außergewöhnlichen Experiments der Kelly-Zwillinge ausgewertet und veröffentlicht. Doch manches gab die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA vorab bekannt. Zunächst diagnostizierte man bei Scott Kelly nach seiner Rückkehr die üblichen Veränderungen: Das Immunsystem, die Augen, sogar das Gehirn und die Körpertemperatur des Astronauten hatten sich gewandelt. Doch diese Anpassungen normalisierten sich rasch. Ganz anders erging es Scott mit der Aktivität des Erbguts: Rund sieben Prozent seiner Gene wurden in den Zellen plötzlich deutlich stärker oder schwächer abgelesen und in entsprechende Proteine übersetzt als bei seinem Bruder Mark oder bei ihm selbst in der Zeit vor dem Weltraumaufenthalt.
Kellys Zellen arbeiteten weiter im Weltraummodus
Auch dieser Befund überraschte die Forscher noch nicht. Klar, dass andere Gene aktiv sind, wenn sich auch die Organe verändert haben. Doch anders als die organischen Veränderungen scheinen die genetischen bestehen zu bleiben. Als die Forscher den Astronauten sechs Monate später nämlich erneut untersuchten, staunten sie nicht schlecht: Das veränderte Aktivitätsmuster der Gene war geblieben. Scott Kellys Zellen arbeiteten sozusagen noch immer im Weltraummodus.
In den Zellen scheint eine Art Gedächtnis für Umwelteinflüsse zu existieren, das ihnen dabei hilft, auf zukünftige Herausforderungen besser vorbereitet zu sein. Den Text der Gene verändert dieses Gedächtnis nicht. Scott und Mark sind noch immer eineiige Zwillinge mit einer fast identischen DNA. Aber auf einer anderen genetischen Ebene sind die Zwillinge unterschiedlichere Menschen geworden: Ihre Epigenetik stimmt weniger gut miteinander überein. Die unterschiedliche Vergangenheit hat Spuren im Erbgut der Zellen hinterlassen. Dort sind zumindest bei Scott an vielen Stellen andere Abschnitte auf aktivierbar geschaltet als vor dem Flug ins All.
Dass Varianten im Text der Gene verantwortlich dafür sind, dass sich Lebewesen voneinander unterscheiden, dass sie zum Beispiel eine unterschiedliche Augen- oder Haarfarbe haben, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Unter anderem wird dieses Wissen bei der Aufklärung und Behandlung genetischer Krankheiten genutzt, die in Familien gehäuft auftreten, meist ernste Folgen haben, dann allerdings auch nur sehr selten sind.
Wichtige Schnittstelle im System komplexer Krankheiten
Doch der Blick auf den Text der Gene liefert nur die halbe Wahrheit: Umwelteinflüsse und der Lebensstil entscheiden mit. Sie verändern zwar nicht das eigentliche Erbgutmolekül DNA, aber dessen Umgebung. So bestimmen sie mit darüber, welche ihrer vielen tausend Gene die Billionen Zellen eines Menschen überhaupt benutzen können und welche nicht. Damit kommt die Wissenschaft von der Genregulation ins Spiel. Gerade bei den häufigen, so genannten Volkskrankheiten, bei psychischen Leiden, Alterskrankheiten, Allergien oder Stoffwechselstörungen wie Typ-2-Diabetes, tragen sehr viele Faktoren gemeinsam zum Erkrankungsrisiko bei: das Aktivitätsmuster teils tausender beteiligter Gene ebenso wie bestimmte geerbte Varianten im Text dieser Gene, aber natürlich auch die Umwelt in der Zeit als wir aufgewachsen sind, der aktuelle Lebensstil und so fort. Weil all das sehr unüberschaubar ist und sich die einzelnen Komponenten auch noch wechselseitig beeinflussen, werden diese Leiden auch als komplexe Krankheiten bezeichnet.
Eine wichtige Schnittstelle im System komplexer Krankheiten bildet die Epigenetik. Sie verhilft der Zelle zu jenem molekularbiologischen Gedächtnis, das dafür sorgt, dass Erfahrungen und die Ernährung im Mutterleib oder in den ersten Lebensmonaten uns zeitlebens prägen können. Und sie sorgt dafür, dass der Zellstoffwechsel Scott Kellys auch noch sechs Monate nach seiner Rückkehr auf unseren Planeten ganz genau weiß: Er ist lange Zeit weg gewesen. Als neue Tochterdisziplin der Genetik erforscht die Epigenetik biochemische Schalter oder Dimmer an und in der Erbsubstanz. Das sind Strukturen, die bestimmen, welche Gene eine Zelle wie gut aktivieren kann und welche nicht. Der Unterschied zwischen einer Leber-, einer Nerven- oder einer Hautzelle zum Beispiel steckt ebenso wenig wie der Unterschied zwischen Mark und Scott Kelly in den Genen. Er steckt im epigenetischen Programm.
Epigenetik bedeutet so viel wie Zusatz- oder Neben-Genetik – ein treffender Begriff, denn erst die Schalter geben dem Gentext einen tieferen Sinn. Der epigenetische Code ist wie ein zweiter Code des Lebens, der dem ersten Code – dem Text der DNA – die wichtige Zusatzinformation hinzustellt, welches von vielen möglichen genetischen Programmen abgerufen werden soll. Dieses Programm prägt dann eine bestimmte Zelle und alle Zellen, die von ihr abstammen – bis es umprogrammiert wird. So kann man heute erklären, warum Umwelteinflüsse oder ein bestimmter Lebensstil wie die Bewegungsfreude, die Ernährung, extremer Stress, ein Trauma, Vergiftungen, offenbar sogar ein Aufenthalt im All dauerhafte Veränderungen im Stoffwechsel eines Menschen bewirken.
Krankheitsprävention der Zukunft setzt in der perinatalen Phase an
Während der Zeit im Mutterleib und in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt reifen die Organe und Hormonsysteme heran. Jetzt sind die zugehörigen Zellen besonders empfänglich für Signale aus der Umgebung, für den Stresshormonspiegel zum Beispiel oder die Zusammensetzung und Menge der Nahrung. Wenn die Gesellschaft im Sinne einer modernen Präventionspolitik hier – in der so genannten perinatalen Phase – die richtigen Weichen stellt, wächst die Chance auf eine neue ausgeglichenere, resilientere und gesündere Generation. Möglichst optimale Umweltbedingungen dürften epigenetische Schalter und Dimmer nämlich so justieren, dass sie zeitlebens eine positive Wirkung entfalten.
Doch damit nicht genug: Auch wenn die Forschung an diesem Punkt noch in den Kinderschuhen steckt, so häufen sich die Indizien, dass in Kindheit und Jugend erworbene Umweltanpassungen sogar weitervererbt werden können. Zumindest in Experimenten mit Nagetieren verändern Einflüsse wie starker Stress, Vergiftungen oder Fehlernährung die Krankheitsanfälligkeit und psychische Resilienz mitunter für bis zu vier weitere Generationen.
Werden Umweltanpassungen auch vererbt?
Letztlich ist es also der Dreiklang aus den geerbten Genen, dem aktuellen Einfluss der Umwelt und der epigenetischen Prägung in der eigenen Vergangenheit und vielleicht sogar im Leben unserer Vorfahren, der unsere Gesundheit, unsere Persönlichkeit, unsere Lebenserwartung entscheidend mit bedingt. Die meisten Fachleute sind sich nicht umsonst einig: Es sollte in Zukunft mehr Augenmerk auf die Besserung der Lebensverhältnisse junger Familien sowie von Kindern und Jugendlichen gelegt werden.
Komplexe Eigenschaften sind wie bereits erwähnt nicht auf Varianten an einem oder einigen wenigen Genen zurückzuführen sondern auf die vernetzte Regulation von hunderten bis tausenden Genen zugleich. Wenn Krankheiten wie Depressionen oder Adipositas in Familien gehäuft sind, so liegt das deshalb oft nicht so sehr an bestimmten geerbten Genvarianten. Verantwortlich ist meist, dass bestimmte Anpassungen an ein Verhalten oder einen Lebensstil in jeder Generation neu geprägt werden und dass neben dem Text der Gene wohl auch Anweisungen über deren Regulation mit vererbt werden. Die klassische Gentechnik, die zuletzt mit der Entwicklung der CRISPR/CAS-Technik sensationelle Fortschritte machte, zielt indes vor allem auf die Manipulation des Textes einzelner Gene. Sie kann so vor allem weniger komplex geregelte Merkmale beeinflussen und dürfte in absehbarer Zeit die Therapie von Erbkrankheiten revolutionieren.
Je komplexer ein Merkmal, desto eher scheint man es hingegen durch eine Veränderung epigenetischer Strukturen beeinflussen zu können. Doch dazu muss man nicht das Erbgutmolekül DNA umschreiben, man muss die Umwelt verändern – also an den sozialen Verhältnissen und dem Lebensstil der Menschen ansetzen. Die Stellung epigenetischer Schalter und Dimmer ist nämlich anders als eine genetische Mutation grundsätzlich reversibel. Nur deshalb gilt: Wer für eine gesund aufwachsende neue Generation sorgt, erreicht vermutlich, dass auch die folgenden Generationen gute Chancen auf ein gesundes Leben haben.
Darum schreibe ich so viel über Epigenetik
Wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind, verstehen Sie auch warum ich so viel über Epigenetik schreibe. Es geht oft darum, „was Gesundheit und Persönlichkeit prägt“. Es geht auch um Genetik, Genregulation, perinatale Prägung, Alterung, Systembiologie und Gesundheit. Und es geht um die vielen Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren, auf die unsere Zellen minütlich, stündlich, täglich mit teils bleibenden Veränderungen ihres Stoffwechsels und ihrer Genregulation reagieren müssen. Bei den Lebensstilfaktoren konzentriere ich mich vor allem – aber nicht nur – auf den Schlaf, die inneren Rhythmen (Chronobiologie), Ernährung und Stress. Wer mich ein wenig kennt, weiß warum: Über einige dieser Themen habe ich bereits mehrere allgemeinverständliche Sachbücher verfasst.
In meinem Buch Gesundheit ist kein Zufall habe ich versucht, den permanenten biologischen Anpassungsprozess als unsere eigentliche Gesundheit zu definieren und zu beschreiben, was wir über ihn bereits wissen. Daraus habe ich abgeleitet, dass Gesundheit eben kein „Zustand kompletten körperlichen und mentalen Wohlbefindens“ ist, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert. Gesundheit ist auch nicht die bloße Abwesenheit oder das Gegenteil von Krankheit. Gesundheit ist ein Generationen überschreitender Prozess. Sein Gegenteil ist nicht die Krankheit sondern das Altern.
Schon die ersten Artikel, die bei Riffreporter erschienen sind, werfen Schlaglichter auf diesen Prozess. Im Kommentar Das Märchen vom Mini-Jetlag geht es um die negativen Folgen der Uhren-Umstellung auf die so genannte Sommerzeit. Im Beitrag Erbe, Umwelt, Vergangenheit erkläre ich, warum wir eine neue Definition des Gesundheitsbegriffs benötigen. Unter dem Titel Botschaften für die Zukunft findet sich ein kleiner Auszug aus dem Buch Gesundheit ist kein Zufall. Dass Genetiker vorsichtig sein sollten, wenn sie alle Effekte vererbter Gene auf die nackte Genetik zurückführen, ist eine der verblüffenden Erkenntnisse aus dem Text Auch nicht vererbte Eltern-Gene wirken.
„Das ändert unsere Sicht des Lebens total.“ (Moshe Szyf)
Hinweisen möchte ich Sie auch auf ein sehr ausführliches Interview mit dem renommierten Stressforscher Dirk Hellhammer: „Wir brauchen eine neue Taxonomie von Stresskrankheiten“. Darin erfährt man nicht nur eine Menge darüber, was Forscher heute schon über die Prägung der menschlichen Stressregulation herausgefunden haben. Man lernt auch, mit welchen neuen Methoden sie dafür sorgen wollen, dass die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sehr viel schneller als heute den Menschen mit Stresskrankheiten zu Gute kommen.
Hervorzuheben sind auch die Schwerpunkte zur Epigenetik und zur Chronobiologie. Beide enthalten mehrere lange Lesestücke und halten so das Versprechen der RiffReporter, etwas tiefer zu tauchen, als es im Alltagsjournalismus möglich ist. Wenn Sie RiffReporter.de abonnieren, können Sie alle Artikel sofort lesen. Das Interview mit Dirk Hellhammer ist mittlerweile kostenlos. Der Stressforscher starb im Dezember 2018, einen Nachruf finden Sie hier. Das große Interview aus dem Frühjahr 2018 liest sich im Nachhinein fast wie ein Vermächtnis.
Informationen zu meinem Newsletter, der Sporks Science News, in dem ich immer auch eine aktuelle Meldung aus der Epigenetik unterbringe, finden Sie hier.
Gemeinsam bauen auch wir dann ein wenig an jener Brücke zwischen Soziologie und Biologie, über die Moshe Szyf, der bekannte Epigenetiker von der Montréaler McGill University, einst sagte: „Wenn die Umwelt eine Rolle bei der Veränderung unserer Epigenome spielt, dann können wir eine Brücke schlagen zwischen biologischen und sozialen Prozessen. Und das ändert unsere Sicht des Lebens total.“