Beautys & Biester der Nord- und Ostsee: Was schwimmt, kriecht und fliegt denn da?

Parasiten beim Hürdenlauf, lebende Klebefallen, riesige Giftspritzen: Das Leben in den beiden deutschen Meeren ist faszinierend, manchmal auch gefährlich oder gefährdet. Wir stellen Ihnen sechs ganz besondere Arten vor.

vom Recherche-Kollektiv Ozean & Meere:
9 Minuten
Unterwasserfoto von zwei Meerneunaugen. Eines der aalähnlichen Tiere ist von der Seite zu sehen, das andere zeigt die Mundscheibe, die mit vielen spitzen Zähnen komplett gefüllt ist.

Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie „Zukunft Nordsee und Ostsee - wie sich unsere Meere verändern“.

Sie sind wie zwei Schwestern: Nordsee und Ostsee sind eng verknüpft, ähneln sich auch – und könnten doch unterschiedlicher kaum sein. Die Nordsee ist die ältere der beiden und sehr artenreich, auch weil ihre Geschichte 350 Millionen Jahre zurückreicht.

Die Fauna der Ostsee ist eher artenarm, denn das Meer entstand erst nach Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren. Nicht genug Zeit für die Evolution, um eigens angepasste Arten hervorzubringen. Außerdem ist die Ostsee ein salzarmes und mancherorts auch sauerstoffarmes Brackwassermeer: Aus der Nordsee strömt Salzwasser ein, aber große Flüsse wie die Oder, Weichsel und Newa halten mit Süßwasser dagegen.

Was schwimmt, kriecht und fliegt nun in den zwei deutschen Meeren? Ausgewählte Arten können viel vom Leben unter und über Wasser in der Nord- und Ostsee erzählen. Und zeigen, wo die natürliche Balance bedroht ist – oder hoffentlich wiederhergestellt wird.

Biest in Nord- und Ostsee? Neunaugen als Wanderer zwischen den Welten

Immer wieder macht der „Piranha der Ostsee“ Jagd auf ahnungslose Badende – zumindest in großformatigen Schlagzeilen. Dann hat sich der „Vampirfisch“ Neunauge medienwirksam auf einen Schwimmer gestürzt. Die grauen oder grünlichen Tiere sehen mit ihren schlanken Körpern fast aus wie Aale. Ihre namensgebenden „Augen“ an den Körperseiten sind – mit Ausnahme des echten Augenpaars – Kiemenöffnungen.

Neunaugen sind keine echten Fische, sondern kieferlose Rundmäuler. Mit ihrer Mundscheibe heften sie sich wie mit einem Saugnapf an Fische, um mit ihren vielen scharfen Hornzähnen Haut und Fleisch aus deren Flanke zu raspeln. Wenn sie irrtümlich an Menschen nagen, lassen sie meist sofort wieder los – dennoch fließt Blut.

Aber keine Panik: Neunaugen sind keine Gefahr für uns – eher andersrum. Das bedeuten bei den beiden Wanderarten Meerneunauge (Petromyzon marinus) und Flussneunauge (Lampetra fluviatilis) ganz konkret, dass wir ihnen ihre Wege versperren. Die Tiere wachsen in Flüssen heran, wo sie auf Sand, Steinen oder flachen Kiesbänken Nahrung aus dem Wasser filtern. Erst wenn sie ausgewachsen sind, schwimmen sie in die Nord- oder Ostsee, um dann für die Eiablage ins Süßwasser zurückzukehren – und den Zyklus zu vollenden.

Wenn die Migration nicht an Wehren oder anderen Bauten endet. Wenn das Wasser für die Larven sauber und sauerstoffhaltig genug ist. Wenn die Jungtiere geeignete Habitate in den oft massiv veränderten Flussbetten finden. Besonders schwierig sind auch „Rekordsommer“, die das Wasser erhitzen und flache Flussbereiche austrocknen lassen. In Deutschland sind die einst so häufigen Tiere mittlerweile selten geworden

Foto einer Rippenqualle der Art Mnemiopsis leydyi, ein durchscheinendes Tier als gallertigem Material, das ein wenig an eine Blüte erinnert und an der Oberfläche teilweise bunt schimmert.
So hübsch die „Meerwalnuss“ auch ist, kann sie als invasive Art doch gefährlich werden. Die einfachen und evolutionär uralten - nach manchen Einschätzungen sogar die ältesten - Tiere können sich sehr schnell massiv ausbreiten.

Nord-und Ostsee-Biest! Eine Rippenqualle als klebrige Krisengewinnlerin

Ein wabbeliger Körper. Eine klebrige Schleimhülle. Ein Spielball der Meeresströmungen. Sieht so ein Erfolgsmodell der Evolution aus? Im Fall einer Rippenqualle, der „Meerwalnuss“ (Mnemiopsis leidyi) durchaus. Manche Forscher halten Rippenquallen für die ältesten Tiere überhaupt. Und erfolgreich ist die Meerwalnuss über alle Maßen. Leider. Die durchscheinenden Tierchen können ökologische Katastrophen auslösen: als invasive Art. Die Meerwalnuss stammt von der amerikanischen Ostküste, hat sich über Strömungen und das Ballastwasser von Schiffen aber fast über die ganze Welt ausgebreitet – bis in die Nordsee und Ostsee. Treffen sie dort auf Menschen, ist das zwar harmlos, aber eklig. In den warmen Sommermonaten bilden die Tiere Schwärme: ein Schleimbad für die Schwimmer.

Die Meerwalnuss ist so erfolgreich, weil sie robust ist und etwa klimabedingt steigende Temperaturen, aber auch Sauerstoffarmut wie in der Ostsee gut tolerieren kann. Außerdem ist sie mit einem Output von bis zu 10.000 Eiern täglich sehr fruchtbar. Und gefräßig. Die Rippenqualle ist von klebrigem Schleim bedeckt, an dem etwa treibende Fischeier und Planktontierchen hängenbleiben. In der Masse räumt sie riesige Mengen Wasser wie ein Staubsauger leer.

Ihre Ausbreitung im Schwarzen Meer ab den 1980ern gilt als abschreckendes Lehrstück der Invasionsbiologie. Die Meerwalnuss etablierte sich dort als Nahrungskonkurrent heimischer Arten und ließ etwa die Populationen der Sardellen einbrechen. Gleichzeitig fraß sie Krebstierchen weg, die sonst Algen kontrollieren. Ohne sie traten Algenblüten auf und überhaupt veränderte sich das Ökosystem nachhaltig. In der Kieler Förde wurde die Rippenqualle im Jahr 2006 nachgewiesen. Bislang ohne Ökokatastrophe, wohl weil ihr die harte Winter zu schaffen machen – vorerst noch.

Unterwasserfoto eines Dornhais. Das graue Tier ist schlanggestreckt und hat für einen Hai eine eher spitze Nase.
Shark & Chips? Dafür sind die Dornhaie schon viel zu sehr unter Druck. Wie alle Knorpelfische können sie sich kaum erholen, wenn die Populationen zurückgehen. Die Tiere werden spät geschlechtsreif und haben nur wenige Junge.

Nordsee-Beauty: Der Dornhai als allzu beliebter Snack

Was unerbittliche Fressmaschinen angeht, können Haie viel von uns lernen. Klar, die Tiere gelten als blutrünstige Killer, auch wenn Biologïnnen noch so oft betonen, dass sie ökologisch unersetzlich und in den allermeisten Fällen nicht angriffslustig sind. Wir Menschen dagegen fischen Haie weltweit millionenfach aus dem Meer, um Suppe aus ihren Flossen zu machen. Der ohnehin bedrohte Dornhai (Squalus acanthias), der auch bei uns in der Nordsee vorkommt, landet etwa als „Seeaal“ auf dem Teller. Er liefert auch die meisten „Schillerlocken“: Die gekrümmten Bauchlappen der Tiere erinnern an die Frisur des Dichters. Die Briten wiederum frittieren das Fleisch und servieren es mit Pommes als Fish & Chips.

Viel länger als einen Meter werden die schlanken Tiere nicht, die mit ihren großen Augen und der Stupsnase eine Disneyfigur abgeben können. Sie ernähren sich von Fischen, Krebsen, Tintenfischen und verschwinden meistens, bevor wir sie sehen. Nur zur Verteidigung wehren sich die Tiere verzweifelt: etwa wenn sie gefangen und an Bord eines Schiffs gehievt werden. Dann halten Menschen besser Abstand: An seinen Rückenflossen hat der Hai spitze Dornen, die mit einer Giftdrüse verbunden sind.

Das scheint zur Abwehr aber nicht zu reichen: Der Dornhai war einst vielleicht die zahlreichste Haiart, steht jetzt aber auf der Roten Liste gefährdeter Arten und ist in manchen Regionen vom Aussterben bedroht. In der EU und Großbritannien war der Fang für etwa fünf Jahre verboten. Seit 2023 dürfen Fischer aber in gewissem Umfang wieder Jagd auf Dornhaie machen – und das Fleisch wird auch eingeführt. Das Ende des Fangstopps kam wahrscheinlich viel zu früh: Wie alle Haie und Knorpelfische überhaupt, kommt diese Art schlecht mit einer Welt im menschengemachten Wandel zurecht. Die Tiere gebären erst spät und nur wenige Junge. Brechen die Populationen ein, können sie sich kaum erholen. Erst recht nicht in kurzer Zeit.

Unterwasserfoto eines braunen Wurms auf steinigem Grund, der glänzt und verknäult ist.
Als Knäuel ist der Endlose Schnurwurm (Lineus longissimus) gar nicht so beeindruckend. Ausgestreckt macht er viel her – und ist möglicherweise das längste Tier der Welt.

Nord- und Ostsee-Beast: Ein Schnurwurm als längste Giftspritze der Welt

Wer Interesse an rekordverdächtiger Fauna hat, sollte die Lange Nemertine (Lineus longissimus) kennen. Andere Arten mögen größer oder schneller sein, aber länger ist wahrscheinlich keine. Der unauffällig braun gefärbte Schnurwurm lebt im Wasser der Gezeitenzonen zwischen Steinen und Algen und ernährt sich von kleineren Meerestieren. Auch in der Ostsee und Nordsee, wo die Tiere etwa auf Borkum und Sylt gesichtet wurden. Sie sind leicht zu erkennen: Die fingerdicken Würmer können mehr als 30 Meter messen, nach manchen Berichten sogar doppelt so lang sein.

Der Wurm ist damit eines der längsten Tiere der Welt, wenn nicht sogar der Rekordhalter. Und die Lange Nemertine hat noch mehr drauf: Sie ist die wahrscheinlich längste Giftspritze der Welt, von der wahrscheinlich auch der Mensch besser die Finger lassen sollte. Denn um nicht als schier endloses All-you-can-eat-Buffet für gefräßige Prädatoren wie Fische und Vögel zu enden, müssen sich die Schnurwürmer wehren können.

Dafür sekretieren sie über die Haut sehr viel Schleim, der ein potentes Gift enthält. Genauer: Einen Cocktail verschiedener und ganz eigener Toxine, die beispielsweise Krabben lähmen und sogar töten können. Auch andere marine Schnurwürmer sind giftig und manche erlegen damit Beute. Die Toxine wirken auch an Land gegen Kakerlaken und anderes Ungeziefer. Forscherïnnen wollen jetzt herausfinden, ob sich aus Schnurwurmgift ein Insektizid entwickeln lässt, das gegen verschiedene Schädlinge wirkt.

Unterwasserfoto einer Riffszene mit mehreren bräunlichen Austers die teils von überwachsene sind  und mit einer rosa Seeanemone.
Die Europäische Auster (Ostrea edulis) ist eine wichtige Öko-Architektin. Wo sie in Massen wächst und ein Riff bildet, können sich auch andere Meerestiere wie Seeanemonen niederlassen – während etwa Fische Unterschlupf und Nahrung finden.

Nordsee-Beauty: Die Auster als Öko-Architektin im Comeback

Ist der Meeresboden, wie oft zu hören ist, tatsächlich weniger gut erforscht als die Mondoberfläche? In den Untiefen des Pazifiks und Atlantiks mit Sicherheit. Erstaunlicherweise hat aber auch die vergleichsweise flache Nordsee ein paar Geheimnisse zu bieten. So wurde erst vor wenigen Jahren ein Riff vor der Insel Borkum entdeckt. Der Boden der Nordsee besteht überwiegend aus Sand und Schlick. Auf dem vereinzelt Gestein liegt. Hier können Schwämme, Seenelken, Moostierchen und andere Geschöpfe eine ganz eigene Oase der Vielfalt bilden – die geschützt werden muss.

Gerade weil die Nordsee so intensiv genutzt wird und sich bereits stark verändert hat. Als Folge davon hat sie andernorts bereits viel Artenvielfalt eingebüßt. Ein prägnantes Beispiel ist der Rückgang der Europäischen Auster (Ostrea edulis). Die einst weit verbreitete Art wurde als Delikatesse im Übermaß ausgebeutet. In deutschen Gewässern gilt sie als ausgestorben und in Europa als stark gefährdet.

Das soll sich ändern, weil die Auster als Ökoarchitektin eigene Riffe bilden kann. Außerdem verbessert sie als lebender Filter die Wasserqualität und stabilisiert das weiche Sediment am Meeresboden. Viele gute Gründe, sie wieder in die deutsche Nordsee zu holen. Im Rahmen des Projekts RESTORE unter der Leitung des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven sollen im Naturschutzgebiet „Borkum Riffgrund“ neue Austernriffe entstehen. Die Arbeit am Pilotriff läuft: Tonnen an Kalkgestein und leeren Austernschalen wurden als Fundament ausgebracht – und dort dann 100.000 Jungaustern angesiedelt. Jetzt ist Geduld gefragt: Die Tiere müssen sich entwickeln und ein Riff bilden: als neue Heimat für viele andere Arten.

Foto eines weiß-schwarzen Kiebitzes mit dem markanten Federschopf am Hinterkopf, der über eine überschwemmte Wiese watet.
Ein Vogel mag es feucht: Der Kiebitz hält sich am liebsten auf Feuchtwiesen und anderen Feuchtgebieten auf - die aber immer seltener werden.

Nord- und Ostsee-Beauty: Der Kiebitz und seine Vorliebe für feuchte Füße

Ob der charmante Schippel die Massen bezirzt hat? Seit einigen Jahren führten der Naturschutzbund Deutschland (NABU) und der Bayerische Landesbund für Vogel- und Naturschutz (LBV) die Wahl zum „Vogel des Jahres 2024“ öffentlich durch. Jeder darf mitwählen. Und dieses Jahr siegte der schwarz-weiße Kiebitz mit dem glänzenden Federkleid und dem markanten Schopf am Hinterkopf – mit 33.289 und damit gut einem Drittel der abgegebenen Stimmen.

Eine gute Wahl: Seine Bestände sind in ganz Deutschland massiv eingebrochen, haben sich wahrscheinlich auf ein Zehntel der ursprünglichen Brutpaare reduziert. Das Problem: Der Vogel hat eine Vorliebe für feuchte Füße. Der Kiebitz lebt etwa in Feuchtwiesen, von denen aber immer mehr trockengelegt und in Äcker umgewandelt werden. Weicht er dann auf Felder und Wiesen aus, zerstören landwirtschaftliche Maschinen die Nester dieser bodenbrütenden Art. Die zudem immer weniger Nahrung findet, weil auch die Insekten schwinden.

Die Insel Kirr macht vor, wie ein gutes Habitat für Kiebitze aussehen kann. Sie ist dem Ostseebad Zingst vorgelagert und die bekannteste Salzwieseninsel im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Hier durchziehen noch Priele die Salzweiden, damit das Wasser nach Überschwemmungen ablaufen kann. Aber feucht ist es trotzdem und damit ganz so, wie der Kiebitz wohnen möchte. Auf der geschützten Insel ohne Fressfeinde, die zudem nur beschränkt offen für Besucherïnnen ist, bleiben auch andere Bodenbrüter ungestört. Und nicht nur sie: Die Insel Kirr ist ein Refugium für viele Vogelarten – vom Kiebitz über Kampfläufer bis zum Seeadler.

Das Rechercheprojekt „Zukunft Nordsee und Ostsee – wie sich unsere Meere verändern“ wird gefördert von Okeanos – Stiftung für das Meer.

VGWort Pixel