„Die Stimmung in Europa hat sich drastisch verändert.“
Gespräch mit dem Fotografen Olmo Calvo über Seenotrettung und seine Erfahrung an Europas Südgrenze in Spanien.
Die Lage an Bord des Seenotretters Alan Kurdi ist kritisch. Den 64 Menschen geht das Essen aus und auch das Wasser. Dabei könnten sie in wenigen Stunden in einem Hafen festmachen. Jedenfalls in der Theorie. Praktisch dürfen sie das nicht. Malta und Italien wollen sie nicht haben. Die EU hat Rettungsaktion für Migranten, die Europa auf dem Seeweg erreichen vorerst komplett beendet. Fährt die NGO Sea Eye trotzdem los, droht ihrem Kapitän und der Besatzung die Stilllegung des Schiffes.
Die Migranten wissen das. Trotzdem flüchten weiterhin Menschen aus afrikanischen Ländern über das Meer nach Europa. Die EU überlässt sie sich selbst. Retter werden kriminalisiert. Doch trotz dieses kollektiven Wegschauens sind sie noch da, die Seenotretter und mit ihnen die Menschen, die es nicht über das Herz bringen, andere ertrinken zu lassen. Auf Mission 70 bis 90 Seemeilen vor der Grenze zu Lybien befindet sich im Moment die Alan Kurdi der deutschen Hilfsorganisation Sea-Eye. Die Schiffe Sea Eye, Seefuchs und die italienische Mare Jonio liegen im Hafen, fünf weitere Schiffe werden in Spanien und Italien blockiert.
Wie sich der Umgang mit dem Migranten in den vergangenen Monaten verändert hat, schildert der Fotograf Olmo Calvo im Interview. Calvo war als Fotojournalist bei mehreren Rettungsaktionen der NGO (Non Governmental Organisation) Open Arms mit an Bord. Vor einem Jahr wurde die spanische Regierung für ihr Engagement noch gelobt und die Medien berichteten regelmäßig über die beiden Schiffe Aquarius und Open Arms und deren Flüchtlinge an Bord. Heute liegen die Schiffe im Hafen fest. Sie werden blockiert und die Politiker nennen die Mitglieder der Besatzung kriminell. Die Stimmung in Europa hat sich im vergangenem Jahr drastisch verändert.
Björn Göttlicher: Olmo, wie war es, als du mit Open Arms auf dem Mittelmeer unterwegs warst?
Olmo Calvo: Diese NGO habe ich bei unterschiedlichen Gelegenheiten begleitet. Das erste Mal im Februar 2017 und das letzte Mal im Dezember 2018. Ich war auf drei oder vier Missionen dabei, immer„embedded“, als freier Journalist. Das letzte Mal war ich mit meiner Freundin dort, sie ist Redakteurin. So konnten wir von unterwegs veröffentlichen, was auf der Reise vorging. Du kannst dich an Bord vollkommen frei bewegen und mit allen sprechen, egal ob Mannschaft oder freiwillige Helfer. Da bekommst du dann so manches mit über die Mission, die das Schiff hat, und was auf der Kommandobrücke gerade so los ist.
Björn Göttlicher: Wie findet man in der Weite des Meeres ein Flüchtlingsboot?
Olmo Calvo: Die Hinweise kommen von der Kommandozentrale aus Italien oder von anderen Organisationen. Eine NGO hat sich auf die Suche nach Flüchtlingsbooten aus der Luft spezialisiert. Aber manchmal patrouillierst du auch in der Zone und beobachtest mit dem Fernglas das Meer. Sobald ein Boot gesichtet wurde, beginnt die Rettungsaktionen der kleineren oder größeren Boote, auf denen sich bis zu 100 Personen befinden. Es kommt vor, dass unter den Geretteten Schwerverletzte sind, mit schweren Verbrennungen, manchmal sogar Kleinkinder. In einem Fall fanden wir ein Baby, das war erst vor zwei Tagen auf die Welt gekommen. Dann müssen die überladenen Schlauchboote evakuiert werden. Das geschieht von anderen Booten aus oder per Helikopter, wenn Schwerverletzte an Bord sind. Und dann verbringst du Zeit mit diesen Menschen, manchmal mehr, manchmal weniger. Je nachdem, ob sie an Bord bleiben oder ob sie in die Obhut von italienischen Marineschiffen gebracht werden. Auf der letzten Reise waren wir alle eine ganze Woche zusammen.
Björn Göttlicher: Welche Route seid ihr da gefahren?
Olmo Calvo: Von der lybischen Küste bis nach Spanien. Das dauerte eine Woche. In dieser Zeit erfährst du viel über die Geschichte der Menschen.
Björn Göttlicher: Welche Erfahrung macht man als Fotograf auf hoher See?
Olmo Calvo: Ich war vorher nie für längere Zeit auf einem Schiff. Daran musst du dich erst einmal gewöhnen. Mir ist anfangs schlecht geworden, das machte das Fotografieren etwas schwieriger. Wenn du das erste Mal auf dem Wasser bist, beeindruckt das schon. Dann siehst du am Horizont dieses Schlauchboot mit den Menschen und ringsum ist nichts als Meer. Du begreifst, dass diese Männer, Frauen und Kinder ein Riesenglück haben, dass wir gerade vorbei gekommen sind. Ohne uns würden sie alle ertrinken. Aber aus Sicht des Fotojournalisten ist es eine Arbeit wie jede andere auch. Du musst dich anpassen. Bei humanitären Katastrophen oder bei Bränden, die du dokumentierst, ist es nicht anders. Während der großen Flüchtlingskrise im Jahr 2015 auf der Balkanroute war es ähnlich. Du passt dich automatisch an Umstände an, wenn du dort arbeiten willst oder musst.
Björn Göttlicher: Gibt es Situationen, in denen du keine Bilder machen würdest?
Olmo Calvo: Natürlich, das ist doch klar. Mein Standpunkt ist: Zuerst bin ich ein Mensch. Erst danach kommt mein Beruf als Fotoreporter. Es gibt viele Beweggründe, innere wie äußere, warum jemand so einen Job macht. Aber du befindest dich vor Ort in einer besonderen (Ausnahme-) Situation. Du bist Teil eines unbeschreiblichen Durcheinanders und machst währenddessen deine Arbeit. So wie damals auf Lesbos in Griechenland. Einige Fotoreporter wurden zum Gesprächsthema und auf Titelseiten abgebildet, weil sie mithalfen, Kinder aus dem Wasser zu tragen. Diese Debatte sollte man nicht führen. Letztlich bist du ein Mensch und du bist Teil der Situation. Als Fotograf bist du nicht unsichtbar, weder im Guten, noch im Schlechten. Die meisten Kollegen, die ich kenne, denken wie ich. In erster Linie sind wir Menschen. Du tust das, was nötig ist; trägst jemanden oder ziehst ihn aus dem Wasser. Irgendwann machst du dann dein Bild, das ist klar. Zeit ist meistens genug vorhanden. Mal sind es Tage, mal sind es Wochen. Grundsätzlich begleitest du aber Personen, die dorthin gehen, um zu helfen. Deine Aufgabe ist es, genau das zu dokumentieren.
Björn Göttlicher: Die Geschichte von Open Arms war, dass in diesem Augenblick der neu ins Amt beförderte spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez den Hafen von Barcelona öffnete, damit deren Schiff dort anlanden durften, stimmt’s?
Olmo Calvo: Genau, das war die Mission der Aquarius im Juli 2018. 60 Meilen vor der lybischen Küste rettete Open Arms Flüchtlinge. Das war exakt der Moment, in dem in Italien der neue Ministerpräsident Matteo Salvini an die Macht kam und öffentlich kundtat, dass er die italienischen Häfen für Rettungsmissionen schließen würde. Er schickte per Twitter die Nachricht an das Schiff: Open Arms kommt bei uns in keinen Hafen. Dann hat die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, mit anderen spanischen Häfenstädten angeboten, die Flüchtlinge aufzunehmen. Die sozialistische Regierung in Madrid gab die Erlaubnis, den Hafen von Barcelona zu nutzen.
Björn Göttlicher: Wie hat sich die Situation für Migranten in Spanien generell verändert?
Olmo Calvo: Das ist schwer zu generalisieren. Im Falle dieser 60 Migranten ist es so, dass die Mehrheit nun in Barcelona lebt und arbeitet. Einer von ihnen, ein Kameruner, spielte im Januar 2019 bei den traditionellen Weihnachtsumzügen einen der Heiligen Drei Könige. Sein Leben hat sich dadurch radikal verändert, hin zum Besseren. Nicht, weil er sich als Heiliger verkleidet hat, sondern weil er es geschafft hat, sich anzupassen. Er hat Arbeit gefunden. Bei anderen war es ähnlich. Aber immer noch kommen hunderte von Personen jeden Tag an der andalusischen Küste an. Ihnen wird heute eine vollkommen andere Behandlung zuteil.
Björn Göttlicher: Du warst im vergangenem Jahr einen Monat an der Südgrenze Europas und hast mit deiner Kamera dokumentiert wie die Migranten dort aufgenommen werden. Was ist dir aufgefallen?
Olmo Calvo: In Andalusien gibt es eine festgelegte Vorgehensweise. Die Seenotrettung bringt sie an den nächsten Hafen. Dort nimmt das Rote Kreuz sie in Empfang und versorgt sie mit Decken, trockener Kleidung und etwas zu essen. Dann werden sie in die (Stadt?)Zentren gebracht, die traditionell über kein Geld verfügen. Dort (?) kommen sie in Aufnahmelager wie etwa Turnhallen, werden registriert und dürften theoretisch bis zu 72 Stunden bleiben. Aber die meisten kommen da schnell raus, weil sie weiter nach Norden wollen. Sie bekommen einen Brief in die Hand, der sie auffordert, das Land umgehend zu verlassen, es sei denn sie beantragen Asyl. Das hat mit der Vorzugsbehandlung der Migranten auf der Open Arms nichts mehr zu tun.
Björn Göttlicher: In Katalonien hört man zunehmend, dass die Migranten aus Andalusien nach Norden geschickt werden, um sie loszuwerden.
Olmo Calvo: Im August letzten Jahres tauchten in Madrid viele Personen auf, die orientierungslos waren. Man sah sie in der Metro. Einige waren eben erst angekommen. Sie trugen immer dieselbe Kleidung am Leib. Wir Reporter haben bei verschiedenen Verbänden nachgefragt, die sich für Migranten einsetzen, was es mit ihnen auf sich hat. Sie schilderten uns das Vorgehen so: Migranten bekommen von der Seenotrettung eine Decke und dann geht es in einen Sonder(?)Bus ab nach Norden in eine Stadt. Es sollten regelmäßig Busse aus dem Süden kommen. Die Migranten betreten nicht einmal die Busstation, sondern werden schon vorher in einer anderen Strasse rausgelassen. Wenn sie Glück haben, haben sie Verwandte oder Bekannte in der Nähe. Hier in Madrid suchen sie außerdem die gängigen Anlaufstellen auf, wie SOS Racismo oder die Kirche San Carlos Borromeo im Stadtteil Vallecas. Dort können sie schlafen, sonst müssen sie die Nächte auf der Straße verbringen.
Björn Göttlicher: Herzlichen Dank, Olmo Calvo, für dieses Gespräch!
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Anmerkung zum Thema:
Das sind die neueste Fakten die das Rote Kreuz über den Verbleib von Migranten in Katalonien gesammelt hat. Eine Überfahrt mit einem Schlauchboot über die Meerenge von Gibraltar kostet heute bis zu 3000€, wobei sich Migranten, die diese Route wählen, mit einem anderen Problem herumschlagen müssen, mit den Haien. Die Meerenge gilt als der Ort im Mittelmeer mit der größten Menge an hungrigen Haifischen, da diese den aus dem Atlantik einwanderten Thunfisch-Schwärmen folgen. Das macht eine nächtliche Überquerung extrem gefährlich. Viele Migranten wählen daher die ebenso riskante Alternative: Sie verstecken sich während der Überfahrt im Unterboden eines LKWs.
Doch die Warteliste derer, die sich heimlich an einen Lastwagen klammern wollen, ist so lang, dass viele sich bereits auf diese stürzen, wenn sie von Europa aus in Marokko einreisen. Das bedeutet eine schwer zu ertragende Strapaze im Unterbau eines LKWs. Der Vorteil liegt für viele, die dieses Risiko auf sich nehmen, darin, dass sie bei der Rückkehr nach Spanien einen vermeintlichen Transportplatz sicher haben. Natürlich werden die LKWs von der Polizei regelmäßig kontrolliert. Dazu gibt es bereits Videos auf youtube.
Viele Migranten verstecken sich im Unterboden eines LKWs, anstatt den gefährlichen Weg über das Meer zu wagen.
In Barcelona gibt es mittlerweile Dutzende illegale Migranten-Lager, verteilt über den gesamten Stadtbereich. Dort hausen Menschen unter unwürdigsten Umständen. Das von der spanischen Regierung eingerichtete Auffanglager CIE in Barcelona funktioniert nach Informationen von Sozialarbeitern nach einem festgelegten Prinzip. Sobald das Lager voll ist, werden die Tore geöffnet und die Menschen wieder auf die Straße gelassen, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Das spanische Rote Kreuz berichtet auch von einer wachsenden Zahl von Menschenraub. Dahinter stecken nicht selten wirtschaftliche Interessen. So wenig positiv das Phänomen der Migration in der breiten europäischen Bevölkerung gesehen wird, so viel Wert hat doch das Leben von Erwachsenen und Kindern für andere Zwecke, wie sexuelle Ausbeutung, als billige Arbeitskräfte und im illegalen Organhandel. Das ist ohne Zweifel eine Form modernen Sklaventums.
Das Rote Kreuz verdeutlicht die Problematik am Beispiel der Prostitution. Sexualarbeiterinnen gehen ihrem Gewerbe meist in privaten Wohnungen nach. In Barcelona ist es inzwischen fast unmöglich, ihre Zahl zu erfassen. Die Kontaktaufnahme ist schwierig, denn die meisten kommen aus afrikanischen und asiatischen Ländern. Um ihnen zu helfen, brauchen die Mitarbeiter Mediatoren und Übersetzer. Dafür hat die Stadt aber kein Geld.
Eine positiv stimmende Nachricht in dieser Hinsicht ist das neue europäische Projekt „My Health“, zu dem sich Institutionen aus Katalonien, der Schweiz, Deutschland und Griechenland zusammengeschlossen haben. Ziel dieser Initiative ist es, illegal in die Europäische Union eingereisten Migranten Zugang zu einer Gesundheitsversorgung zu gewähren und diesen, zum Beispiel durch eine interaktive Landkarte, die wichtigsten Anlaufstellen aufzuzeigen, die ihnen in ihrer Reise durch Europa zur Verfügung stehen. Unterstützt wird dieses Projekt in Deutschland von der Berliner Charité.
www.healthonthemove.net
Work in Progress. Open Source. Schwarmintelligenz.
Über das Projekt "Fotograf mit Zweifeln"
Die hier behandelten Fragestellungen werden nicht (oder nur selten) durch den Autor beantwortet und haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil. Durch die Vielzahl von Antworten unterschiedlicher Menschen entsteht eine Bandbreite von Wissen, aus dem Sie, verehrter Leser, ziehen mögen, was Sie wollen. Jede neue Meinung und Frage, die das Gesamtspektrum erweitert, ist willkommen: info@gottlicher.de
Bisher erschienen: "So finden Fotojournalisten ihre Themen", "Meeri Koutaniemi über ihre Erfahrungen mit FGM"
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„Ethik und Ästhetik sind Eins.“ Ludwig Wittgenstein
„Ich hätte ja zu gerne gefragt, wie der Ludwig das wieder gemeint hat.“ Jörg Zimmer