Wie ein britischer Anwalt für Klimaschutz und die Rechte der Natur kämpft
Unser Rechtssystem ist darauf ausgerichtet, die Natur zu zerstören, sagt Paul Powlesland. Besuch bei einem Anwalt, der sich für Klimaprotestierende und Bäume einsetzt – und einem Fluss im Osten Londons rechtlichen Status geben will.
Steigende Meeresspiegel, häufigere Dürren, verheerende Überschwemmungen – die Folgen des Klimawandels sind weltweit spürbar. Doch rund um den Globus suchen Menschen nach Lösungen, die das Schlimmste verhindern können: Ressourcen nachhaltiger nutzen, neue Wege für die Landwirtschaft oder politisches Engagement für klimabewusstes Handeln. An jedem zweiten Mittwoch im Monat lesen Sie hier, wie Menschen weltweit gegen die Klimakrise kämpfen.
Wer Paul Powlesland besuchen will, muss in die Wildnis von Ostlondon. Es beginnt wenig vielversprechend. Von der Bahnstation Barking geht es eine Viertelstunde zu Fuß durch schmucklose Wohnsiedlungen, dann über eine Brücke, unter der sich gerade zwei Männer auf einem Kahn streiten („careful how you fucking talk to me, mate!“). Drei Ratten, die neben einem Abfalleimer nach Essbarem stöbern, huschen schnell ins Gebüsch. Aber wenn man dem Uferpfad entlang ein Stück weiter geht, wird es zunehmend lauschig. Auf der einen Seite wachsen Pappeln und Ahornbäume, das Gras ist hüfthoch, auf der anderen breitet sich das Röhricht aus. Der Autolärm wird leiser, man beginnt Vogelgezwitscher zu hören.
Aus dem Schilf tritt Paul Powlesland mit einem fröhlichen „good morning!“ hervor. Er ist adrett gekleidet, ein gestreiftes Hemd, seine langen blonden Haare sind zu einem etwas schiefen Knoten gebunden. Powlesland, 38, ist Anwalt, im britischen Justizsystem lautet seine Jobbezeichnung barrister. Er ist also einer jener eloquenten Fürsprecher, die im Gerichtssaal Wort führen, gekleidet in eine schwarze Robe, manchmal mit der traditionellen weißen Perücke auf dem Kopf. In diesem altehrwürdigen Look legt sich Powlesland bevorzugt für Menschen ins Zeug, die sich gegen die Mächtigen auflehnen, um die Natur und das Klima zu schützen. Für Leute, die Land besetzen, um gegen Fracking zu protestieren; die auf Bäume klettern, um Wälder vor der Abholzung zu retten; und die Straßen blockieren, um die Regierung angesichts der Klimakrise zum Handeln zu zwingen. Es war dieses Engagement für Aktivistïnnen, das ihn dazu bewog, selbst in die Natur zu ziehen.
Powlesland führt entlang eines schmalen Stegs, zusammengeschustert aus Gerüstmaterial, durchs dichte Schilf. Unten am Wasser weitet sich der Steg zu einer Plattform, auf der er eine Art Frischluft-Wohnung hergerichtet hat: Ein paar Ledersessel, ein Holztisch mit Shisha-Pfeife, eine metallene Badewanne, die sich mit Holzfeuer beheizen lässt. Die kleine Hütte, die daneben steht, ist eine Sauna. Geschlafen und gekocht wird im Hausboot, das unweit vertäut ist. Dorthin verschwindet Powlesland jetzt, kurze Zeit später kommt er mit zwei Tassen starken Kaffees wieder und lässt sich aufs Sofa fallen.
Er sei vor sieben Jahren hierhergekommen, an den Fluss namens Roding, erzählt er. Im nordenglischen Sheffield habe er Protestierende verteidigt, die die Abholzung von 17.000 Bäumen für ein Bauprojekt verhindern wollten. Er wohnte schon damals auf einem Hausboot, aber die Baumproteste inspirierten ihn, selbst irgendwo in der Natur zu leben, „um mich für ihren Schutz einzusetzen. Ich fand diesen Fluss hier in London. Damals war mir noch nicht bewusst, wie wichtig er für mich werden würde.“
Veraltete Denkmodelle
Powleslands Job als Verteidiger der Natur und der Proteste ist kein leichter. Denn die Beziehungen zwischen Recht, Umweltschutz und Klimakrise sind voll von Widersprüchen und Konflikten. Offensichtlichstes Beispiel ist die Art und Weise, wie Klimaprotest in Großbritannien geahndet wird. Letztes Jahr hat die konservative Regierung ein Gesetz verabschiedet, das das Recht auf Protest stark beschnitten hat. Viele Handlungen wurden kriminalisiert. Jetzt gilt beispielsweise: Wer sich an einem Objekt festmacht, begeht eine Straftat; wer einen Tunnel gräbt und so eine größere Störung verursacht, begeht eine Straftat; wer eine „wichtige nationale Infrastruktur“ blockiert, etwa eine Autobahn, begeht eine Straftat.
Einige konkrete Beispiele haben für Schlagzeilen gesorgt. So wurde etwa Leuten, die wegen friedliches Protests angeklagt wurden, vom Richter verboten, in ihrer Verteidigung die Begriffe „Klimawandel“, „Energiearmut“ oder „Bürgerrechtsbewegung“ zu erwähnen. Ein 57-jähriger Mann wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil er eine Londoner Straße durch langsames Gehen blockierte. Die UNO kritisierte Großbritannien im Januar für die „drakonischen“ neuen Gesetze.
Für Powlesland hat das eine bittere Ironie. „Wenn wir uns an die heutigen Gesetze halten, wird das zum Zusammenbruch unserer Gesellschaft und somit auch der Rechtsstaatlichkeit führen. Denn der Rechtsstaat kann eine Erderwärmung von 1,5 oder – wahrscheinlicher – 2 Grad, mit all den gesellschaftlichen Folgewirkungen, nicht überleben.“ Das klingt dramatisch – aber es ist eine Warnung, der sich unzählige Wissenschaftler anschließen: Im Oktober unterschrieben 15.000 Forscher aus 163 Ländern einen Bericht, der vom gesellschaftlichen Kollaps warnt, unter anderem ausgelöst durch Wasser- und Nahrungsmittelknappheit. „Wenn es nicht genügend Essen gibt, werden die Gesetze nicht verhindern können, dass Supermärkte geplündert werden“, sagt Powlesland.
Ein Problem sei, dass das Rechtssystem mit veralteten Denkmodellen arbeite. „Diese Konzepte sind drei- oder vierhundert Jahre alt“, sagt Powlesland. „Sie stammen also aus einer Zeit, als die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung viel enger war. Um jemanden zu töten, musste man in seiner Nähe sein. Das ist heute nicht mehr der Fall – ich kann heute Kohlestoff in die Atmosphäre pumpen, und in einigen Jahrzehnten wird dies zum Tod von Menschen in Indonesien beitragen. Das Rechtssystem hat sich noch nicht an solche Tatsachen angepasst.“
Powlesland weigert sich, mitzumachen. Er hat vor einigen Jahren eine Gruppe namens Lawyers are Responsible („Anwälte sind verantwortungsvoll“) gegründet. Es ist ein Zusammenschluss von mehr als 200 britischen Juristinnen und Juristen, die sich verpflichtet haben, sich erstens nicht an der strafrechtlichen Verfolgung von Klimaprotestierenden zu beteiligen, und zweitens nicht für Unternehmen zu arbeiten, die an der Gewinnung fossiler Energie beteiligt sind. „Dies ist die Position, zu der die Logik des Kampfs gegen den Klimawandel führt.“
Es ist eine eher symbolische Weigerung, das weiß auch Powlesland. Aber er nutzt seine rechtliche Expertise auch für einen Zweck, der deutlich greifbarer ist – und sehr konkrete Konsequenzen haben könnte. Zum Beispiel hier, am Roding.
Garantierter Gesetzesbruch
Powlesland schaut auf den Fluss und sagt: „Schau ihn dir doch mal an. Er liegt im Sterben.“ Gemächlich treibt Londons drittgrößter Fluss vor sich hin, seine Farbe ist dunkelgrün-braun und trüb. „Er sollte nicht so aussehen. Wie soll ein Eisvogel hier fischen können, wenn er nichts sieht?“ Der Schlamm im Röhricht sei voll von Abfall – „er ist wortwörtlich zugekleistert mit Plastik und anderem Müll.“ Vor einigen Wochen sei es einige Tage lang trocken gewesen, da habe er den Flussgrund sehen können. Er sei sogar schwimmen gegangen. „Aber sobald es regnet, wird alles braun.“ Es ist eine Kombination aus Abwasser, das der lokale Wasserbetrieb in den Fluss pumpt, und sogenanntem road runoff, also Wasser, das von Straßen abfließt – und jede Menge Schadstoffe mit sich bringt.
Er habe rein durch Zufall gemerkt, dass hier rohe Fäkalien durchfließen. „Ich spazierte entlang des Flusses, und auf einmal bemerkte ich einen fürchterlichen Gestank“, erzählt er. Tatsächlich: Aus einem Rohr wurde Abwasser in den Roding geleitet. In Extremsituationen, etwa bei starkem Regen, dürfen die englischen Wasserbetriebe dies – es soll verhindern, dass das Abwasser zurück in die Haushalte fließt. „Aber Thames Water, der lokale Wasserversorger, pumpt das Zeug einfach so in den Fluss, ohne Not. Das ist illegal.“ Die Umweltverschmutzung durch die privatisierten englischen Wasserkonzerne sorgt seit Jahren für Aufsehen. Der Skandal macht regelmäßig für Schlagzeilen und hat Rufe nach einer Wiederverstaatlichung lauter werden lassen.
Wie ist es möglich, dass so etwas passiert? „Weil es niemanden gibt, der die Rechte des Flusses wahrnimmt“, sagt Powlesland. Eigentlich wäre die Umweltagentur zuständig, die Environment Agency (EA) – aber es fehlt am Personal und an den Ressourcen, um Verstöße zu ahnden. Seit 2010 hat die EA etwa die Hälfte ihres Budgets verloren. Aber für Powlesland geht das Problem tiefer: Es gehe um den source code des Rechts, den Quellcode, wie er es ausdrückt: Die Art und Weise, wie das Recht beschaffen ist, und wie es angewandt wird. Wenn eine Partei keine Möglichkeit hat, das Recht durchzusetzen – der Fluss –, und eine andere Partei vom Gesetzesbruch profitiert – der Wasserbetrieb –, dann sei es garantiert, dass das Gesetz gebrochen wird.
Ein Teil dieses Quellcodes ist beispielsweise der Umstand, dass Konzerne juristische Personen sind. Das heißt, sie können klagen und beklagt werden. „Es ist eine reine Fiktion, die irgendwann im 19. Jahrhundert zu einer juristischen Tatsache gemacht wurde“, sagt Powlesland. „Stellen wir uns vor, wir ändern die Gesetze und sagen: Unternehmen sind keine Personen mehr.“ Wenn Mr. Smith beispielsweise ein paar Kisten Champagner aus dem Supermarkt mitgehen lässt, dann müsste sich der Supermarkt an eine Behörde wenden, nennen wir sie die „Unternehmensbehörde“. Bei der wird er sich beschweren, dass Mr. Smith gestohlen hat. Die Behörde ist aber überarbeitet, nur fünf Prozent der Fälle von Diebstahl werden tatsächlich geahndet, und so müsste sich der Supermarkt wohl einfach damit abfinden, dass Mr Smith nun kostenlos seinen Champagner nippt. „Was würde passieren? Es würde sich rumsprechen, dass man hier im Prinzip gratis Waren besorgen kann“, sagt Powlesland. „Der Supermarkt würde innerhalb von Wochen Pleite gehen.“
Genau so verhält es sich mit der Natur. „Es ist ein Beleg für die Vorstellungskraft der Anwälte, dass sie Unternehmen, also fiktionale Konstrukte, zu rechtlichen Personen gemacht hat, bevor sie der Natur – die tatsächlich existiert und von der wir für unser Überleben abhängig sind – dieselben Rechte zugesprochen haben.“ Seit hunderten von Jahren herrsche ein System, das es den Menschen erlaube, die Natur auszubeuten. Das will er ändern. Der Natur ihre eigenen Rechte zu geben, sei entscheidend, um sie zu retten.
Die Bewegung nimmt Fahrt auf
Es ist ein Konzept, das weltweit zunehmend Zuspruch findet. Als erstes Land führte Ecuador 2008 eine Verfassungsänderung ein, laut der die Natur ein Recht auf Existenz, Erhalt und Regeneration hat. Das hatte schon konkrete Folgen: 2021 konnten Pläne zum Gold- und Kupferabbau gestoppt werden. Seither sind in vielen anderen Ländern Kampagnen gegründet worden, um die Rechte der Natur gesetzlich zu verankern. Spanien erließ 2022 ein Gesetz, das der Lagune Mar Menor am Mittelmeer Personenrechte übertrug.
Auch in Großbritannien ist in den vergangenen Jahren eine Bewegung entstanden, die einzelnen Naturgebieten Rechte zusprechen will. Rund ein Dutzend Kampagnen setzen sich dafür ein, dass bestimmte Flüsse ihre eigenen Rechte erhalten. Einen ersten Durchbruch haben Aktivistïnnen in der südenglischen Kleinstadt Lewes erreicht: Der Kommunalrat beschloss im Dezember, Möglichkeiten zu erkunden, wie man dem Fluss Ouse solche Rechte geben kann.
Das will Paul Powlesland letzten Endes auch für den River Roding erreichen. Es ist für ihn mehr als ein Fluss: „Ich habe eine spirituelle Beziehung zum Roding“, sagt er. Bei den Rechten der Natur gehe es darum, die symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Natur, wie sie im Weltbild vieler indigener Völker existiert, in den westlichen Rechtskodex zu übertragen. „Stell dir vor, der Roding hätte Rechte“, sagt er. „Wenn Thames Water Abwasser im Fluss entsorgen würde, könnte ich das Unternehmen verklagen, ein Unterlassungsurteil erwirken und Schadenersatz fordern. Es würde den Schutz dieses Naturgebiets unendlich viel einfacher machen.“
Powlesland ist sich sicher, dass die Bewegung in den kommenden Jahren an Schwung gewinnen wird. Dafür sei aber auch entscheidend, dass die Menschen in Großbritannien sich des Werts der Natur stärker bewusst werden, indem sie Zeit darin verbringen, sagt er. „Je vertrauter die Menschen mit der Natur sind, desto mehr setzen sie sich für ihren Schutz ein.“ Deshalb versucht er, die Lokalbevölkerung hier in Ostlondon am Erhalt seines Wildgebiets zu beteiligen. Als er vor sieben Jahren hierher zog, gründete er den River Roding Trust, eine Stiftung zum Schutz des Gewässers. Zusammen mit Anwohnern stapft Powlesland regelmäßig durchs Flussufer, um Müll wegzuräumen oder nach illegalen Abwasserabflüssen Ausschau zu halten. Auch machen sie immer mehr Uferwege zugänglich, damit die Londoner ihre städtische Wildnis genießen können.
Paul springt vom Sofa auf und beginnt einen Rundgang. Begeistert weist er auf diesen Flieder und jene Weide, auf die Wildblumen, die er in diesem Frühling zum ersten Mal sieht. Im Lauf der Jahre hat er mit Holzbalken und Steinen Lebensräume für Amphibien geschaffen und jede Menge Bäume gepflanzt – aber ansonsten lässt er der Natur freien Lauf und ermöglicht ihr, sich auszubreiten. „Schau dir diesen kleinen Kerl an!“ ruft er und kneift das Blatt eines halbwüchsigen Kirschbaums, als wäre es ein Kind. „In einer so urbanisierten Zone so viel Wildnis zu haben, ist einzigartig“, sagt er. „So viele Lebensräume auf kleinem Raum, es ist verrückt!“ Sein Enthusiasmus ist ansteckend, und man merkt, dass er am liebsten noch viel länger mitten im Grün bleiben möchte. Aber er schaut auf die Uhr und sagt, dass er los müsse, er halte gleich einen Vortrag an einer Uni. Thema: Warum die Natur Rechte braucht.
Dieser Beitrag wurde gefördert durch den Riff-Qualitätsfonds für freien Journalismus der RiffReporter eG