Vertrieben aus der süßen Mitte
Wie die Donut-Ökonomie in der realen Welt aussieht
Gibt es überhaupt Länder, die ihren Bürgern ein Leben in Würde bieten und gleichzeitig innerhalb der planetaren Grenzen wirtschaften? Eine Bestandsaufnahme der Welt unter dem Blickwinkel von sozialem Fundament und ökologischer Decke, wie sie das Konzept der Donut-Ökonomie vorsieht, zeigt leider: Nein, die gibt es nicht. Aber durchaus Modellfälle, von denen die Welt etwas lernen kann.
Teil der KlimaSocial-Serie „An der Weggabelung“
Von einem „guten Leben“ zu sprechen, ist ein Wagnis: Jede und jeder versteht etwas anderes darunter. Es kann unter dem Motto „wie Gott in Frankreich“ Baguette, Brie und Landwein bei Lavendelduft in der Provence meinen. Es kann im Anklang an Playboy-Figuren wie James Bond röhrende Sportwagen, Kaviar und Kasinobesuche in Monte Carlo bedeuten und für sogenannte Influencerinnen heutiger Tage wie Kylie Jenner Abonnenten und Einnahmen jeweils in vielfacher Millionenhöhe.
In Deutschland hat das Konzept eines guten Lebens oft mit einem Eigenheim, Grillfesten im Garten, dem Familienkombi und mehreren Urlaubsreisen pro Jahr zu tun. Doch für Milliarden Menschen auf dieser Welt bedeutet es: fließendes Wasser, eine richtige Toilette, Impfungen und Schule für die Kinder, ein Stromanschluss und ein gesichertes, ausreichendes Einkommen.
Solche Widersprüche provoziert geradezu, wer seine Arbeitsgruppe bewusst unter die Überschrift „Gutes Leben“ stellt, wie es Julia Steinberger von der Universität Leeds getan hat – und dann rund um die Welt der Qualität des Daseins nachspürt. Auf der Webseite ihres Teams, wo es die erhobenen Daten zur Analyse anbietet, heißt es: „Der Zweck ist, eine Diskussion darüber anzuregen, was ein gutes Leben bedeutet und wie es in einer Welt aussehen könnte, die innerhalb der planetaren Grenzen bleibt.“ (Alle Links sind noch einmal gesammelt am Ende des Artikels zu finden.)
Steinberger stützt sich dabei auf das Konzept eines „sicheren und gerechten Raums für die Menschheit“, das Kate Raworth von der Universität Oxford entworfen hat. Es sieht zwölf Bedingungen eines sozialen Fundaments vor und neun Kriterien einer ökologischen Decke. Wegen der Form einer zentralen Grafik heißt die Idee auch Donut-Ökonomie (oder in der britischen Schreibweise: doughnut economy).
Raworth möchte mit ihren Ideen das Denken künftiger Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen in neue Bahnen lenken – weg vom engen Fokus auf Wachstum, das angeblich über kürzer oder länger alle sozialen und Umweltprobleme löse.
Von der Theorie zur Empirie
Die Daten, die künftige Forscher:innen dafür brauchen können, werden indes heute schon zusammengestellt: Wo Kate Raworth die Theorie der Donut-Ökonomie entwirft, liefert Julia Steinberger mit ihrem Team die Empirie aus bisher 151 Ländern. Ihre Arbeit hat sie im Februar 2018 im Fachblatt Nature Sustainability veröffentlicht; auch hier geht es um ein soziales Fundament und eine biophysikalische Decke.
Die Kriterien für die Datensammlung sind etwas anders zugeschnitten als in der Donut-Ökonomie-Vorlage, ausgewertet werden elf Größen innen und sieben außen, letztere jeweils pro Kopf der Bevölkerung, und alle auf dem Stand von 2010 bis 2012. Vollständig oder fast vollständig sind die Zahlen aus 109 Staaten.
„Die Ergebnisse im Allgemeinen werden kaum überraschen“, räumt Steinberger ein. „Das ist nicht die Abteilung für gute Nachrichten: Kein Land schafft es, alle sozialen Bedingungen zu erfüllen und gleichzeitig innerhalb der planetaren Grenzen zu wirtschaften.“ In der Regel verletzten Staaten, die mehr soziale Bedingungen erfüllen, auch mehr natürliche Grenzen, stellt sie fest. Dabei war der Mindeststandard für menschenwürdiges Leben am stärksten ausgerechnet an den biophysikalischen Parameter CO2-Ausstoß gekoppelt. Der soziale Indikator Gleichheit wiederum nahm im statistischen Mittel sogar linear mit dem Verbrauch von Ressourcen zu; er steigt damit steiler an als bei anderen Menschenwürde-Kriterien.
Tweet von Dan O’Neill mit einer Grafik, wo viele Länder auf dem Weg in die Donut-Ökonomie stehen.
Im Rahmen der natürlichen Grenzen lassen sich offenbar eher die physischen Bedürfnisse der Menschheit wie nach Nahrung, Wasser, Unterkunft und Befreiuung aus der Armut erfüllen; für qualitative Kriterien wie demokratische Mitwirkung, soziale Unterstützung und höhere Bildung ist der materielle Einsatz in der Regel höher und gemessen an den Schwellenwerten eben zu hoch. Dabei verlangen die Kriterien der Leeds-Gruppe nicht einmal, dass zum Beispiel der Zugang zu Strom, sanitären Anlagen oder Bildung der weiterführenden Schule wirklich für alle Bürger erfüllt ist; die Grenze liegt meist bei 95 Prozent der jeweiligen Bevölkerung.
Einzelne der sieben Bedingungen für den schonenden Umgang mit Natur und Ressourcen schafften jeweils nur 34 bis 45 Länder; einzige Ausnahme hier ist der Verbrauch von Süßwasser, den 84 Staaten im Griff – oder noch nicht ruiniert – hatten.
Alle ökologischen Grenzen einzuhalten, schaffen nur 16 Länder. Sie sind in der Regel arm. Dazu gehören Bangladesch, die Philippinen und drei weitere Länder in Asien und dem arabischen Raum, zehn Nationen Afrikas wie Togo und Eritrea, sowie Haiti in den Amerikas.
Nur wenige Ländern bieten das soziale Fundament
Mit den elf sozialen Kriterien hatten noch mehr Länder Probleme. So sank die Zahl der Staaten, die die Schwelle der geforderten Gleichheit übersprangen, auf 16. Die Spanne reichte bis zu 68 Nationen, in denen für mindestens 95 Prozent der Bevölkerung das Einkommen oberhalb der Grenze absoluter Armut von 1,90 Dollar pro Tag lag.
Tatsächlich erfüllten nicht einmal die meisten Industrieländer alle elf sozialen Kriterien. Das gelang nur den Niederlanden, Österreich und Deutschland. Oft waren die Ungleichheit und/oder die strukturelle Arbeitslosigkeit zu groß, das galt zum Zeitpunkt der Datenerhebung zum Beispiel für Großbritannien und die USA. In Japan lag trotz sonst guter Werte die Lebenszufriedenheit unter dem Schwellenwert, und für die Schweiz fehlten Daten – merkwürdigerweise gerade bei der Qualität der Demokratie.
Daraus ergeben sich auf der Basis der vor knapp zehn Jahren gesammelten Daten einige unbequeme Wahrheiten. Zum einen könne es sein, dass der Donut-Raum, den sich Kate Raworth vorgestellt hat, in der realen Welt zurzeit ein verschwindend schmaler Ring ist, stellt das Steinberger-Team fest. Zum anderen sind die SDGs der Vereinten Nationen vielleicht nur zu erfüllen, wenn der Naturverbrauch alle Grenzen sprengt. Davor hatte auch die Ökonomin aus Oxford schon gewarnt: Wenn man die sozialen Probleme wie gehabt mit Wachstum lösen möchte, kann die Menschheit auf dem Berg, den sie dafür übersteigen müsste, nicht überleben.
Wo die Vorbilder liegen
Völlig hoffnungslos sind die Daten aber auch nicht, erklärt Julia Steinberger. „Es gibt keinen Sieger, aber für viele Paare von Kriterien innen und außen mindestens ein Land, das für beide im Bereich des Donut liegt. Von denen kann man also etwas lernen.“
Ein solches Modell war – auf der Basis der Daten von 2011 – in mancher Hinsicht Vietnam. Es brach nur beim CO2-Ausstoß die planetaren Grenzen, hielt sie aber bei den anderen sechs Faktoren ein. Gleichzeitig erreichte es die Schwelle bei sechs der sozialen Kritierien, darunter Lebenserwartung, Zugang zu Strom, Arbeit und Einkommen sowie Nahrung. Zwölf weitere Staaten sichern die Ernährung ihrer Bürger, ohne dass die Kreisläufe von Phosphor und Stickstoff durch massives Düngen aus dem Lot geraten.
Die Menge an pflanzlicher Primärproduktion, die sich die Bewohner aneignen, und damit der Indikator für Landverbrauch und Eingriffe in die Biosphäre bleibt auch in Tschechien und der Slowakei im Rahmen; sie gehören gleichzeitig zu den Staaten, die nach den Kriterien der Leeds-Studie genügend Gleichheit und demokratische Qualität besitzen (auf dem Niveau von 2011).
Ausreichenden Zugang zu Energie, ohne dass die CO2-Emissionen zu hoch sind, haben nur die Bürger von Moldau und Tadschikistan. Und der zentral-asiatische Staat schafft es zusammen mit Algerien und Jordanien als einziger, genügend Toiletten und sanitäre Einrichtungen bereitzustellen, ohne dass der ökologische Fußabdruck der Menschen dort zu groß wird. 2011 gehörte auch Syrien zu dieser kleinen Gruppe, wegen des Krieges dürfte es aber inzwischen zurückgefallen sein.
Insgesamt, schreiben die Autor:innen der Analyse in Nature Sustainability, könnten wohl mindestens genug Nahrung, Strom, sanitäre Anlagen und Einkommen für alle Bewohner dieser Erde bereitgestellt werden, ohne dass eine der biophysikalischen Grenzen überschritten wird.
Julia Steinberger steht dem Zustand der Welt – auch gerade in der Coronakrise – äußerst kritisch gegenüber. Wir alle seien letztlich nur die Crashtest-Dummy, die vom blinden Glauben an weiteres Wachstum an die Wand geschleudert würden. Aber gerade die Pandemie habe gezeigt, dass das herkömmliche Wirtschaftsmodell eben gerade die Bedürfnisse für menschliche Gesundheit nicht in ausreichender Menge bereitstelle.
Wo bleibt denn die Kavallerie des Marktes in der Krise?
In einem Essay für das Medienprojekt Open Democracy hat sich die Forscherin aus Leeds vor allem über die Politiker aufgeregt, die seit langem eine Förderung des generellen Eigennutzes für eine geeignete Art des Handels hielten. In der neoliberalen Logik der Weltwirtschaft gilt ja eine „unsichtbare Hand des Marktes“ als Garantie für öffentliche Wohlfahrt, aber die Verantwortlichen in den Regierungen der westlichen Welt hätten sich in Krisen immer wieder vergeblich umgeschaut, wann denn die „Kavallerie des Marktes“ zur Rettung galoppiert käme.
Tatsächlich habe der Fokus auf Eigennutz gegenüber Gemeinwohl die Verantwortung zu Unrecht auf den Schultern des Einzelnen abgeladen. „Das ist die falsche Idee, dass Individuen haftbar für soziale Funktionen sein können. (…) Wenn der Markt die Lösung sein soll, dann sind die einzelnen Menschen die Schuldigen: jedes große systemische Problem lässt sich dann durch individuelles Fehlverhalten erklären.“
Tweet von Julia Steinberger, in dem sie ihren Vater Jack erwähnt, Er ist Physik-Nobelpreisträger und hat 2009 beim Nobel-Cause-Symposium im Londoner St. James’s Palace mit vielen anderen prominenten Wissenschaftler*innen und dem Prince of Wales dringende Maßnahmen gegen die Klimakrise gefordert. Darüber hatte er sich schon einige Jahre zuvor in einer handschriftlichen Notiz mit seiner Tochter geeinigt.
Mit irgendeiner Form vom Wachstum, ob nun mit den Adjektiven „nachhaltig“ oder „aufgeklärt“ garniert, lasse sich die von ihrer Arbeitsgruppe festgestellten Mängel an der sozialen Basis und der ökologischen Decke jedenfalls nicht beheben, ist Steinberger überzeugt.
Auch Kate Raworth zog aus den Daten der Kolleg:innen in Leeds kurz nach Erscheinen den Schluss, das sei noch viel an der grundsätzlichen Ausrichtung der Wirtschaft zu verändern: „Wir sind jetzt alle Entwicklungsländer“, schrieb sei. Kein Staat der Erde könne mehr behaupten, die Bedürfnisse seiner Bürger:innen im Rahmen der Mittel des Planeten zu decken. Arme Länder müssten daran arbeiten, mehr Grundbedürfnisse zu erfüllen, reiche sollten dafür deutlich weniger in die Natur einzugreifen.
Der Weg nach vorne müsse doch nun allen klar sein. Es ist ihr Rezept, seit sie das Konzept der Donut-Ökonomie entworfen hat: „Fortschritt bedeutet nicht mehr ansteigende Kurven“, sagte sie 2014 bei einem TED-Vortrag und stand mit ausgebreiteten Armen auf die Bühne. „Fortschritt bedeutet Gleichgewicht.“ ◀
Hinweis: Die Arbeit an diesem Artikel sowie weiteren Teilen der KlimaSocial-Serie „An der Weggabelung“ wurde gefördert durch den WPK-Recherchefonds Covid-19 / Sars-CoV-2.
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Moral und CO2-Markt – Emissionshandel behindert freiwilligen Klimaschutz
Links und Quellen:
- Donut-Ökonomie und Kate Raworth
- Kate Raworth bei TEDx Athen 2014
- Anfang einer Youtube-Serie zur Donut-Ökonomie
- Julia Steinbergers Arbeitsgruppe Good Life
- Studie in Nature Sustainability von 2018
- Arbeitsgruppe Living Well within in Limits (Lili) in Leeds
- Essay Julia Steinberger auf open democracy
- Jack Steinberger und das Nobel Cause-Symposium London (pdf)
- Kate Raworth über die Arbeit des Teams von Julia Steinberger