Aus für das Qualitätsinstitut ÄZQ: Droht schlechtere Versorgung für Patienten?
Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin kümmert sich um Leitlinien für Volkskrankheiten und Patienteninformationen. Zum Jahresende soll damit Schluss sein. Womöglich gefährdet das die evidenzbasierte patientenorientierte Gesundheitsversorgung: eine Analyse
Die Nachricht kam am 10. April für fast alle wie aus dem Nichts: Die Bundesärztekammer (BÄK) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) lösen das Ärztliche Zentrum für Qualität (ÄZQ) in der Medizin Ende 2024 auf. Die KBV teilte dazu mit, dass „die Aufgaben des ÄZQ ersatzlos wegfallen und nicht mehr weitergeführt werden“.
Was sich für manche wie eine gesundheitspolitische Fußnote anhört, könnte in Wirklichkeit aber große Auswirkungen auf eine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung und damit für Patient:innen haben. Denn das ÄZQ gilt als eine der wichtigsten Institutionen der evidenzbasierten Medizin in Deutschland.
Warum ist das Ärztliche Zentrum für Qualität so wichtig?
Eine der bedeutsamsten Aufgaben des ÄZQ: die Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) koordinieren und unterstützen. Das heißt: Für wichtige Volkskrankheiten wie Typ-2-Diabetes, Depression oder Herzschwäche setzen sich unter Regie des ÄZQ Vertreter:innen verschiedener medizinischer Fachrichtungen, anderer Gesundheitsprofessionen und Patient:innen gemeinsam an einen Tisch. Sie klären, welche Aspekte bei den Erkrankungen für Patient:innen wichtig sind, werten die Studienlage zu Diagnostik und Behandlung aus, beraten gemeinsam, wie Vor- und Nachteile von Untersuchungen und Behandlungen abzuwägen sind und entwickeln daraus Empfehlungen. Das alles wird transparent dokumentiert.
Dieses komplexe Verfahren soll dafür sorgen, dass Patient:innen zwischen Hausarzt, Klinik, Fachärztin und Therapeuten nicht in Versorgungslücken geraten. Außerdem soll es Behandlungen aus einem Guss ermöglichen. Darüber hinaus bilden die Nationalen Versorgungsleitlinien auch die wissenschaftliche Basis für Behandlungsprogramme (Disease-Management-Programme), die sich an Menschen mit chronischen Erkrankungen richten.
Bei den NVL kommt auch konsequent die Perspektive von Patient:innen ins Spiel: So geben sie etwa Auskunft, was für sie wichtig ist, und stimmen mit ab, welche Empfehlungen in die Leitlinie aufgenommen werden sollen. Wenn die Datenlage nicht ganz so eindeutig ist und deshalb die Präferenzen von Patient:innen noch stärker zu berücksichtigen sind, enthalten einige NVL Entscheidungshilfen, die Patient:innen bei wichtigen Fragen unterstützen. Zum Beispiel: Wie streng soll die Blutzucker-Einstellung bei einem Diabetes sein?
Mitarbeitende des ÄZQ kümmern sich in diesem Prozess etwa um die Recherche und Aufbereitung der wissenschaftlichen Studien, moderieren die Gespräche zu den Leitlinien, achten auf die Einhaltung der methodischen Regeln und organisieren die redaktionellen Abläufe. Wenn die Leitlinie fertig ist, entwickelt das ÄZQ auf dieser Basis nicht nur Kurzfassungen für Gesundheitsprofis, sondern auch umfangreiche Patientenleitlinien und Kurzinformationen. Alle Dokumente stehen online kostenfrei zur Verfügung.
Warum das Aus?
Das EbM-Netzwerk und Cochrane Deutschland fassen den Stellenwert der NVL in einer gemeinsamen Stellungnahme so zusammen: „Diese auf hohem methodischem Niveau und unabhängig von politischer oder interessengeleiteter Einflussnahme entwickelten und regelmäßig aktualisierten evidenzbasierten Wissensressourcen stellen eine wesentliche Säule für die Patientensicherheit und Versorgungsqualität in Deutschland dar.“
Warum sollte man also eine Institution auflösen, die sich seit fast 30 Jahren um solche und andere Aufgaben kümmert, in den letzten 20 Jahren acht umfangreiche NVL entwickelt und auf dem aktuellen Stand gehalten hat, in Fachkreisen in Deutschland und international große Anerkennung genießt und es nicht zuletzt bei manchem Projekt auch geschafft hat, äußerst konträre Positionen zwischen medizinischen Fachleuten zu befrieden?
Hört man sich im Umfeld des ÄZQ um, stellen sich diese Frage viele. Ob dahinter politische Beweggründe stecken, wie Medien spekulieren, es ganz banal um Finanzen geht oder noch um etwas ganz anderes, ist bisher unklar. Denn die Vorstände von BÄK und KBV geben sich auf Anfrage äußerst schmallippig: „Vor dem Hintergrund geänderter rechtlicher und organisatorischer Rahmenbedingungen sehen KBV und BÄK keine Perspektive für die dauerhafte Fortführung von gemeinsamen Einrichtungen“, lässt etwa die Bundesärztekammer erklären.
Dem Vernehmen nach haben BÄK und KBV im Vorfeld weder die Mitarbeitenden des ÄZQ frühzeitig zu den Überlegungen informiert noch vorab die vielen Institutionen konsultiert, die mit dem ÄZQ für die Nationalen Versorgungsleitlinien eng zusammenarbeiten und sich für eine evidenzbasierte patientenorientierte Medizin einsetzen. Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und Cochrane Deutschland fordern, dass „die Gründe für die Entscheidung zur Auflösung des ÄZQ transparent gemacht werden“.
Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, einem Fachgremium der BÄK, und gleichzeitig im Wissenschaftlichen Beirat des ÄZQ, sagt dazu: „Die Nachricht hat uns allen die Sprache verschlagen. Wir waren sehr, sehr erstaunt, dass die Entscheidung getroffen wurde, ohne uns zu informieren.“ Martin Härter, Vorsitzender des ÄZQ-Beirats, kommentierte auf LinkedIn: „Es gab keinerlei Beratungsgespräche zu dieser schwerwiegenden Entscheidung. Aus unserer Sicht hätte diese, wenn überhaupt, geordnet vorbereitet werden müssen, um die exzellenten Produkte des ÄZQ zu retten.“ Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die zu den Herausgebern der NVL gehört und an der Erstellung mitwirkt, erfuhr „überraschend über die Medien von der Auflösung des ÄZQ“, heißt es in einer Stellungnahme.
Wie geht es weiter?
Dass die Entscheidung kein Schönheitsfehler ist, sondern besonders bei einem Ende des NVL-Programms weitreichende Konsequenzen haben kann, machen zahlreiche Stellungnahmen deutlich: So spricht Martin Härter von einem „drohenden Flurschaden“, Ina Kopp vom Institut für Medizinisches Wissensmanagement der AWMF hält das Aus des ÄZQ für einen „schweren Einschnitt“. Martin Danner von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe sagt: „Diese schockierende Nachricht ist ein schwerer Schlag für die evidenzbasierte Medizin.“
Bisher deutet wenig darauf hin, dass BÄK und KBV ihre Entscheidung zur Auflösung des ÄZQ revidieren könnten. Umso wichtiger wäre es aber, zumindest das NVL-Programm zu retten und auf rechtlich und finanziell sichere Beine zu stellen. Wie das gehen könnte, hat ein Team des ÄZQ bereits 2011 in einem Strategiepapier vorgeschlagen: Danach könnte die Arbeit des ÄZQ etwa durch eine unabhängige Stiftung gesichert werden. Eine ähnliche Konstruktion hat sich bereits bei der Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bewährt.
Umstritten ist jedoch eine andere Lösung, die ebenfalls im Raum steht: Medienberichten zufolge soll es Überlegungen geben, die NVL in einem Institut weiterzuführen, das rechtlich dem Bundesministerium für Gesundheit untersteht. Spekulationen zufolge könnte das entweder das Robert-Koch-Institut sein oder das noch geplante, aber bereits umstrittene Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin. Die Anfrage, ob es dazu tatsächlich Planungen gibt, ließ das Bundesministerium für Gesundheit unbeantwortet.
Ob Leitlinien, die eine staatliche Stelle erarbeitet, in der Ärzteschaft und bei den anderen Gesundheitsberufen im gleichen Maß anerkannt würden wie derzeit die NVL, ist zu bezweifeln. Eine Stellungnahme der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) warnte auch prompt vor einer „Verstaatlichung der Medizin“. Ob in dieser Konstellation tatsächlich der Bundesgesundheitsminister persönlich die Empfehlungen diktieren würde, sei einmal dahingestellt. Klar ist jedoch: Selbst wenn nur der Verdacht besteht, dass politische Einflussnahme möglich wäre, ist die Glaubwürdigkeit und damit die Akzeptanz der Leitlinien dahin. Ähnlich sieht die DDG auch eine Beauftragung der KBV kritisch, die ebenfalls diskutiert wird. Weil die KBV die wirtschaftlichen Interessen der Ärzteschaft gegenüber den Krankenkassen vertritt, könne diese Konstellation zu „ökonomisch fokussierten Interessenkonflikten“ führen.
Die BÄK scheint bisher keine konkreten Pläne zu haben. Sie werde „den Austausch mit weiteren Akteuren suchen, um auch hier zu einer adäquaten Perspektive zu kommen“, so die Antwort auf eine Anfrage von Plan G. Die AWMF signalisierte bereits, dass sie daran mitwirken will. Auch andere Institutionen scheinen derzeit hinter den Kulissen Gespräche zu führen, um die NVL zu retten. Offizielle Stellungnahmen dazu gibt es aktuell jedoch nicht.
Es muss jetzt schnell gehen
Wenn andere Institutionen die Aufgabe der NVL übernehmen, wäre es in jedem Fall wichtig, die hohen methodischen Standards auch weiter zu gewährleisten. Kritisch erscheint dabei der Faktor Zeit: Denn es ist nicht auszuschließen, dass sich die Mitarbeitenden des ÄZQ angesichts der ungewissen beruflichen Aussichten bald andere Stellen suchen und für eine künftige neue Struktur nicht mehr zur Verfügung stehen. Damit ginge erhebliche methodische und organisatorische Expertise für die NVL verloren und es könnte lange dauern, diese wieder auf dem gebotenen Niveau aufzubauen.
Dass das kein ganz unwahrscheinliches Szenario ist, war kürzlich bei der Unabhängigen Patientenberatung zu erleben: Dort gelang es nicht, die Organisationsstruktur fristgerecht und unfallfrei zu verändern. Die Folge: Die Beratung endete im Dezember 2024 und ist bis heute nicht wieder aufgenommen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass sich durch den zeitlichen Verzug viele Beschäftigte neue Stellen suchten und aus rechtlichen Gründen auch die Wissensdatenbanken neu aufgebaut werden müssen. Das darf sich mit dem ÄZQ und dem NVL-Programm nicht wiederholen.
Möglicherweise schaden die unklaren Aussichten den NVL nicht nur zukünftig, sondern auch schon sehr zeitnah: Wie dem aktuellen Tätigkeitsbericht des ÄZQ zu entnehmen ist, laufen zurzeit einige Aktualisierungen, um die NVL auf dem neuesten Stand zu halten. Die daran beteiligten Vertreter:innen von ärztlichen und therapeutischen Berufe sowie der Patient:innen engagieren sich oft in ihrer Freizeit dafür. Wenn es unklar ist, ob die Arbeit am Jahresende im Nichts verschwindet, dürfte das die Motivation nicht steigern.
Möglicherweise wird die Zukunft der NVL auch den Deutschen Ärztetag Anfang Mai beschäftigen, auf dem sich der Vorstand der BÄK den Fragen der Delegierten stellen muss. Dort steht ironischerweise das Thema „mehr Koordination der Versorgung und bessere Orientierung für Patientinnen und Patienten“ weit oben auf der Tagesordnung.