„Die Kolonialisierung ist nicht abgeschafft, weil eine Ministerin es sagt.“
Francisco Marí von Brot für die Welt plädiert dafür, den Globalen Norden stärker in die Pflicht zu nehmen. Ohne einen holistischen Ansatz und eine Neustrukturierung der Handels- und Agrarbeziehungen mit Afrika ließen sich die Entwicklungsziele wie „Kein Hunger“ und „Keine Armut“ nicht erreichen.
Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Serie über nachhaltige Entwicklungsziele und tech-basierte Lösungen aus Afrika, die wir mit einer afrikanisch-deutschen Community diskutieren.
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An den ersten beiden Stellen der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) stehen die Bekämpfung von Hunger und Armut. Doch wie sind „Keine Armut“ und „Kein Hunger“ konkret umsetzbar? Wie realistisch ist die Erreichung dieser Ziele und wie müssten sich globale Strukturen ändern, um sie zu erreichen?
Herr Marí, als das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Ende Januar seine neue Afrika-Strategie vorgestellt hat, sagte Ministerin Svenja Schulze, damit wolle man die Dekolonialisierung der Zusammenarbeit erreichen. Ist das gelungen?
Francisco Marí: Dekolonialisierung ist ein großes Wort. Deutschland ist eingebettet in die Gesamtstruktur der Europäischen Union, deren Rahmen bindender ist als die bilaterale Zusammenarbeit, und natürlich auch in die Vereinten Nationen, die G7 und natürlich in Bezug auf Handelsbeziehungen auch die Rahmenbedingungen der WTO. Diese Rahmenbedingungen basieren auf den alten kolonialen Beziehungen. Davon kann sich Deutschland nicht ganz lösen und es hat natürlich auch eigene Interessen. Das haben wir ja in den letzten Wochen mit den vielen Reisen deutscher Politikerinnen, Frau Schulze selbst, aber auch der Außenministerin und dem Bundeskanzler, erlebt. Eigentlich wäre es besser, anzuerkennen, dass es aufgrund der Machtunterschiede keine Beziehungen auf Augenhöhe sein können, grundsätzlich nicht. Es gibt zwar durchaus Ansätze, die Beziehungen zu ändern, aber die Kolonialisierung ist nicht abgeschafft, weil eine Ministerin es sagt.
Was müsste geschehen, zum Beispiel in Hinblick auf die Handelspolitik, um diese Dekolonialisierung, wenn man sie schon nicht von heute auf morgen erreichen kann, zumindest anzustoßen?
Die Verhandlungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ziehen sich seit 20 Jahren hin. Das Ziel der EU war damals, all die Produkte, die auch früher, auch für die deutschen Kolonien, schon wichtig waren – also Palmöl, Agrarprodukte und mineralische Rohstoffe – weiterhin zollfrei nach Europa einführen zu lassen. Allerdings wird seitdem darauf gedrängt, dass sich im Gegenzug auch die afrikanischen Märkte öffnen müssen. Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit – auch wenn da ein paar Puffer eingebaut wurden mit besserem Schutz für Agrarprodukte – ist geblieben und hat auf dem Kontinent zu einem unglaublichen Flickenteppich von Sonderbeziehungen zu Europa geführt, da nicht einmal ein Dutzend afrikanischer Staaten sich auf diese bilateralen Abkommen eingelassen hat.
Dazu kommt jetzt die Initiative der afrikanischen Staaten, eine eigene gemeinsame Freihandelszone untereinander zu schaffen. Bisher bestehen die Handelsbeziehungen Afrikas vor allem mit Europa, wohin Rohstoffe und Agrarprodukte ausgeführt werden, aber der Binnenhandel wird marginalisiert. Er liegt in Afrika bei rund 20 Prozent, während er in der EU zum Beispiel 80 bis 90 Prozent ausmacht. Die afrikanische Freihandelszone ist der richtige Ansatz, um das zu verändern. Diese Zone wird aber zerschnitten, konterkariert durch diesen Flickenteppich.
Durch die bilateralen Abkommen Europas mit einzelnen afrikanischen Staaten…
Genau, denn damit ist Europa quasi Teil der afrikanischen Freihandelszone. Die EU hat zum Beispiel sehr gute Freihandelsabkommen mit Marokko, mit Ghana, mit Kenia und mit dem südlichen Afrika. Das heißt, wenn diese Länder sich gegenüber ihren Nachbarn öffnen, dann betrifft dies auch die Nachbarländer. Es gibt zwar die sogenannten Ursprungsregeln: Nigeria könnte zum Beispiel verhindern, dass Benin Waren exportiert, die auch aus Europa stammen. Aber da müssten die Zollbehörden in jedem Land aufrechterhalten werden, um zu schauen, ob der Joghurt aus Benin, der nach Nigeria kommt, mit Beniner Milch produziert wurde oder mit europäischem Milchpulver. Jetzt können Sie sich vorstellen, dass die Zollämter in diesen Ländern bei den langen Landgrenzen einiges zu tun hätten. Jeden Joghurt zu prüfen ist fast unmöglich.
Und dies kommt der EU zugute.
Da hat sich Europa sehr strategisch verhalten. Davon ist aber keine Rede, wenn in der Afrika-Strategie die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen erwähnt werden. Wir fordern ein Einfrieren dieser Abkommen, die schon innerhalb der Region die Länder zerrissen haben. Westafrika ist ein typisches Beispiel. Da gibt es nur zwei Länder mit Abkommen mit der EU, aber eine Wirtschaftsunion, die relativ erfolgreich ist, die sogar Freizügigkeit von Gütern und Menschen ermöglicht. Aber Ghana und Cote d'Ivoire müssen ihre Märkte der EU öffnen und ihre Nachbarn nicht. Und in Ostafrika haben wir seit Wochen das große Problem, dass Kenia sich sozusagen aus der Ostafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft fast verabschiedet, weil es nicht nur mit Europa, sondern nach dem Brexit ein quasi gleiches Abkommen mit Großbritannien geschlossen hat. Das heißt, britische Artikel werden zollfrei in diese Länder hineindrängen. Jetzt drängen die USA auch noch auf einen bilateralen Vertrag. Kenia bricht also aus dem Abkommen aus, zu Ungunsten der anderen Staaten. Tansania ist sauer ohne Ende, Uganda ebenfalls. Stellen Sie sich einfach mal vor, wenn in Europa so was passieren würde: Frankreich würde mit China ein Abkommen machen, Bulgarien vielleicht mit der Ukraine und Dänemark mit den USA, bei einem gemeinsamen Binnenmarkt. Das wäre Chaos.
Die Fragen der Handelspolitik sind eng verknüpft mit der Agrarwirtschaft, mit Hunger- und Armutsbekämpfung. In ihrer Presseerklärung zur Afrika-Strategie des BMZ schreiben Brot für die Welt und Misereor, die Ursachen und Wirkungen der Ernährungskrise, die verschiedene Länder des Kontinents im Moment erleben, würden durchaus richtig benannt, aber es fehle an konkreten Maßnahmen. Wie müssten die denn Ihrer Meinung nach aussehen?
Wir kritisieren vor allem, dass man sich selbst ausnimmt, auch wenn Landwirtschaftsminister Özdemir ein bisschen weiter ist als seine Kollegen – zum Beispiel im Vergleich zum europäischen Agrarkommissar, der wirklich blind dafür ist, was momentan eigentlich passiert, und dann noch stolz darauf ist, dass Europa der größte Exporteur der Welt ist. Aber das ist ja genau das Problem: Grundrechte wie das Recht auf Nahrung dürfen nicht ein Spielball der freien Märkte sein, der Börsen, der Abhängigkeiten, der Volatilität und Krisenanfälligkeit. Dass wir krisenfeste Systeme brauchen, die zumindest die Grundbedürfnisse abdecken, wie Bildung, Gesundheit, aber eben vor allem Nahrung, hat man zwar nach der letzten Ernährungskrise 2008/2009 erkannt. Aber man geht sehr widersprüchlich damit um.
Was müsste denn Ihrer Meinung nach passieren?
Man müsste die Abhängigkeiten reduzieren durch eine viel massivere Unterstützung der lokalen Produktion. Tunesien ist zwar schon seit Jahrhunderten vom Weizen abhängig, aber im Süden Tunesiens wie im Süden Ägyptens wurde früher Sorghum angebaut und das war viel besser an die lokalen Gegebenheiten angepasst. Daraus kann man vielleicht nicht das französische Baguette backen, aber Fladenbrot. Niger und Mali zum Beispiel haben ja aufgrund ihrer Binnenlage die Situation, dass sie keine direkten Häfen haben. Sie ernähren sich bis heute zu 80,90 Prozent aus lokalem Getreide und sind nicht in die gleiche Situation der Weizenabhängigkeit gekommen wie Tunesien, Marokko, Ägypten, aber auch Senegal oder Somalia, die auf die Importe angewiesen sind. Sie haben zwar auch Probleme, weil die Transportkosten zu teuer sind, aber die Unabhängigkeit ist da.
Wann sind die Abhängigkeiten entstanden, die Sie beschreiben?
In den Neunziger- und Nullerjahren kam die Idee auf, dass die afrikanischen Staaten für den Weltmarkt Nahrungsmittel produzieren sollen, die bei uns relativ teuer sind – Gemüse, Nüsse, Kakao, Kaffee – und mit den Einnahmen billig bei uns unsere subventionierten Billigprodukte wie Hühnchen, Milch und Weizen einkaufen. Das war die Idee der Weltbank zur wirtschaftlichen Entwicklung des Agrarsektors in Afrika. Die GTZ (heute: GIZ, Anm.d.Red), alle haben das gefördert.
Vor allem seit der Krise 2008 / 2009 versucht man jetzt in eine moderne Landwirtschaft zu investieren und tauscht eine Abhängigkeit durch eine andere aus: Viele Länder haben zum Beispiel den Maisanbau wahnsinnig gesteigert und die lokalen Produkte – im Senegal zum Beispiel die eigene Hirse, die wenig Wasser und wenig Düngemittel braucht – vernachlässigt zugunsten des Mais. Aber der ist sehr stark abhängig von Kunstdünger, also von importiertem Dünger. Und jetzt steht zu befürchten, dass die nächste Ernte in Afrika gering ausfallen wird, weil sich die Bäuerinnen und Bauern den Dünger nicht leisten können, weil auch die Pestizide teurer geworden sind. Da sind wir nicht ganz sicher, ob Frau Schulze wirklich die Alarmglocken gehört hat. In der Initiative für Ernährungssicherheit, bei der auch die Weltbank ganz prominent beteiligt ist, stehen bis zu 30 Milliarden Dollar Kredite für zum größten Teil Einkauf von Dünger drinnen. Die Länder verschulden sich also erneut, um wieder Dünger zu kaufen. Damit machen vor allem die Düngemittelkonzerne Profite.
Sie meinen also, man müsste wegkommen von der Idee der Ernährungssicherheit hin zur Ernährungssouveränität? Ist das denn, angesichts der Rahmenbedingungen – der Klimakrise zum Beispiel, die viele afrikanische Länder besonders hart trifft – überhaupt realistisch?
Es geht nicht um Autarkie. Das wird nicht gehen. Was wir brauchen, sind Krisenmechanismen, die schnell greifen können bei hohen Preisen und die Spekulation auf diesen Märkten reduzieren. Bleiben wir beim Weizen: Das heißt, wenn es zu Knappheiten kommt wie momentan, dann müssten die Länder, die Getreide gelagert haben, dieses auf den Markt bringen. Aber Agrarexport-Staaten haben gar kein Interesse daran, dass diese Abhängigkeit reduziert wird. Da brauchen wir Mechanismen, denn wir werden auch in den kommenden Jahrzehnten immer wieder Situationen haben, in denen man schnell auf gelagerte Nahrungsmittel zurückgreifen muss. Früher haben viele Länder vor Ort gelagert und waren unabhängig.
Aber in Afrika wurde dies quasi von der Weltbank abgeschafft, weil man die Subventionierung dieser Lagerung und den Aufkauf von Getreide durch den Staat verboten hat. Man wollte ja insgesamt wegen der Verschuldung die staatlichen Ausgaben reduzieren, um Schulden abzubauen. Man muss auch weg von den drei, vier großen Getreidesorten, also Mais, Weizen und Reis, zurück zu mehr lokalen Sorten.
Und lokalen Lösungen?
Es gibt keine Einzellösung, die für alle funktioniert, aber es muss einen Mechanismus geben im Welternährungsausschuss, indem zum Beispiel Bäuerinnen und Bauern in einer Nachbarregion von Hungergebieten gefördert werden. Nehmen Sie Kenia: Dort fällt jetzt, glaube ich, schon das fünfte Jahr in Folge die Ernte gering aus. Aber im Süden Kenias, am Mount Kenia, da kann noch angebaut werden, da ernähren sich die meisten Menschen gut. Denen müsste gesagt werden: Ihr könnt mehr produzieren, wir kaufen euch das zu vernünftigen Preisen ab für die Unterstützung im Norden. Oder nehmen Sie Kamerun: Der Süden Kameruns ist fruchtbar, die Landwirtschaft ist aber nicht so produktiv und der Norden hungert. Da gibt es sicher Möglichkeiten, noch mehr zu machen. Es ist außerdem wichtig, dass Wissensaustausch stattfindet. Bäuerinnen und Bauern in Mali haben schon immer sozusagen in der Klimakrise gelebt. Dort muss man anders anbauen als in fruchtbaren Gebieten in Kenia, in Indien oder in Ghana. Auch der Austausch von Saatgut und Sorten und die Saatgutforschung muss gefördert werden, damit es nicht zu neuen Abhängigkeiten kommt.
Eindrücke von vor Ort: Wie sich Armut und Hunger im Alltag bemerkbar machen
Hier kommt eine Scroll Galerie. Wenn Sie Sound in den Videos hören möchten, sollten Sie dies hier aktivieren:
Mayssa Mrabet, Leiterin des Inkubations-Programms des Afkar Think Tank, Tunesien
Noxolo Mbokoma, Geschäftsführerin der Non-Profit-Organisation von Zenzeleni Community Networks, Südafrika
Wir beschäftigen uns in unserer Artikelserie mit den Nachhaltigen Entwicklungszielen: Kein Hunger und keine Armut mehr bis 2030 steht dort unter anderem drinnen. Wir haben 2023. Wie realistisch ist das?
Vollkommen unrealistisch. Ich gehe nicht davon aus, dass es umsetzbar ist. Selbst die Vereinten Nationen erkennen an: Wenn wir es schaffen, die Zahl der Hungernden bis 2030 von 800 Millionen auf 600 Millionen zu reduzieren, dann ist das schon gut angesichts der Tatsache, dass wir immer wieder neue Krisensituationen haben, aber keinen Mechanismus, der das abfedert. Da geht es eigentlich auch weniger um die Agrarproduktion, denn wir haben ja genug Nahrungsmittel.
Das heißt, es handelt sich primär um ein Verteilungsproblem?
Nicht nur, es geht auch um Verschwendung. Die Hälfte der Lebensmittel, die geerntet werden, werden gar nicht in den Nahrungskreislauf eingebracht. Deswegen wird diese Frage von Null Hunger nicht gelöst werden ohne vernünftige soziale Sicherungssysteme. Das ist umso wichtiger, weil wir es nicht mehr nur mit eng lokalisierbaren Hungersituationen zu tun haben. Es sind nicht nur zehn Millionen Hungernde in Somalia und vierzig Millionen in Äthiopien, sondern es wird innerhalb vieler Länder Schichten geben, die tatsächlich nur eine Mahlzeit am Tag haben. Und wir werden Situationen erleben, in denen aufgrund der Klimakrise plötzlich eine ganze Ernte ausfällt und dann über ein oder zwei Jahre Hunger herrscht. Und da brauchen wir andere Systeme.
Die SDGs (Sustainable Development Goals, dt. Ziele für Nachhaltige Entwicklung, Anm.d.Red) muss man zusammen denken. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit muss an die Frage der sozialen Sicherungssysteme ran. Aber da stellt sich die Frage, woher die Mittel kommen sollen. Und da sind wir wieder bei der Handels- und Rohstoffpolitik. Jetzt soll zum Beispiel grüner Wasserstoff in Namibia produziert, aber in Duisburg im Stahlwerk verarbeitet werden. Die Arbeitsplätze in Duisburg werden erhalten und kaum welche in Namibia geschaffen.
Dann wird es keine Steuereinnahmen für Namibia geben, um soziale Sicherungssysteme zu schaffen. Die afrikanischen Länder müssen die Chance haben, Industrie, Wertschöpfung, Steuereinnahmen, Arbeitsplätze zu schaffen, die den Staaten die Möglichkeit geben, auf solche Krisen wie eine Hungerkrise zu reagieren – so wie wir das in Deutschland auch haben. Wenn wir das nicht tun, sind wir wieder bei dem kolonialen Ansatz, dass wir diejenigen sind, die sie wieder retten.
Das Projekt wurde gefördert von dem European Journalism Center, durch das Programm Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird unterstützt von der Bill und Melinda Gates Foundation.