Simplere Melodien, negativere Texte: So hat sich die Popmusik mit den Jahrzehnten verändert

Immer mehr Musik liegt digital vor. Das ermöglicht der Musikwissenschaft, etablierte Annahmen endlich anhand belastbarer Fakten zu überprüfen. Nicht jede Annahme hält dem Stand.

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Sänger, Gitarrist und Keyboarder auf einer Bühne in rotem Licht

Wer schon etwas älter ist, kennt vielleicht dieses Gefühl: Neue Popsongs werden immer langweiliger. Täuscht das und steckt dahinter nur der übliche Geschmackswechsel, den es schon lange von Generation zu Generation gibt? Hat sich die Musik einfach weiterentwickelt und ältere Menschen hängen am Stil ihrer Jugendjahre fest? Studien deuten darauf hin, dass das Gefühl nicht täuscht: Popsongs haben in den vergangenen Jahrzehnten an Komplexität verloren – und sie sind negativer geworden.

Der Rock dominierte die 1960er Jahre und in den 1990er Jahren boomte der Hiphop – da dürfte kaum jemand widersprechen. Doch wirklich wissenschaftliche Belege gibt es dafür erst seit wenigen Jahren. Denn erst mit großen digitalen Datenbanken konnte die Musikwissenschaft beginnen, Songs systematisch in großer Zahl auszuwerten. Dabei zeigte sich zum Beispiel, dass der Rock 'n’ Roll in den USA nicht erst berühmt wurde, als mit den Rolling Stones, Kinks oder Beatles britischer Rock über den großen Teich schwappte: Der Trend zum Rock 'n’ Roll-Stil nahm in den USA seinen Anfang schon einige Jahre zuvor.

1975,1996 und 2000 sank die Komplexität von Melodien besonders stark

Vor wenigen Wochen hat nun eine britische Forschungsgruppe berichtet, dass die Melodien in der Unterhaltungsmusik zwischen 1950 und 2022 deutlich simpler geworden sind. Als Grundlage diente die Billboard Melodic Music Database, die die Noten der Top-Fünf der US-Singlecharts umfasst. Kriterien für Komplexität waren dabei etwa Variationen der Tonlage und Tonlänge einer Melodie, aber auch, wie klar sich Tonart und Metrum erkennen lassen.

Eine kleine und zwei große Zeitenwenden hat die Studie aus den Melodiedaten herausgearbeitet. Um 1975 sank die Komplexität zum ersten Mal deutlich. Es war die Zeit, als New Wave und Disco sowie der Mainstream-orientierte Stadion-Rock aufkamen. Um 1996 folgte ein kleiner Abfall der Komplexität, den die Forscher mit dem Durchbruch des Hiphop verbinden. Um 2000 schließlich wurden Melodien noch einmal simpler, wahrscheinlich weil ab da digitale Audioworkstations weit verbreitet waren, mit denen Stücke digital bearbeitet und beispielsweise in Schleifen zusammengeschnitten werden konnten. Noch nicht berücksichtigt hat die Studie, wie sich künftig generative künstliche Intelligenz auf die Musik auswirken könnte.

Musik ist heute schneller als früher

Was die Forscher:innen aber auch feststellten: Die Anzahl der Noten pro Sekunde hat sich mit den Jahrzehnten erhöht. Die geringere melodische Komplexität könnte deshalb dazu dienen, Hörer:innen angesichts des Tempos nicht zu überfordern. Außerdem haben die digitalen Möglichkeiten dazu geführt, musikalische Komplexität auch anders als über die Melodie auszudrücken. Weitere Faktoren der Komplexität nämlich, etwa die Kombination von Klängen, habe sich nicht verringert.

links sitzt eine Frau, rechts neben ihr ein Mann, der Mundharmonika und Gitarre spielt
Bob Dylan mit Joan Baez im Jahr 1963, dem Jahrzehnt seiner größten Hits.

Die Forschenden hatten sich auf die Melodie konzentriert, weil diese für die meisten Hörer das wesentliche Element eines Songs ist: Bittet man jemanden, ein Lied vorzutragen, wird man – mit Ausnahme des Rap – die Melodie und nicht etwa die Basslinie oder das Schlagmuster zu hören kriegen.

Liedtexte wurden simpler und verständlicher

Doch auch andere Facetten der musikalischen Entwicklung haben Forscher:innen in den jüngeren Jahren untersucht. Neben der Melodie entscheidet für viele Musikfans der Liedtext, ob sie ein Stück mögen oder nicht. Liedtexte transportieren Emotionen und ähneln mit ihren Elementen wie Rhythmus, Reim, Wiederholung und Metaphern Gedichten. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass 2016 Bob Dylan für seine poetischen Songtexte mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass Dylans große Hits in die 1960er fielen – denn auch die Liedtexte sind zwischen 1970 und 2020 simpler und verständlicher geworden, wie die Analyse von 353.320 englischsprachigen Songs durch ein deutsch-österreichisches Forschungsteam ergeben hat. Als Kriterien für Komplexität galten hier etwa der Umfang des Wortschatzes, die Zugänglichkeit der Aussage und strukturelle Aspekte wie die Zahl der Wiederholungen.

Unterschiede gibt es jedoch zwischen den Stilen: R&B hat besonders viele Wiederholungselemente, während es davon beim Heavy Metal am wenigsten gibt. Rap ist laut der Analyse besonders schwierig zu verstehen, Punk und Blues hingegen eher leicht. Die mit den Jahren leichtere Verständlichkeit über die Genregrenzen hinweg zeigte sich beispielsweise in konkreten Bildern gegenüber komplizierten Metaphern.

Inhalte werden trauriger und antisozialer

Die Studien entdeckten jedoch noch mehr. Schon länger ist bekannt, dass die Lyrik die Emotionen eines Songs verstärken kann – zumindest die negativen Emotionen von trauriger oder wütender Musik. Und derartige Musik gibt es heute häufiger als früher: Bei 6150 Top-100-Songs der Jahre ab 1951 fanden sich bis 2016 immer seltener Gefühle wie Freude und Zuversicht, aber zunehmend Wut, Abscheu oder Traurigkeit. Interessanterweise ergaben weitere Untersuchungen, dass diese Tendenz vor allem den Charts zuzuschreiben ist: Dort fanden sich besonders häufig Songs mit negativen Texten, die dann in ihrem Stil von anderen Künstler:innen kopiert wurden. Eine Ausnahme bildete der Rock, dessen Texte nicht wütender wurden.

Und noch etwas entdeckten die Musikwissenschaftler:innen in den Top-Ten der USA der Jahre 1980 bis 2007: Ich-bezogene und antisoziale Botschaften haben zugenommen, erkennbar etwa an Worten wie „mich“ und „mein“ (me/mine) bzw. „hassen“ und „töten“ (hate/kill). Zurückgegangen sind Begriffe wie „Gespräch“ oder „Kamerad“ (talk/mate) sowie „Liebe“ und „nett“ (love/nice). Und während sich damals wie heute ähnlich viele Songs um Romantik drehen, geht es dabei heute deutlich häufiger um sexuelle Aspekte.

Partymusik bleibt charttauglich

Besonders erfolgreich im Sinne der Chartplatzierung waren übrigens Lieder, deren Texte sich thematisch von ihrem Genre abhoben. Und auch, wenn negative Songs zugenommen haben: Als besonders charttauglich erweisen sich weiterhin fröhliche Songs mit Partystimmung und Tempo.

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