Die Natur retten? Eine Anmassung!
Die Vorsitzenden der Deutschen Umweltstiftung haben ein „Ökohumanistisches Manifest“ geschrieben – mit provokativen Thesen. Zum Beispiel, dass es keinen Naturschutz brauche
Im „Ökohumanistischen Manifest“ stehen Sätze, die einen zunächst einmal schlucken lassen. Etwa: „Das Prinzip Hoffnung löst sich auf.“ „Der Dritte Weltkrieg ist also ein Krieg zwischen der Natur und den Menschen, und wir Schlafwandler haben uns schon auf den Weg gemacht in die Schlacht.“ „Die Natur braucht nicht unseren Schutz.“
Verfasst haben diese Sätze Pierre L. Ibisch und Jörg Sommer. Letzterer ist Journalist, Autor sowie Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, der ältesten und grössten Bürgerstiftung Deutschlands. Der Pflanzenbiologe Pierre Ibisch, vor allem als Kritiker der etablierten Forstwirtschaft bekannt, ist Sommers Stellvertreter bei der Umweltstiftung und sitzt gerade in seinem vor Büchern und Papierunterlagen überquellenden Büro an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde. Dort lehrt er Naturschutz.
Geerdetes Denken
Draussen, im Innenhof des am Waldrand gelegenen Campus, lärmt ein Laubbläser – nicht gerade ein Zeugnis von Nachhaltigkeit. Ibisch seufzt: Man bemühe sich, auch auf dem Campus nachhaltige Entwicklung zu leben, aber vieles könne die Hochschule nicht selbst beeinflussen, da andere Ämter dafür zuständig seien, wie etwa für den Unterhalt der Zufahrtswege. Doch solche Alltagsprobleme sollen einen nicht vor grundlegenden Gedanken abbringen lassen. Denn: „Wir stecken in der Krise. Wir müssen vertieft nachdenken“, sagt Ibisch.
Er und Sommer haben das getan. Das Ergebnis ist ein handliches, 170 Seiten umfassendes Buch, in dem die beiden versprechen, das Denken „vom Kopf auf die Füsse“ zu stellen und es zu „erden“: Geerdetes Denken, schreiben sie, „wurzelt im Ökosystem. Es beginnt in der Natur und richtet sich auf den Menschen aus. Hieraus ergibt sich die neue Denkrichtung: die Natur als Ausgangspunkt, die Menschen als Ziel.“
„Als Naturlebewesen sind wir Teil des Ökosystems. Da kommen wir nicht raus.“
Und schon sind wir mittendrin im Thema des „Ökohumanismus“, wie ihn Ibisch und Sommer entwerfen. Dieser lässt sich auf zwei Kernüberlegungen zurückführen: Zum einen wird der Mensch als Teil der Natur verstanden und nicht als ihr Herrscher, zum andern gibt es ein universelles Menschenrecht auf ein gutes Leben für alle Menschen, heute und in Zukunft. Das gute Leben verstehen Ibisch und Sommer im Anschluss an die südamerikanische „Buen vivir“-Bewegung in einem umfassenden Sinn. Es geht also nicht um den maximalen Nutzen für das Individuum, sondern vielmehr um das Wohl der Gemeinschaft und eine Existenz in Harmonie mit der Natur.
„Es ist eigentlich ganz einfach“, erklärt Ibisch den Ausgangspunkt des Ökohumanismus: „Wir SIND Natur. Als Naturlebewesen sind wir Teil des Ökosystems. Da kommen wir nicht raus. Doch diese Tatsache haben wir vergessen. Wir nennen das die Ökosystemvergessenheit. “
In der Wissenschaft der Ökosysteme, der Ökologie, ist die Naturhaftigkeit des Menschen eigentlich durchaus bekannt. Ibisch hat mit anderen Autoren sogar ein Lehrbuch dazu geschrieben: „Der Mensch im globalen Ökosystem“. In der breiteren Bevölkerung sowie in der Politik sei das „ökosystemare Denken“ aber noch nicht angekommen, meint Ibisch.
Weil wir das Ökosystem nicht verlassen können, sind auch unsere Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Das müssen wir akzeptieren: „Die Grenzen unseren Tuns bilden die planetaren Grenzen. Diese zeigen uns auf, wo es nicht mehr weitergeht. Selbst mithilfe der Technik lassen sich diese nicht überwinden, auch wenn viele noch immer daran glauben.“
„Wir sehen uns als Bewahrer der Natur, als ihre Retter. Doch das funktioniert nicht.“
Auch wenn der Mensch das Ökosystem nicht verlassen kann –, verändern kann er es sehr wohl. Und er tut dies in massiver Weise, wie die gegenwärtigen Klima- und Biodiversitätskrisen zeigen. Da der Mensch aber Teil der durch ihn selbst veränderten Natur ist, betreffen die Veränderungen immer auch ihn selbst. Angesichts gigantischer Umweltzerstörungen in fataler Weise: „Die Menschheit führt einen selbstmörderischen Krieg gegen die Natur“, schreiben Ibisch und Sommer: Es sei dies der Dritte Weltkrieg, der Krieg zwischen Mensch und Natur, der sich am Ende gegen den Menschen selbst richtet.
Was also ist zu tun? Die Natur schützen? Für Ibisch und Sommer ist das zu kurz gedacht. „Es braucht keinen Naturschutz“, sagt Ibisch, der Professor für Naturschutz. „Dahinter versteckt sich eine Hybris: Wir sehen uns als Bewahrer der Natur, als ihre Retter. Doch das funktioniert nicht.“
Umweltverbände, darunter in der Vergangenheit auch die Deutsche Umweltstiftung, stellten ihr Tun gerne symbolisch dar mit Händen, die die Erde schützend halten. Dies sei ein falsches Bild. „Das Leben an sich, das Ökosystem, macht nach jeder Krise einfach weiter. In der Evolution gibt es dauernd Krisen und Experimente. Das Leben passt sich an, Arten sterben aus, neue Arten treten hervor, die biologische Vielfalt geht zurück und nimmt wieder zu. Arten haben eine begrenzte Lebenszeit. Auch der Mensch lebt nicht ewig. Die Natur hat keine Moral. Sie unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse.“
Naturbasierter Menschenschutz
Da der Mensch Teil der Evolution ist, sei alles, was wir tun, die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln. „Das ist nicht einfach als schlecht zu bewerten. Das entlastet auch. Wir haben nicht die Pflicht, das Leben für immer zu bewahren. Das können wir ohnehin nicht.“ Vielmehr müssten wir uns klar machen: Wenn wir die Natur schützen, so geht es im Wesentlichen um uns selbst. Naturschutz ist Menschenschutz. Oder wie Ibisch ihn nennt: „naturbasierten Menschenschutz“.
Doch wenn alles Teil der Evolution ist und am Ende auch die Menschheit aussterben wird: Führt dies nicht auf direktem Weg in den Fatalismus? „Eben gerade nicht“, ist Ibisch überzeugt. Denn nun kommt der Humanismus ins Spiel: „Der Mensch hat sich selbst, die Welt und die Evolution erkannt. Und er hat erkannt, dass das Ende der Geschichte noch nicht gekommen ist. Denn es ist schön, ein gutes Leben zu führen und dieses anderen Menschen und späteren Generationen zu gönnen.“
Hinter dem Humanismus stecke der Glaube an den Wert der Menschlichkeit und der Menschenwürde. „Wir können Verantwortung fühlen und übernehmen. Daraus ergibt sich ein Auftrag: sich für die Menschlichkeit und die Menschenwürde einzusetzen.“
Auch wenn Ibisch und Sommer in ihrem Manifest schreiben, dass sich das Prinzip Hoffnung auflöse, so müssen wir ihrer Ansicht nacht nicht hoffnungslos sein. Zugleich sollten wir aber auch nicht einem Zweckoptimismus erliegen, der sich zum Beispiel im Versprechen einer „grünen Wirtschaft“ äussere. Denn auch dieses Wirtschaften werde vom „Irrglauben an die Unendlichkeit der Ressourcen sowie der Gier nach Wachstum“ getrieben.
„Der Mensch ist doch auch ein bisschen grossartig ist – aus unserer Sicht.“
„Wir haben immer die Möglichkeit, die Dinge besser zu machen“, sagt Ibisch. „Die globale Apokalypse darf nicht unser Ziel sein. Aber wir müssen die schlimmsten Szenarien ausmalen, um die Motivation zu schaffen, Gutes zu erreichen. Weil der Mensch doch auch ein bisschen grossartig ist – aus unserer Sicht.“
Das klingt nach einer Überhöhung des Menschen, die man doch gerade überwinden wollte. „Es ist völlig in Ordnung, dass wir uns selbst wichtig sind. Die Menschheit hat viel erreicht, darauf können wir auch stolz sein“, entgegnet Ibisch. Den von Ökologen und Naturschützern immer wieder geäusserten Gedanken, dass der Mensch eine Krankheit des Planeten sei, die verschwinden müsse, weist Ibisch zurück. „Wir müssen zusammen durch diese Krise, solidarisch und so gerecht wie möglich.“
Zur Umsetzung des Ökohumanismus müsse man sich eigentlich nur zwei Fragen stellen: Beruht mein Handeln auf dem Primat der Ökologie, ist es also naturkompatibel, verhindert es Schädigungen oder hilft es gar, die Ökosysteme funktionstüchtiger zu machen? Und: Ist das Handeln darauf gerichtet, ein gutes Leben für uns Menschen zu fördern, befördert es die Menschlichkeit?
Pflichten gegenüber den Ökosystemen
Ibisch und Sommer belassen es bei diesen grundlegenden Anweisungen. Eine genaue Handlungsanleitung bieten sie nicht. Es geht ihnen nicht um neue Regeln, sondern um ein neues Denken. Deshalb formulieren sie zehn Thesen (vollständige Liste siehe unten). Wie etwa diese: Zwischen Mensch und Natur herrscht kein Widerspruch. Oder: Die Natur hat immer Recht. Und: Technik ist keine Befreiung. Aber auch: Es gibt kein Eigentum.
Es gibt kein Eigentum? Ernsthaft? „Wir plädieren nicht für einen neuen Marxismus“, winkt Ibisch ab. Es gehe vielmehr um die entscheidende Einsicht, dass wir uns die Natur, oder auch nur einen Teil von ihr, nie wirklich zu eigen machen können: „Wie soll uns der Wald, der Boden und das Wasser gehören?“
Aus dieser Überlegung folgten Pflichten gegenüber den Ökosystemen. In Deutschland kennt man bereits die im Grundgesetz verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Der Gebrauch des Eigentums darf nicht gegen das Gemeinwohl verstossen, sondern muss diesem dienen. Im Zusammenhang mit Ökosystemen genüge eine solche Sozialpflichtigkeit nicht, man benötige zusätzlich eine „Ökologiepflichtigkeit“: „Beanspruchen wir die Ökosysteme, genügt es nicht, nur den dabei entstandenen Schaden zu kompensieren, wie das heute üblich ist.“
So lasse sich ein Wald, der etwa für den Bau einer Fabrik gerodet werde, nicht einfach ersetzen, indem man anderswo die gleiche Fläche wieder aufforste. Diese Art Kompensation sei letztlich nichts als Mogelei. Denn mit einem Wald zerstöre man immer auch ein hochkomplexes, funktionierendes Ökosystem. Und genau dieses gelte es zu erhalten.
Bei der Nutzung von Ökosystemen müsse man also darauf achten, dass diese ihre Funktionstüchtigkeit nicht verlieren würden. „Man darf einen Wald durchaus benutzen, aber man muss gleichzeitig dafür sorgen, dass er sich weiterentwickeln kann. Die Evolution des Ökosystems ‚Wald‘ muss weiterlaufen können. Das setzt unserer Nutzung Grenzen auf.“
Ein Aufruf unter vielen
Ibisch hat mit eigenen Augen gesehen, was geschieht, wenn die Ökosysteme zerstört sind. Er war nach seinem Biologiestudium jahrelang in der Entwicklungsarbeit tätig. „Ich war in einer der ärmsten Regionen Boliviens, wo die Menschen von der Subsistenzwirtschaft lebten, und sah, wie zerstörte Landschaften die Möglichkeiten eines guten Lebens verhindern.“ Neben den Erkenntnissen aus der ökologischen Forschung war es diese Erfahrung, die Ibisch motiviert hat, das ökohumanistische Manifest zu schreiben.
Es ist freilich nicht das erste seiner Art. In den vergangenen Jahrzehnten sind bereits unzählige Bücher erschienen, die zu einem neuen Denken aufrufen. Gerade auch in Sachen Ökologie. Wieso soll ausgerechnet das ökohumanistische Manifest von Sommer und Ibisch die Menschen von der Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels überzeugen? „Wir beanspruchen keinen Alleinvertretungsanspruch“, sagt Ibisch. „Das Manifest ist ein Angebot, ein Versuch, die wissenschaftlichen Befunde zur Lage der Welt und der Menschheit mit gewissen normativen Prinzipien zusammenzubringen.“
Was ihm wichtig ist: Auch wenn das „Prinzip Hoffnung“ in Auflösung begriffen ist, auch wenn der gegenwärtige Zustand der Natur und ihre anhaltende Zerstörungen allen Grund geben, pessimistisch in die Zukunft zu blicken: Das Manifest soll eine „gewisse Begeisterung für die Menschen und die Menschlichkeit“ vermitteln. „Wir wollen darüber nachdenken, was wirklich wichtig ist: Geht es den Menschen jetzt und in Zukunft gut? Und wie steht es um die Lebensgrundlagen?“ Wie man das Ganze bezeichne, ob als „ökologischen Humanismus“ oder anders, darauf komme es nicht an.
***
Die zehn Thesen des „Ökohumanistischen Manifests“
- Zwischen Mensch und Natur herrscht kein Widerspruch
- Die Weisheit ist in uns allen.
- Die Natur hat immer recht.
- Es gibt kein Eigentum.
- Wirtschaft ist ein Werkzeug.
- Technik ist keine Befreiung.
- Glauben ist keine Handlungsanweisung.
- Menschlichkeit ist eine Kompetenz.
- Die Politik sind wir.
- Alles ist eine Frage der Prinzipien.