Not-Verhandlungen in letzter Minute sollen Weltnaturabkommen retten
Wieder schaffen es 190 Staaten nicht, sich auf gemeinsame Ziele zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu verständigen. Eine weitere Verhandlungsrunde im November soll den UN-Naturschutzgipfel retten
Vertreterinnen und Vertreter von 190 Staaten sind in Nairobi bei dem Versuch gescheitert, ein wegweisendes internationales Abkommen zum Schutz von Regenwäldern, Feuchtgebieten, Meeren und Agrarlandschaften sowie von Millionen Tier- und Pflanzenarten weitgehend beschlussfertig zu machen. Die Verhandlungen am Sitz des UN-Umweltprogramms in der kenianischen Hauptstadt sollten eigentlich die letzte und entscheidende Etappe auf dem Weg zu einem Weltnaturabkommen werden, das für die Zukunft der Menschheit und der biologischen Vielfalt der Erde so wichtig ist wie das Pariser Klimaabkommen.
Doch die am Sonntag zu Ende gegangenen einwöchigen Verhandlungen von Vertretern aus mehr als 190 Staaten in Nairobi haben wieder nur minimale Fortschritte gebracht und ihr eigentliches Ziel nicht erreicht. Jetzt wird die Zeit knapp, um für den UN-Weltnaturgipfel, der im Dezember in Montreal stattfindet, eine ausreichend ambitionierte Vorlage für ein verbindliches Rahmenabkommen zum Schutz der Natur zu schaffen. Um ein Scheitern des Gipfels zu verhindern, soll unmittelbar vor dem Gipfel in Montreal noch eine weitere Verhandlungsrunde stattfinden. Genau dies war am Vortag noch ausgeschlossen worden. Die Chefunterhändler geben sich dennoch demonstrativ optimistisch.
Auch die vierte Verhandlungsrunde bringt kaum Annäherung
Die Verhandlungen in Nairobi hätten eigentlich die wichtigsten Streitfragen auf dem Weg zu einem Abkommen aus dem Weg räumen sollen. Sie waren außerplanmäßig angesetzt worden, nachdem es bereits in einer vorangegangenen zweiwöchigen Verhandlungsrunde im März in Genf nicht gelungen war, die wichtigsten Regeln für den Schutz und die nachhaltige und gerechte Nutzung der Natur im Grundsatz festzuzurren.
Ziel der Nairobi-Verhandlungen war es, aus der kenianischen Hauptstadt mit einem weitgehend „sauberen“ – also konsensfähigen – Textentwurf für das neue Weltnaturabkommen abzureisen, das dann bei der UN-Vertragsstaatenkonferenz zur Konvention über biologische Vielfalt (CBD COP15) im Dezember in Montreal abschließend verhandelt und dann verabschiedet werden sollte.
Weil dieses Ziel in den sechstägigen Verhandlungen in Nairobi nicht annähernd erreicht wurde – etwa 80 Prozent des Textes bleibt weiter durch Klammern als strittig markiert – entschieden sich die Verhandlungsführer und das CBD-Sekretariat in letzter Minute zur Einberufung einer fünften Verhandlungsrunde unmittelbar vor Beginn des Gipfels im Dezember in Kanada. Diese Möglichkeit hatten sie einen Tag zuvor noch ausgeschlossen.
Verhandlungsführer und CBD tragen Optimismus zur Schau
Ko-Verhandlungsführer Basile van Havre sagte nun, es gehe weiterhin nicht darum, ein komplettes Scheitern durch einen Kompromiss um jeden Preis zu verhindern. Alle Staaten strebten weiter ein ambitioniertes Abkommen an. CBD-Chefin Elizabeth Mrema sagte, die erzielten Fortschritte seien begrenzt, aber es gebe sie.
Der Schutz der Natur sei zu wichtig, um dabei zu versagen, betonte sie. „Als Menschen wollen wir immer rennen, manchmal müssen wir aber gehen“, sagte sie und spielte damit die Kritik an ausgebliebenen Fortschritten herunter. Einzig Ko-Verhandlungsführer Francis Ogwal aus Uganda räumte Enttäuschung über mangelnden Fortschritt ein. Aber auch er beteuerte, es werde am Ende eine Vorlage für ein gutes Abkommen geben.
Kein Stein aus dem Weg geräumt
Ein erster Entwurf für das Weltnaturabkommen sieht unter anderem vor, dass die Verwendung von Pestiziden bis 2030 weltweit um zwei Drittel verringert und die weitere Belastung der Umwelt mit Plastikmüll ganz gestoppt werden soll. Fischfang, Jagd, Landwirtschaft und Waldnutzung sollen nachhaltig umgestaltet und die Umweltverschmutzung durch Schadstoffe massiv verringert werden. Zudem sollen die noch bestehenden intakten Ökosysteme und Wildnisgebiete erhalten und gestörte Ökosysteme renaturiert werden. Als Schlüsselziel gilt das Vorhaben, jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter Schutz zu stellen und dabei die Rolle und die Rechte indigener Bevölkerungen zu achten.
Doch auch in Nairobi konnten sich die Delegationen auf fast keines der insgesamt 21 im Entwurf genannten konkreten Ziele bis 2021 abschließend verständigen. Selbst das eigentlich bereits als konsensfähig erachtete 30-Prozent-Ziel, konnte abermals nicht als geeint entklammert werden In einigen Bereichen gab es sogar Rückschritte. So wurde das Ziel, bis 2030 die Pestizidverwendung drastisch zu verringern, wieder in Frage gestellt.
Geldfrage bleibt ungelöst
Auch in der Frage, wie Naturschutz in den noch besonders artenreichen Regionen des globalen Südens finanziert werden soll, gab es keine Fortschritte. Eine Einigung bei diesem Thema gilt als Voraussetzung dafür, dass in Montreal ein Abkommen verabschiedet wird. Allerdings stehen entscheidende Geldzusagen traditionell am Ende des Verhandlungsprozesses, um noch ein Druckmittel in der Hand zu haben.
Die deutsche Verhandlungsführerin Inka Gnittke wiederholte vor den Delegierten als Sprecherin der derzeitigen G7-Präsidentschaft die Beschlüsse der G7-Umwelt- und Klimaminister. Diese hatten sich verpflichtet, die nationalen und internationalen Finanzmittel für die Natur bis 2025 deutlich zu erhöhen, einschließlich einer Aufstockung der Mittel für naturbasierte Lösungen, die den Zielen des neuen globalen Rahmens für die biologische Vielfalt entsprechen."
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten vor dem G7-Gipfel die wohlhabendsten Industriestaaten aufgefordert, den Schutz der Biodiversität trotz akuter Krisen wie dem Ukrainekrieg und der globalen Inflation mit ins Zentrum zu stellen.
Nichtregierungsorganisationen reagierten geradezu schockiert auf die ausgebliebenen Fortschritte in Nairobi. „Es gibt keinen Weg, es zu beschönigen, Nairobi war ein Flop“, sagt Thilo Maack, der die Verhandlungen für Greenpeace verfolgt hat. Den Mangel an Führung unter den Vertragsparteien nennt er erschütternd: „Es klafft eine Riesenlücke zwischen hochtrabender Rhetorik für den Schutz der Natur und dem Stand des Verhandlungstexts – die COP15 ist die am schlechtesten vorbereitete große Umweltkonferenz der jüngeren Geschichte.“
„Schockierender Stillstand“
Auch der Europachef der „Campaign for Nature“, Georg Schwede, sieht die Verhandlungen vor einem Scherbenhaufen. „Die vielen politischen Bekundungen und Selbstverpflichtungen zahlreicher Staaten zu mehr Naturschutz und einem ambitionierten Abkommen finden keinerlei Übersetzung in diesen Verhandlungsraum“, sagt Schwede. „Weder Vereinte Nationen noch EU, Deutschland oder irgendein anderer Akteur übernimmt politische Führung: Wir erleben ein Systemversagen auf ganzer Linie“, bilanziert Schwede „eine Woche schockierenden Stillstands“.
Statt des erhofften „Paris-Moments“ für Naturschutz gehe die Reise auf „direktem Weg nach Kopenhagen“. Damit spielt Schwede auf den gescheiterten Klimagipfel 2009 in der dänischen Hauptstadt an. Damals hatte die Staatengemeinschaft sich nicht auf verbindliche Klimaziele einigen können und ein belangloses Gipfel-Dokument verabschiedet. Dieser Rückschlag hat die Welt viel Zeit im Wettlauf mit dem Klimawandel gekostet – erst sechs Jahre später wurde das Pariser Abkommen verabschiedet.
WWF macht Brasilien verantwortlich – Verhandlungsführer widersprechen
WWF-Chef Marco Lambertini machte explizit Brasilien für das Fiasko von Nairobi verantwortlich – eine Zuschreibung, die Mrema und die Verhandlungsführer scharf zurückwiesen. Der Politik-Experte des WWF Deutschland, Florian Titze, kritisierte auch die Bundesregierung in der Finanzierungsfrage. Entgegen ihren Beteuerungen über die Wichtigkeit der Weltnaturkonferenz sei die biologische Vielfalt in der Prioritätenliste für den nächsten Haushalt bislang nicht vertreten, sagte er. Sowohl das Umwelt- als auch das Entwicklungsministerium hätten die Notwendigkeit der internationalen Biodiversitätsfinanzierung anerkannt. Diese Zusagen müssten „sich nun unbedingt im Bundeshaushalt für 2023 abbilden“, fordert Titze.
Deutschland ist mit jährlich rund 800 Millionen Euro einer der größten Geldgeber des internationalen Biodiversitätsschutzes, treibt mit seinem nicht nachhaltigen Konsum zugleich aber die anhaltende Umweltzerstörung im Süden weiter an. Umweltverbände und Wissenschaftler fordern deshalb eine Aufstockung der jährlichen Zahlungen für den Naturschutz im globalen Süden auf kurzfristig zwei Milliarden Euro pro Jahr und auf acht Milliarden im Laufe der Legislaturperiode.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) und Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) versuchen derzeit in Verhandlungen mit Finanzminister Christian Lindner (FDP), das auch im Koalitionsvertrag gegebene Versprechen nach spürbar mehr Geld einzulösen. Schulzes Staatssekretär Jochen Flasbarth sagte vor kurzem: „Wir kämpfen dafür, dass wir mehr Geld haben und natürlich werden die Geldmittel steigen.“ Ein Erfolg ist aber noch nicht in Sicht.
Umweltorganisationen rufen UN-Generalsekretär Guterres zur Hilfe
Ein breites Bündnis an Nichtregierungsorganisationen glaubt unterdessen nach dem Treffen in Nairobi nicht mehr, dass die Verhandlungsdelegationen aus eigener Kraft ein starkes Abkommen auf die Beine stellen. Sie rufen in einer gemeinsamen Erklärung UN-Generalsekretär Antonio Guterres auf, ein Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs zum Thema einzuberufen. Bisher „fehlt das politische Engagement, der Wille und die Führung auf höchster Ebene, um einen Kompromiss durchzusetzen“, schreiben sie in einem offenen Brief an Guterres.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.