Tagesrhythmus und Kreativität: Wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller arbeiten
Berühmte Autorinnen und Autoren arbeiten häufig in einem regelmäßigen, geradezu eintönigen Tagesrhythmus. Wie gestalten sie ihr Leben und was können wir daraus lernen?
Sie steht jetzt in einer Reihe mit Thomas Mann, Ernest Hemingway, Pablo Neruda, mit Selma Lagerlöf, Doris Lessing und Annie Ernaux: Die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang (geboren 1970 in Gwangju) erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis – „für ihre intensive poetische Prosa, die historische Traumata anspricht und die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens aufzeigt“, so die Begründung des Nobelkomitees.
Der Herbst ist „Nobel“-Jahreszeit. Medien weltweit berichten über die Preisträgerinnen und Preisträger. Die Beschäftigung mit solchermaßen ausgezeichneten Männern und Frauen, mit Menschen, die etwas Außergewöhnliches vollbracht haben, etwas, das die Menschheit voranbringt und an das man sich noch Jahrzehnte später erinnern wird, ist attraktiv.
Es macht womöglich stolz, wenn der/die Ausgezeichnete der eigenen Nationalität angehört oder man sich sonst wie verbunden fühlt. Ich persönlich bin oftmals versucht, mir mindestens eines der Bücher der aktuellen Literatur-Champions zuzulegen oder in der Bibliothek auszuleihen.
Bei Han Kang gab es, dem medialen Überschwang zum Trotz, zur Feier der Auszeichnung keinen Champagner. Sie trank stattdessen Kamillentee, so ist es in der Wochenzeitung Die Zeit nachzulesen. Auch sonst beschreibt sie ihr Leben als vollkommen unaufgeregt und unspektakulär. Völlig anders also, als man es im Allgemeinen von einer Künstlerin und noch dazu von einer nun so prominenten erwartet hätte.
Doch scheinbar liegt das Geheimnis des Außergewöhnlichen häufig gerade in seinem völlig unspektakulären Ursprung. Das zeigen zum Beispiel die Tagesrhythmen, die Han Kang und einige ihrer berühmten Berufsgenossinnen und -genossen an den Tag legen. Sie sind geprägt von geradezu stupider Gleichförmigkeit und Disziplin.
Nach Informationen der Zeit etwa schreibt Han Kang „jeden Vormittag, macht nachmittags einen Spaziergang und geht dann früh zu Bett.“ Die Aufregungen des Lebens lagere sie in ihre Bücher aus. Vielleicht liegt die Verpflichtung zum einfachen und regelmäßigen Lebensstil auch an den Migräneanfällen, die die Schriftstellerin plagen. Diese machen sie zumindest „demütig und erinnern Sie an die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit.“
Die täglichen Rituale berühmter Künstlerinnen und Künstler
Wer sich für die Tagesrhythmen von Künstlerinnen und Künstlern interessiert, kann von einigen im Buch „Musenküsse – Die täglichen Rituale berühmter Künstler“ (erschienen 2014) des US-amerikanischen Journalisten Mason Currey erfahren.
Haruki Murakami (geboren 1949), japanischer Schriftsteller und seit Jahren ebenfalls immer wieder als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt, steht, wenn er gerade an einem Roman arbeitet, „um 4 Uhr auf und arbeitet fünf bis sechs Stunden lang ohne Unterbrechung. Nachmittags geht er laufen oder schwimmen, macht Besorgungen, liest und hört Musik; um 21 Uhr geht er ins Bett“, berichtet Currey.
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Murakami hält sich jeden Tag sehr genau an diesen Rhythmus: „Ich hypnotisiere mich selbst, um auf eine höhere Bewusstseinsebene zu gelangen“, äußerte er sich einmal gegenüber der amerikanischen Literaturzeitschrift The Paris Review. Das viele Sitzen verlangt einen Ausgleich in sportlicher Betätigung. Murakami ernährt sich zudem hauptsächlich von Gemüse und Fisch. Der Nachteil an dieser Lebensweise: Sie lässt ein Sozialleben kaum zu.
Konzentration durch gleichförmigen Tagesrhythmus
Der irische Schriftsteller und Dichter William Butler Yeats (1865 bis 1939, Literaturnobelpreis 1923) fällt in Mason Currys Buch ebenfalls durch seine straffe Tagesstruktur auf: „Ich lese von 10 bis 11 Uhr. Ich schreibe von 11 Uhr bis 14 Uhr, nach dem Mittagessen lese ich bis 15.30 Uhr. Anschließend gehe ich in den Wald und angele bis etwa 17 Uhr. Dann schreibe ich Briefe oder arbeite ein bisschen, und um 19 Uhr gehe ich vor dem Abendessen noch eine Stunde spazieren.“
Yeats schrieb jeden Tag mindestens zwei oder drei Stunden. Nur bei einem gleichförmigen Tagesrhythmus konnte er sich genügend auf seine Arbeit konzentrieren. All das, was er schrieb, musste er sich mühsam erarbeiten. Bei seinem Arbeitsstil kommt mir weniger das Bild einer Tintenfeder in den Kopf, die leicht über einen Bogen weißen Papiers schwebt, als viel mehr Hammer und Meißel, mit denen der Dichter die Wörter wie aus einem Felsblock freilegt: „Mehr als fünf oder sechs gute Zeilen habe ich noch nie an einem Tag geschafft“, schreibt Yeats selbst über sein Arbeitstempo.
Virginia Woolf schrieb mit der Regelmäßigkeit eines Börsenmaklers
Ein Jahr bevor die diesjährige Nobelpreisträgerin Han Kang geboren wurde, starb Leonard Woolf (1880 bis 1969), der Ehemann der britischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882 bis 1941). In seinen Erinnerungen „Mein Leben mit Virginia“ beschreibt Leonard den Tagesrhythmus seiner Frau: „Wie die meisten professionellen Autoren ging sie, wenn es ihr gut ging, jeden Tag in ihr Zimmer und schrieb, mit der gleichen Regelmäßigkeit, mit der ein Börsenmakler zwischen seiner Wohnung im Vorort und seinem Büro (..) pendelt, an ihrem Roman.“
Zwar sei ihr Zimmer lange nicht so aufgeräumt gewesen wie das Büro eines Finanzmenschen – Virginia hatte wohl die Angewohnheit, „Kerrichthaufen“ aus Bindfäden, angebrannten Streichhölzern, zerknüllten Briefumschlägen und Manuskripten anzuhäufen. Aber der Schreibprozess an sich lief stets nach dem gleichen strengen Schema ab: „Der erste Entwurf all ihrer Romane wurde morgens mit Feder und Tinte in eines ihrer Notizbücher geschrieben. Später am Vormittag oder nachmittags (..) tippte sie das ab, was sie in dem Notizbuch entworfen hatte, wobei sie während des Tippens den Text überarbeitete.“
Der getaktete Lebensstil der Autorin mag damit zu tun haben, dass die Schriftstellerei ein Handwerk ist, ein harter Job, der mit vielen, vielen Stunden allein am heimischen Schreibgerät verbunden ist und der der Kreativität gerade durch die enge äußere Form den Raum gibt, sich zu entfalten.
Die Kunst zwischen Zucht und Zügellosigkeit
Für Thomas Mann (1875 bis 1955), der sich stets werktags zwischen 9 und 12 Uhr in sein Arbeitszimmer zum Schreiben zurückzog und nicht gestört werden durfte, ist es die Verschmelzung von „Zucht und Zügellosigkeit“, die Kunst hervorbringen kann: „Wer enträtselt Wesen und Gepräge des Künstlertums? Wer begreift die tiefe Instinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit, worin es beruht!“, schreibt Mann in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“.
Die niederländische Philosophin Marli Huijer zitiert in ihrem Buch (erschienen 2016) „Disziplin – Überleben im Überfluss“ den Gegenwartsautor Arnon Grunberg, der viele Jahre täglich eine Kolumne (insgesamt weit über tausend) für die niederländische Tageszeitung de Volkskrant schrieb. Wie er das denn neben seiner Arbeit als Schriftsteller hinbekomme? „Mit Disziplin“, so seine Antwort.
„Er habe keine Wahl, es sei wie mit einem Neugeborenen zu Hause, man müsse ganz dafür leben. Aus diesem Grunde mache er auch nie Urlaub. Es würde ihn zu viel Mühe kosten, danach wieder zur Routine zurückzufinden. Er vergleicht es mit dem Marathonlaufen. Ohne dauerndes Training lasse auch dort die Leistung sofort nach“, zitiert Huijer ihren Landsmann.
Aber auch die Zeiten des Marathonlaufes und des Trainierens dafür sind einmal vorbei. Grunberg, der seit 1995 in New York lebt, ist seit vier Jahren Vater. Möglicherweise hat diese wichtige Lebensveränderung auch dazu beigetragen, dass seine tägliche Kolumne aktuell „nur“ noch wöchentlich erscheint – und er hin und wieder (hoffentlich) ein wenig Urlaub macht.
Jeden Tag zur gleichen Zeit
Was bleibt: Die Schriftstellerei hat wohl kaum etwas mit der Vorstellung von einer Person zu tun, die sich hin und wieder verträumt an den Schreibtisch setzt, der die Wörter nur so aus der Hand fließen und die in Nullkommanichts einen Bestseller verfasst. Die Kreativität lebt vielmehr von der Regelmäßigkeit, von Geduld und Ausdauer, aber auch von Überraschung.
Keine könnte es schöner ausdrücken als die US-amerikanische Autorin Anne Lamott in ihrem Bestseller „Bird by Bird“: „Du setzt dich. Du versuchst, dich jeden Tag ungefähr zur gleichen Zeit hinzusetzen. So trainierst du dein Unbewusstes, sich kreativ zu betätigen. Du setzt dich also jeden Morgen um, sagen wir, neun Uhr, oder jeden Abend um zehn. Du legst ein Stück Papier in die Schreibmaschine oder schaltest deinen Computer ein (…) und starrst dann eine Stunde lang darauf. (…) Du schaust an die Decke und auf die Uhr, gähnst und starrst wieder auf das Papier.“
Dann passiert das Geheimnis: „Mit den Fingern auf der Tastatur zeigt sich schemenhaft ein Bild, das sich in deinem Kopf formt – eine Szene, ein Ort, eine Figur, was auch immer – und du versuchst, deinen Geist zu beruhigen, damit du hören kannst, was die Landschaft oder die Figur zu sagen hat, jenseits all der anderen Stimmen in deinem Kopf.“
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