Durchwachsene Corona-Bilanz: Nebenwirkungen und Lehren der Pandemie in afrikanischen Ländern

Die WHO hat den Corona-Notstand beendet, aber die Konsequenzen werden afrikanische Länder noch länger beschäftigen. Sozial, wirtschaftlich, politisch und auch bei der Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten. Die Bilanz ist durchwachsen.

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
7 Minuten
Zwei Männer und eine Frau sitzen nebeneinander, sie tragen Gesichtsmasken

Der Corona-Notstand wurde vor einer Woche von der Weltgesundheitsorganisation aufgehoben. Die Konsequenzen der Pandemie und von Maßnahmen wie Lockdowns sind in afrikanischen Ländern jedoch noch immer deutlich spürbar: sozial, wirtschaftlich, politisch und auch im Kampf gegen andere Infektionskrankheiten. Wissenschaftler und Gesundheitsbehörden ziehen eine durchwachsene Bilanz. Einige Krankheiten gerieten durch Covid-19 in den Hintergrund. Aber es gibt auch Erfolge.

Die schlimmsten Befürchtungen sind nicht wahr geworden, die „Leute in Afrika“ starben nicht „auf den Straßen“, wie Virologe Christian Drosten in einem Interview im März 2020 prognostizierte. Aber die Pandemie hatte in vielen der über 50 Länder des Kontinents massive Nebenwirkungen. Die Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten, Präventions- und Aufklärungsprogramme, Laborkapazitäten sowie die Basisgesundheitsversorgung wurden angesichts der Konzentration auf Covid-19 zurückgefahren. Viele Patienten mieden Kliniken und Krankenhäuser aus Angst vor einer Ansteckung oder konnten sie nicht erreichen, weil der öffentliche Verkehr eingeschränkt war.

Die Pandemie war ein Weckruf

Diese Situation sei ein „Weckruf“ gewesen, betont Quarraisha Abdool Karim. Die Südafrikanerin zählt zu den weltweit führenden HIV-Wissenschaftlerinnen und sitzt im Lenkungsausschuss von UNAIDS. Auf dem afrikanischen Kontinent gehört HIV/Aids noch immer zu den häufigsten Todesursachen, mit mehr als 400 000 Toten im Jahr 2019. In Abdool Karims Heimat Südafrika leben die weltweit meisten HIV-Infizierten – knapp acht Millionen Menschen. Eine Lehre aus Corona sei eindeutig, sagt Abdool Karim: „Wir können nicht alles stehen und liegen lassen, sobald eine neue Epidemie oder Pandemie beginnt. Es hat Konsequenzen, wenn wir Maßnahmen im Kampf gegen HIV oder Tuberkulose einfach auf Eis legen, sobald ein neues Virus grassiert.“ Zu diesen Konsequenzen gehören beispielsweise vermeidbare Neuinfektionen oder Medikamentenresistenzen.

So wie überall auf dem Kontinent hatte auch die südafrikanische Regierung als erste Maßnahme einen Lockdown verhängt, um die chronisch überlasteten Gesundheitssysteme vor dem Kollaps zu bewahren. Routinemäßige Gesundheitsdienste wurden eingeschränkt oder vorübergehend eingestellt. Das sei zu der Zeit, als das Sars-CoV-2-Virus noch wenig erforscht war, auch notwendig gewesen, sagt Abdool Karim. „Sehr schnell, innerhalb weniger Wochen, wurden die HIV- und andere zentrale Dienste wieder geöffnet.“ Das war entscheidend für die lückenlose Behandlung – etwa fünfeinhalb Millionen HIV-Positive nehmen in Südafrika antiretrovirale Medikamente ein.

Ein Südafrikaner trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "HIV Positive", mit einer Geste unterstreicht er, was er sagt, er klärt über HIV und Aids auf
HIV-Aktivist klärt auf

Weniger HIV-Tests, weniger neue Behandlungen

„Allerdings belegen diverse Studien eine Auswirkung der Pandemie auf HIV-Tests und den Beginn von Behandlungen“, sagt Abdool Karim: Deutlich weniger Südafrikaner machten einen HIV-Test, deutlich weniger begannen die Behandlung mit Medikamenten. Nach den Zahlen des Global Fund zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose ging die Zahl der HIV-Tests im Jahr 2021 im Vergleich zu 2019 um rund 40 Prozent zurück. Das war ein herber Rückschlag, denn um Neuinfektionen zu verringern, ist es entscheidend, dass Menschen ihren Status kennen und die Viruslast durch Medikamente reduziert wird.

Abdool Karim sieht zwei Gründe für diesen Rückgang: die auf Covid-19 konzentrierten Kapazitäten der Kliniken und ein neues Verhaltensmuster der Patienten. „Sie hatten Angst davor, sich in den Gesundheitseinrichtungen mit Covid-19 anzustecken.“ Das sei vor allem anfangs so gewesen, mittlerweile hätten Tests und neue Behandlungen wieder zugenommen. Wenn auch nicht so schnell, wie sie es sich gewünscht hätte, fügt die Forscherin hinzu.

Zivilgesellschaft war während der Pandemie wichtig

In Ländern wie dem ostafrikanischen Ruanda waren die HIV-Programme schon bald wieder auf Kurs. „Das ist vor allem der Zusammenarbeit mit unserem starken zivilgesellschaftlichen Netzwerk zu verdanken“, betont Eric Remera. Der Arzt leitet die HIV-Abteilung des Rwanda Biomedical Centre, einer Behörde, die die Pläne des Gesundheitsministeriums in die Praxis umsetzt.

So genannte Peer Educators stehen in engem Kontakt mit Patienten und Risikogruppen. Sie verteilten während der Pandemie beispielsweise HIV-Selbsttests und richteten eine Hotline für Fragen aus der Bevölkerung ein. „Das sind Leute, die alle respektieren und denen alle vertrauen“, erklärt Remera; die wüssten, wer Probleme habe und wer neue Medikamente brauche. Außerdem könnten Patienten, die stabil medikamentös eingestellt seien, auch Rezepte für drei bis sechs Monate erhalten. „Der Lockdown dauerte 45 Tage, und rund 75 Prozent der Patienten haben mindestens einen Vorrat für drei Monate. Er hatte also kaum Auswirkungen“, so Remera.

Metall-Skulptur eines Moskito, auf einem Sockel vor dem Gebäude.
Moskito vor dem Rwanda Biomedical Centre, Kigali

Ein ähnliches System hat sich auch in Hinblick auf andere Infektionskrankheiten wie Malaria bewährt. Wie in vielen afrikanischen Ländern sind in Ruanda Gesundheitshelfer, so genannte Community Health Worker, in ihren Dörfern die ersten Ansprechpartner für Gesundheitsfragen. Während des Lockdowns konnten sie sich frei bewegen, verteilten Moskitonetze direkt an die Haushalte, führten Tests durch und sorgten dafür, dass Patienten zügig behandelt wurden. Auf diese Art wurde die Versorgung der Bevölkerung auch in einer Zeit sichergestellt, in der viele Menschen verunsichert waren und sich nicht in die Kliniken trauten. Dass die Corona-Pandemie die Bekämpfung von Malaria, HIV und Tuberkulose dauerhaft beeinträchtigt, konnte so verhindert werden – jedenfalls in Ruanda. Nicht alle Länder des Kontinents waren so erfolgreich.

Pandemie-Folgen für Frauen und Kinder besonders ausgeprägt

Deutliche Auswirkungen hatte die Fokussierung der Gesundheitssysteme auf Covid-19 für Frauen und Kinder in vielen afrikanischen Staaten. Programme für Familienplanung wurden unterbrochen, die Zahl sicherer Entbindungen in Kliniken sank, die Vor- und Nachsorge für Schwangere und Neugeborene war ebenso eingeschränkt wie intensivmedizinische Behandlungen. Bei einer virtuellen Pressekonferenz Ende Januar 2023 betonte die WHO-Regionaldirektorin für Afrika Matshidiso Moeti die Versäumnisse bei routinemäßigen Impfungen: „Impfkampagnen für Kinder unter fünf Jahren wurden auf erhebliche Weise unterbrochen.“

Millionen Kleinkinder haben keine Grundimmunisierung gegen Krankheiten wie Polio, Gelbfieber, Meningitis, Diphterie oder Masern erhalten. Diese Krankheiten brechen nun wieder aus. So lag die Zahl der Masernfälle im ersten Quartal 2022 um ganze 400 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Ausbrüche seien in 20 afrikanischen Ländern registriert worden, so Moeti. Diese Häufung sei „beispiellos“ und könne zu den „Auswirkungen der Covid-19-Pandemie“ gezählt werden. In der gesamten Region seien daraufhin Kampagnen gestartet worden, die nun auch Wirkung zeigten: „Wir haben nicht nur aufgeholt, sondern hatten im Jahr 2022 höhere Impfraten als vor der Pandemie“, bilanziert Moeti.

Eines der Länder, die von einem Masernausbruch betroffen waren, ist das westafrikanische Liberia. Die Gesundheitsministerin des Landes, Wilhemina Jallah, führte das bei einer Pressekonferenz unter anderem auf „Impfmythen“ zurück. „Überall hatten die Leute Angst, dass sie durch die Impfung mit Covid-19 infiziert werden, und brachten auch ihre Kinder nicht mehr in die Klinken.“ Aufklärungskampagnen mit Hilfe von Bürgerinnen und Bürgern in den Gemeinden hätten Wirkung gezeigt, jedoch erst „spät“. Viele Kinder hätten die Masernimpfung verpasst, und so sei es zu Ausbrüchen in mehreren Landesteilen gekommen. „Wir haben daraus die Lehre gezogen, dass die Communitys von Anfang an mit einbezogen werden müssen“, so Jallah. Mittlerweile scheinen die Impfbedenken ausgeräumt. Liberia zählt zu den afrikanischen Ländern mit der höchsten Corona-Impfquote.

Zwei Forschende mit Masken, eine Frau und ein Mann, schauen im Labor auf die Anzeige eines Labor-Geräts
Wissenschaftler*innen im Labor in Kapstadt

Afrikanische Länder ziehen Lehren aus der Pandemie

Erfolge wie dieser verdienen laut der WHO-Afrikadirektorin mehr Beachtung: „Manchmal konzentrieren wir uns zu sehr auf die negativen Auswirkungen der Pandemie. Dabei haben wir viel gelernt, neue Kapazitäten aufgebaut und die Reichweite unserer Gesundheitsdienste vergrößert.“ Die Investitionen in den Kampf gegen Covid-19 hätten sich ausgezahlt und wirkten sich auch nach der Pandemie aus. So sei etwa die Intensivbettenkapazität ausgebaut worden, wovon künftig auch Patienten mit anderen Krankheiten profitieren würden. Außerdem seien die Mechanismen und Strukturen für den Umgang mit künftigen Gesundheitsnotständen gestärkt worden.

Es gehe nun darum, bewährte Strategien umzusetzen und die Länder der Region besser auf künftige Pandemien vorzubereiten. Dafür brauche es Zugang zu integrierten Gesundheitsdiensten, eine solide Datenlage, Impfstoffe und, nicht zuletzt, die Mitarbeit der Bevölkerung. Auch Moeti hebt die Bedeutung von Communitys und zivilgesellschaftlichen Organisationen hervor. Sie hätten während der Pandemie eine „zentrale Rolle“ gespielt und könnten auch künftig dabei helfen, den Zugang zu Gesundheitsdiensten zu verbessern.

Dieser Zugang müsse nicht nur vorhanden, sondern auch gerecht und inklusiv sein, betont die südafrikanische HIV-Forscherin Quarraisha Abdool Karim. Denn während man die Gesundheitssysteme stärke, müssen man immer darüber nachdenken, wer vielleicht auf der Strecke bleibe. Information, Prävention, Behandlung müssten allen offenstehen, ohne Ausgrenzung, Angst vor Diskriminierung oder Stigmatisierung. Nach dem Motto „Lass niemanden zurück“, das WHO-Generaldirektor Tedros geprägt hat. „Wenn nicht alle profitieren, wenn wir weiter in den Kategorien “wir und sie„ denken, führen wir diese Unterhaltung auch noch in 20 Jahren“, sagt Abdool Karim. Das ist auch als Seitenhieb auf die ungleiche globale Impfstoffverteilung während der Corona-Pandemie zu verstehen.

Während die Gefahr durch Covid-19 abnehme, wachse derzeit ihre Sorge angesichts von Choleraausbrüchen, sagte WHO-Afrikadirektorin Moeti bereits Ende Januar. Allein in dem Monat waren der WHO Fallzahlen in einer Höhe gemeldet worden, die etwa einem Drittel der Gesamtfälle des Vorjahrs entspricht. Von Jahresbeginn bis Mitte März registrierte die WHO mehr als 130.000 Cholera-Fälle und 3.000 Tote. Eine Pandemiefolge im engeren Sinn sind diese Ausbrüche zwar nicht, aber sie verdeutlichen, dass der afrikanische Kontinent ständig gegen Infektionskrankheiten kämpft. Und, fügt Moeti hinzu: „Die zunehmende Zahl der Länder, in denen Cholera ausbricht, setzt die weltweit begrenzten Impfstoffvorräte immens unter Druck.“ Auch vor diesem Hintergrund unterstützt Moeti den Aus- und Aufbau von Impfproduktionsstätten auf dem afrikanischen Kontinent. Damit die nächste Pandemie weniger Nebenwirkungen mit sich bringt.

Dieser Artikel erschien zuerst beiSpektrum.de. Dies ist eine leicht aktualisierte Fassung.

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