UN-Gipfel COP15: Beim Masterplan der Menschheit zur Rettung der Natur zählt jetzt jedes Wort
Beim UN-Umweltgipfel COP15 soll bis Montag ein Masterplan der Menschheit zur Rettung der Natur stehen. Die Stimmung ist angespannt. Was nach Wortklauberei aussieht, wird später große Wirkung haben und unsere Lebensgrundlagen erhalten oder zerstören.
Es dauert keine fünf Minuten, bis der Entwurf für das wichtigste Umweltabkommen seit dem Pariser Klimapakt wieder ein wenig unverbindlicher ist. Der kleine Coup gelingt dem Unterhändler eines großen Landes. Welches Land genau er vertritt, darf aus der nicht-öffentlichen Sitzung nicht berichtet werden, nur soviel: Es handelt sich um ein sehr großes Land, auf das im Augenblick wenige andere gut zu sprechen sind.
Es geht an diesem Abend um die Überschrift in einer Art Präambel für das Weltnaturabkommen. Dort sollen die ganz großen Linien niedergelegt werden für den Masterplan, mit dem die Menschheit verhindern will, dass im 21. Jahrhundert ihre eigenen Lebensgrundlagen kollabieren, jede achte Art ausstirbt und ganze Ökosysteme wie etwa Korallenriffe verschwinden.
Kleine Änderungen mit großen Folgen
In der Präambel des neuartigen „Weltnaturabkommens“, des wichtigsten weltweiten Umweltvertrags seit dem Klimagipfel von Paris 2015, sollen die Leitlinien für alle einzelnen des Abkommens beschlossen werden – Prinzipien und Grundsätze könnte man sagen. Genauso steht es auch im Text-Entwurf, der über einen Projektor an die Wand geworfen wird: „Prinzipien und Grundsätze für die Umsetzung des Globalen Rahmens für Biodiversität“.
Doch dieser eine der rund 40 anwesenden Unterhändler aus aller Welt kann sich mit den beiden Begriffen nicht anfreunden. Er macht seine Zustimmung von einer anderen Wortwahl abhängig. Als Alternative schlägt er „Erwägungen“ vor.
Die Verhandlungen stehen unter Zeitdruck. Es gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Und nach kurzer Diskussion verschwinden die Wörter „Prinzipien“ und „Leitlinien“ aus dem Text. Der Protokollant ersetzt sie durch das Wort „Erwägungen“.
Die kleine Änderung hat Folgen: Die besonderen Rechte indigener Völker, ein menschenrechtsbasierter Ansatz und die Festlegung, dass alle Naturschutzziele auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren müssen – sie sind damit fortan keine rechtlich verbindlichen „Grundsätze und Prinzipien“ mehr, sondern eben lediglich unverbindliche „Erwägungen“.
Nicht alle ziehen an einem Strang
Wortklauberei? Nein – hinter jedem einzelnen Wort stehen handfeste Interessen und jede Änderung, ja jedes Komma, kann später, wenn es darum geht, dass die Menschheit ihren Masterplan für den Schutz von Natur und Biodiversität umsetzt, große Wirkung entfalten. Zum Guten wie zum Schlechten.
Ähnliches wie hier passiert in diesen Tagen und Nächten in den fensterlosen Sälen des Montrealer Kongresszentrums hundertfach: Dort sitzen die Verhandlungsteams der fast 200 Mitgliedstaaten der UN-Biodiversitätskonvention und feilen am Text für das neue Weltnaturabkommen. Immer geht es um das große Ziel: die Bewahrung und der bessere Schutz der Natur auf dem Planeten. Doch nicht alle ziehen an einem Strang. Die Interessen fallen auseinander. Und nicht alle sind guten Willens. Manche versuchen, strenge neue Pflichten zum Naturschutz und zur Wahrung etwa der Rechte Indigener abzuwenden.
Natur nur auf dem Bildschirm
Die Atmosphäre im „Palais des congrès de Montréal“ ist angespannt – und das Treiben weit entfernt von dem, um was eigentlich geht. Die Verhandlungen finden in fensterlosen, oft dunklen Räumen statt. Das einzige, das hier aber an Natur erinnert, sind die Fotos atemberaubender Landschaften oder exotischer Tiere auf den Bildschirmschonern der Laptops der Delegierten aus aller Welt.
Und geredet wird nicht über Lebewesen, sondern über Formulierungen: Ob zum Thema Pestizide, der Frage, wie groß die Schutzgebiete der Erde ausfallen sollen oder wie viel Milliarden Hektar zerstörter Ökosysteme renaturiert werden müssen, um dem größten Artensterben seit dem Auftauchen des Menschen Einhalt zu gebieten: Um jedes Wort in jedem der 22 Ziele wird teilweise erbittert gerungen.
Das ist kein Wunder.
Manchmal sind einzelne Begriffe Milliarden Dollar wert. Ob zum Beispiel die Vergabe naturschädlicher Subventionen, also Beihilfen für fossile Energien, Abholzung oder Industriefischerei „eliminiert“ werden muss, oder ob sie „auslaufen“ soll, könnte giganrtische Summen für die jeweiligen Branchen bedeuten. Denn auch 30 Jahre nach dem „Erdgipfel“ von Rio subventionieren Regierungen weltweit – Deutschland eingeschlossen – Branchen wie Landwirtschaft, Bergbau und Energiewirtschaft mit Hunderten Milliarden Dollar oder Euro dabei, wie sie den natürlichen Reichtum der Erde verschleißen.
Bis Montag soll das Abkommen stehen
Der Zeitdruck in den Verhandlungen ist dabei mindestens so groß wie die Kreativität der Wortakrobaten. Denn bis Montag soll das Abkommen stehen. Bis dahin muss der Text „sauber“ sein: Nur noch möglichst wenige große politische Streitfragen sollen die Minister über das Wochenende klären – etwa die, wieviel Prozent der Erde künftig unter Schutz stehen oder um welchen Prozentsatz der Einsatz naturschädlicher Pestizide gesenkt werden muss.
Bis Freitagnachmittag waren in dem Textentwurf aber immer noch eine dreistellige Zahl von Textpassagen als Zeichen der Uneinigkeit in Klammern gesetzt. China als Vorsitz der COP15 ernannte nun sechs sogenannte „Troubleshooter“, also Beauftragte für eine Einigung. Zu ihnen zählt auch der Deutsche Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Auch für ihn gilt es jetzt, Textarbeit im Akkord zu leisten.
Selten gehen die Formelkompromisse zugunsten eines weitreichenden Naturschutzes aus, viel häufiger eröffnen sie Spielraum für eine Abschwächung. Die Meinungen der professionellen Beobachter zu der Frage gehen weit auseinander, ob am Ende noch genug inhaltliche Substanz für „starke Ziele“ vorhanden sein wird oder ob Kompromisse um jeden Preis geschlossen werden, um wenigstens überhaupt ein Abkommen vorweisen zu können.
Die EU gibt in vielen Punkten nach
„Im Großen und Ganzen sind noch alle Zutaten für ein gutes Abkommen da, in dem alle wichtigen Ziele enthalten sind“, sagt der erfahrene Naturschutz-Beobachter Georg Schwede. Seine Organisation Campaign for Nature hat das bekannteste Ziel des Abkommens, die Unterschutzstellung von je 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten – ersonnen und viel politische Lobbyarbeit dafür gemacht. „Wir erleben die Erosion des Ambitionsniveaus durch die Bank“, kritisiert dagegen WWF-Beobachter Florian Titze im Jargon der Verhandlungen.
Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke, die seit Donnerstag an den Verhandlungen teilnimmt, warnte vor einer Aufweichung der Schlüsselziele im Endspurt der Verhandlungen. Das Ziel, künftig jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresflächen unter Schutz zu stellen, müsse mit klaren Qualitätskriterien unterfüttert werden, forderte sie.
Doch auch Punkte, die der Grünen-Politikerin besonders am Herzen liegen, werden derzeit abgeschwächt. Und nicht immer leistet die Delegation der Europäischen Union dagegen Widerstand.
Lemke plädierte zum Beispiel für die Schaffung sogenannter „Null-Nutzungs-Gebiete“ im Netz der Schutzgebiete, das künftig 30 Prozent der Erdoberfläche umfassen soll. Wenige Stunden, bevor die Ministerin diese Forderung erneut als unabdingbar unterstreicht, damit sich beispielsweise Fischpopulationen erholen können, gab es wieder eine Textveränderung in die andere Richtung.
Zeitdruck als „größter Feind“
Die Formulierung, dass es in einem Teil der künftigen Schutzgebiete einen „strikte Schutz“ geben müsse, verschwand. Und die EU-Vertreter schwiegen dazu.
Immerhin überleben andere Passagen, die „höchsten und vollen“ Schutzstatus für einen Teil des künftigen Schutzgebietsnetzes vorsehen. Allerdings stehen sie als strittig markiert in Klammern. Auch der von Lemke und allen Umweltverbänden geforderte Mechanismen für den Fall, dass Zielvorgaben verfehlt werden, wird heftig bekämpft. Es geht um die Frage, ob Ziele dann „nachgeschärft“ werden, wenn ein Land zu lange untätig war.
Mit Untätigkeit wurde nämlich zwischen 2010 und 2020 viel Zeit verloren. Auf dem Weltnaturgipfel in Nagoya hatten sich die Staaten gegenseitig versprochen, bis 2020 zwanzig wichtige Naturschutzziele zu erreichen. Doch das gelang bei keinem einzigen der Ziele – und es fiel auch erst 2020 wirklich auf, als es zu spät war. Ein „Nachschärfemechanismus“ würde dafür sorgen, dass Fortschritte regelmäßig überprüft werden. Und wenn ein Land im ersten Jahr zu wenig getan hat, müsste es im zweiten Jahr deutlich mehr tun.
„Der Zeitdruck ist im Moment unser größter Feind“, sagt ein Mitglied einer europäischen Verhandlungsdelegation. Dass es den Staaten trotz vierjähriger Vorbereitungsarbeiten auch Stunden vor Toresschluss nicht gelungen ist, sich auf ein weitgehend konsensfähiges Abkommen zu verständigen, liegt zum einen an den wirtschaftlichen Interessen der 196 Mitgliedstaaten der Konvention, die unter einen Hut gebracht werden müssen. Wenn Länder etwa im Kongobecken darauf verzichten sollen, ihren Regenwald auszubeuten oder zur Erdölförderung freizugeben, erwarten sie Ausgleich für die verlorenen Einkünfte. Umgekehrt haben es sich viele westliche Staaten wirtschaftlich gemütlich darin eingerichtet, in großem Stil Soja, Palmöl und Metalle zu importieren, die aus frisch zerstörtem Regenwald stammen.
Russland, Polen und Ungarn blockieren bei Geschlechtergerechtigkeit
Aber nicht nur Wirtschaftsinteressen sind ein Hemmnis. Auch die geopolitische Lage – allen voran der russische Krieg gegen die Ukraine – erschwert einen erfolgreichen Schlussspurt. In den Verhandlungen der vergangenen Tage blockierte Russland nach Angaben von Verhandlern wohl nicht zufällig immer wieder Positionen, die der Europäischen Union besonders am Herzen liegen.
Einspruch gibt es danach häufig dann, wenn es um Menschenrechte oder auch die Betonung der „Gender-Gerechtigkeit“ geht. Allerdings wurden auch Risse innerhalb der Europäischen Union an einzelnen Punkten sichtbar. Ungarn und Polen beispielsweise sind in der Frage, ob Geschlechtergerechtigkeit „in all ihren Formen“ Teil eines Naturschutzabkommens sein soll, näher bei Moskau als bei Berlin.
Selbst in der Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat nur eine einzige Gruppe liberaler Staaten um Neuseeland, der Schweiz und Kanada die Europäische Union in ihrem deutlichen Protest unterstützt. Prompt warf der russische Unterhändler daraufhin der EU vor, es wohl nicht so sehr auf einen Erfolg der Verhandlungen anzulegen.
Die Gastgeber im Zwist um Spionage und Meinungsfreiheit
Man kann das auch als Veto-Drohung gegen das gesamte Abkommen verstehen, denn es gilt das Einstimmigkeitsprinzip. „Die Furcht, Russland zu sehr zu provozieren und damit ein Scheitern des ganzen Abkommens zu riskieren“, ist spürbar, sagt ein europäischer Unterhändler.
Auch die sehr an einem Abkommen interessierte Chefin der UN-Biodiversitätskonvention, Elizabeth Mrema, spielt den Konflikt herunter. „Glücklicherweise hat die geopolitische Lage die Verhandlungen bisher nicht beeinflusst“, sagte sie noch am Dienstag. Das ist allerhöchstens die halbe Wahrheit: Denn Mrema selbst hatte nach Angaben aus europäischen Verhandlungskreisen zuvor die Europäer vergeblich gedrängt, keine Erklärung gegen den russischen Angriffskrieg abzugeben, um die Verhandlungen nicht zu gefährden.
Als wäre der Konflikt mit Russland nicht genug, lastet ein weiterer zwischenstaatlicher Konflikt auf den Verhandlungen. Auch zwischen dem Ausrichterland Kanada und China als Konferenzpräsidentschaft hat es zuletzt mächtig gekracht: Spionagevorwürfe, Rohstoffkonkurrenz und ein Eklat vor laufender Kamera charakterisieren das Verhältnis der beiden Staaten, die gemeinsam für einen Erfolg sorgen sollen.
Chinas Präsident Xi Jinping kanzelte vor laufenden Kameras den kanadischen Ministerpräsidenten Justin Trudeau am Rande des G20-Gipfels auf Bali ab, weil dieser angeblich Inhalte ihres vertraulichen Gesprächs vom Vortag durchgestochen zu hatte. Bei der Eröffnung des Naturgipfels revanchierte sich Trudeau in der vergangenen Woche. Als indigene Gruppen seine Eröffnungsrede mit Trommeln und Gesang unterbrachen, hielt er minutenlang inne, lächelte freundlich und sehr emphatisch in Richtung der in Stammestracht gekleideten Protestierer.
Schließlich verkündete er an die Adresse des chinesischen Co-Gastgebers: „Wie Sie sehen können, ist Kanada ein Land der freien Meinungsäußerung, in dem Einzelpersonen und Gemeinschaften sich offen zu äußern, und wir danken ihnen dafür, dass sie ihre Ansichten mit uns teilen“. An der Mine des chinesischen Ministers Huang Runqiu konnte man ablesen, dass diese Ohrfeige gesessen hat. Ob das die Erfolgsaussichten des Naturgipfels stärkt, steht auf einem anderen Blatt. Bis Montagabend muss nach dem offiziellen Zeitplan das Weltnaturabkommen stehen, sodass der Konferenzvorsitzende mit einem Hammerschlag auf den Tisch die Einigung festklopfen kann.
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können unsere weitere Berichterstattung über Biodiversität mit einem Riff-Abo fördern.