Ein Krisenjahr auch für die Natur
Johanna Romberg und Christian Schwägerl im Gespräch über Umweltpolitik, die Ökologie der Pandemie und einige Lichtblicke für 2021
Johanna Romberg und Christian Schwägerl arbeiten seit Jahrzehnten als Umweltjournalistïnnen. Sie als Autorin bei GEO, er als langjähriger Korrespondent von Medien wie FAZ und SPIEGEL und als freiberuflicher Journalist. Beide sind Buchautorïnnen („Federnlesen“, „Menschenzeit"), beide passionierte Vogelbeobachterïnnen. Gemeinsam blicken sie im folgenden Dialog auf das Jahr 2020 zurück und auf 2021 voraus.
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Christian: Johanna, ich habe gerade unseren Rückblick vom letzten Jahr nochmal gelesen und festgestellt: Ich habe einen Vorsatz für 2020 umgesetzt!
Johanna: Da hast Du mir was voraus. Was gute Vorsätze angeht, zumindest solche für ein ganzes Jahr im Voraus, halte ich es mit dem Grundsatz meiner mecklenburgischen Großmutter: “Nimm di nix vör, denn sleit di nix fehl.” Aber ich applaudiere natürlich, wenn andere ihre Pläne erfolgreich umsetzen. Wie lautete Deiner?
Christian: “Mehr Hymnen auf Pirole!” Und genau das habe ich bei uns “Flugbegleitern” gemacht.
Johanna: “Ein Flöten so weich, als wäre es aus Seide gemacht. Eine Melodie so fröhlich und beschwingt, dass man lächeln muss.” Was Du schreibst, erinnert mich an eine Erfahrung, die ich gerade in diesem Jahr oft gemacht habe: Wie wichtig es ist, sich diese Momente zu gönnen, in denen man Natur einfach nur genießt, ohne Hintergedanken.
Christian: Ja, und die Begegnung mit den Pirolen im Frühjahr hat mir echt geholfen. Mir ging es damals nicht gut, die Ängste und das Leid rund um die Pandemie spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Pirole mit ihrem lebensfrohen Sound haben mir neuen Mut gegeben. Aber welche Hintergedanken plagen dich denn beim Vogelbeobachten?
Johanna: Zum Beispiel, ob der Vogel, den man gerade hört, es wohl ins Winterquartier schafft, ohne unterwegs in einem Netz zu landen oder abgeknallt zu werden, oder ob das Biotop, in dem er sich niedergelassen hat, demnächst in zu Bauland umgewidmet wird…Man muss solche Gedanken manchmal einfach beiseite schieben und sich einfach an dem freuen, was man gerade vor Augen oder Ohren hat. Ich versuche das zumindest.
Christian: Wenn einem das gelingt, kann Vogelbeobachten wirklich die perfekte Entspannung sein, eine wichtige Sache in dieser angespannten Zeit. Hattest Du 2020 auch den ein oder anderen Pirol-Moment?
Johanna: Oh ja. Allerdings nicht mit Pirolen – es ist Jahrzehnte her, seit ich den letzten in unserer Umgebung hier in der Nordheide gehört habe. Ich war in diesem Jahr kaum außerhalb unserer Region unterwegs, coronabedingt. Aber auch das ornithologisch eher karge Nordniedersachsen hat mir das ein oder andere Highlight beschert: zwei Gelbspötter etwa, die im Duett mit einer Gartengrasmücke sangen. Mehrere Wachteln auf einer Wiese, die wundersamerweise nicht schon im Mai gemäht worden war. Und im Garten hatte ich einen Trauerschnäpper, zum ersten Mal seit 15 Jahren. Er hat sich tage- und wochenlang die Seele aus dem Leib gesungen. Ich war hin und weg.
Christian: Wer das Glück hat, in der Nähe von Grünanlagen oder Naturgebieten zu leben, wird diese am Ende des Corona-Jahres als Refugien auch für Menschen noch mehr schätzen als zuvor. Auch, um irgendwie das ganze Leid der Kranken, Sterbenden und Trauernden in aller Welt zu verarbeiten, von dem wir in den Medien zwar zu wenig erfahren haben, das aber dennoch immer präsent war. Richtig fertig gemacht hat mich, dass in Deutschland Menschen gegen die Wissenschaft auf die Straße gegangen sind, letztlich dafür, dass andere an Corona krepieren sollen, damit man ja keine Masken tragen muss. Ich hoffe einfach, am Ende bleibt doch die Einsicht, dass wir alle gut beraten sind, uns auf seriösen wissenschaftlichen Rat zu verlassen.
Johanna: Ich hab die Anti-Corona-Demos auch mit Befremden verfolgt, aber dass sie mich fertig gemacht hätten, kann ich nicht sagen. Zum einen scheint mir die Zahl der Teilnehmenden doch insgesamt überschaubar gewesen zu sein, jedenfalls deutlich kleiner als es das geballte Medienecho nahe legte, das sie bekommen haben. Zum anderen halte ich die Erwartung, dass Menschen grundsätzlich dem Rat der Wissenschaft folgen, für sehr idealistisch.
Christian: Warum?
Johanna: Weil sie das in früheren Pandemien noch viel weniger getan haben, wie zum Beispiel in dem zu Recht vielgelobten Bestseller von Laura Spinney über die Grippewelle von 1918 nachzulesen ist. Und, um auf unser Thema zurückzukommen: Naturschutz- und Klimaschutzpolitik in Deutschland ist doch seit Jahrzehnten nichts anderes als das permanente In-den-Wind-Schlagen wissenschaftlicher Ratschläge. Insofern finde ich es überhaupt nicht überraschend, dass eine Minderheit der Bevölkerung diesem schlechten Vorbild der Politik auch in Zeiten der Pandemie gefolgt ist.
Christian: Das ging mir auch durch den Kopf, als Julia Klöckner zum Jahresende wegen des Beginns der Impfkampagne ein Loblied auf die Wissenschaft anstimmte. Aber bei der EU-Agrarreform ignoriert sie Warnungen der Wissenschaft zu Folgen für Klima und Naturschutz und versucht dann auch noch, das von ihr ausgehandelte “Weiter-so” als ökologischen Fortschritt zu verkaufen.
Johanna: Ich muss an dieser Stelle mal ein Lob für Julia Klöckner aussprechen. Ich finde, sie ist eine der erfolgreichsten Ministerïnnen der amtierenden Regierung.
Christian: Muss ich mir Sorgen um Dein Urteilsvermögen machen?
Johanna: Keineswegs, Christian! Mein Lob bezieht sich auf die Ziele, die sich Frau Klöckner selbst gesetzt hat. Jedenfalls meiner Vermutung nach – ich habe sie ja nicht selbst dazu befragt, sondern kann sie nur an ihren Taten messen. Die legen allerdings nahe, dass ihr vor allem eines wichtig ist: im Laufe ihrer Amtszeit die Zerstörung von Natur und Artenvielfalt so weit wie möglich voranzutreiben, zugleich deren Schutz wirksam zu verhindern. Das ist ihr gerade in diesem Jahr in beeindruckender Weise gelungen: durch die Verschleppung des Insektenschutzgesetzes, durch die Millionenförderung eines ökologisch desaströsen “Waldumbaus”, und vor allem durch die Verteidigung des Status quo in der Agrarpolitik.
Christian: Da läuft dann aber in dieser besonderen Kategorie von „Erfolg“ ein harter Wettbewerb mit Verkehrsminister Andreas Scheuer, der noch Hunderte Kilometer neuer Autobahnen bauen will und Ende 2020 mit den Bauarbeiten im Dannenröder Forst gezeigt hat, wie egal ihm Klima- und Naturschutz sind. Aber glaubst Du wirklich, dass Naturzerstörung das tiefere Ziel ist, so wie in Jahrhunderten der Kolonisierung? Oder haben wir es eher mit so etwas wie Ignoranz zu tun, einem selbstgewählten Bildungsdefizit, um die Folgen des eigenen Tuns für Natur, Klima und die junge Generation verdrängen zu können?
Johanna: Bei Julia Klöckner hab ich schon den Verdacht, dass auch ersteres mitspielt – sonst würde sie sich nicht die Mühe machen, sich selbst dann gegen die Natur einzusetzen, wenn es keine wesentlichen wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen gilt. So bei ihrem Versuch, das EU-weite Verbot von Bleischrot in Feuchtgebieten zu verhindern, was ja zum Glück letztlich gescheitert ist – dank erheblichen öffentlichen Drucks, zu dem unser Kollege Thomas Krumenacker durch seine Recherchen einiges beigetragen hat. Aber Klöckner, Scheuer und andere Regierungsmitglieder haben noch ein weiteres Motiv, ihre Verantwortung zu verdrängen, eines, das ebenso stark wie schlicht ist.
„Die Atmosphäre als CO2-Endlager, die Biosphäre als Rohstoffdepot, Boden und Grundwasser als Gülle- und Agrochemiedeponie.“
Christian: Lass mich raten, beide führen ihre Häuser nicht für das Gemeinwohl, sondern für Interessengruppen, sprich jenen Teil der Bauern, der ohne Rücksicht auf Verluste noch das Letzte aus der Landschaft herausquetschen will und, im Fall von Scheuer, für eine Autoindustrie, die ihr Heil in überdimensionierten Zivilpanzern sucht?
Johanna: Ja klar. Sie tun das, was Politikerinnen, jedenfalls solche in verantwortlichen Positionen, schon immer getan haben: Sie folgenden Vorgaben der mächtigsten wirtschaftlichen Akteure. In Deutschland sind das die Industrien, die die Atmosphäre als CO2-Endlager, die Biosphäre als Rohstoffdepot, Boden und Grundwasser als Gülle- und Agrochemiedeponie nutzen. Die haben natürlich weder Interesse an Klima- noch Naturschutz, solange die Allgemeinheit die Kosten für ihre Geschäftsmodelle trägt.
Christian: Institutionalisierte Verantwortungslosigkeit…
Johanna: Und die gilt es abzuschaffen, aber dazu muss die Zivilgesellschaft in die Puschen kommen. Ich wundere mich immer, wie viele Klima- und Naturschutzaktivistïnnen, aber auch Berufskollegïnnen von uns immer noch darauf hoffen, dass Politikerïnnen sowas wie Einsicht zeigen; dass sie „auf die Wissenschaft hören“. Das tut ja, wenn‘s um die Natur geht, nicht mal Frau Merkel, wie Du am Beispiel von unfassbaren 600 Kilometer geplanten neuen Autobahnen in einem Thread auf Twitter kürzlich sehr schön belegt hast.
Christian: Es war, was den Naturschutz und die Umweltpolitik anbelangt, überall ein hartes Jahr. Man denke nur an die verheerenden Buschbrände in Australien, im weltgrößten tropischen Feuchtgebiet, dem Pantanal, im Amazonas, in der russischen Tundra und in vielen anderen Weltgegenden. Und an die Naturgebiete in den USA, die Trump noch kurz vor seinem Ausscheiden zur Ausbeutung freigegeben hat.
Johanna: Wir könnten sicherlich den Rest des Jahres damit bestreiten, abwechselnd die Hiobsbotschaften zum Thema Biodiversität aufzuzählen, über die wir Umweltjournalistïnnen in den vergangenen Monaten berichtet haben, die aber zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben.
Christian: Für mich war 2020 auch von einem Ereignis geprägt, das gar nicht stattgefunden hat.
Johanna: Jetzt lass mich raten: Dieser bahnbrechende UN-Gipfel in China, der dem Vernichtungsfeldzug gegen die Biodiversität endlich Einhalt bieten sollte? So, wie es die legendäre UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von Rio 1992 bereits getan hat, ebenso wie die diversen Nationalen Biodiversitätsstrategien, die überall in Deutschland blühende Landschaften haben sprießen lassen? Oder wie die Klimakonferenzen der vergangenen Jahrzehnte, die den weltweiten Ausstoß von Treibhausgasen so dramatisch gebremst haben? Sorry, dass ich sarkastisch werde. Meine Erwartungen an UN-Gipfel und feierlich deklarierte Zielvorgaben in Sachen Umwelt sind einfach sehr gering.
Christian: Ich war ja bei vielen dieser Konferenzen als Reporter dabei und verstehe Deinen Sarkasmus sehr gut. 2010 habe ich vom UN-Naturschutzgipfel im japanischen Nagoya als Umweltkorrespondent des SPIEGEL berichtet, wie Schwüre abgelegt wurden, was bis 2020 alles besser sein soll.
Johanna: Und?
Christian: Wir haben dieses Jahr die Bilanz bekommen: Keines der 20 Ziele wurde wirklich erreicht. Aber was würden etwa Fridays for Future machen, wenn sie sich nicht auf den Weltklimarat und auf die Ergebnisse der Paris Klimakonferenz berufen könnten, bei der Politiker eben öffentlich Versprechen abgegeben haben? Nicht die Konferenzen sind falsch, sondern dass ihre Ergebnisse so brutal missachtet werden. Deutschland dürfte zum Beispiel ab 2020 keine Agrarsubventionen mehr auszahlen, die der Umwelt schaden.
„Eine Debatte darüber, ob die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen viel schlimmere und direktere Folgen für die Menschheit hat als bislang angenommen.“
Johanna: Wer hat ernsthaft erwartet, dass es so kommt? Das ist, glaube ich, das Problem: Dass viele umweltinteressierte Menschen die Schwüre, die auf solchen Gipfeln abgelegt werden, immer noch für bare Münze nehmen. Und erwarten, dass daraus irgendeine Art konkreter Politik folgt. Die Fridays for Future und andere Gruppen scheinen immerhin erkannt zu haben, dass bloßes Sich-berufen auf Konferenzbeschlüsse nicht reicht, sondern dass es zu deren Durchsetzung massives öffentliches Engagement braucht, bis hin zu spektakulären Aktionen wie dem Abseilen von Autobahnbrücken. Und letztlich hat auch das nur begrenzten Effekt, wenn nicht irgendein Ereignis von Fukushima-Kaliber dazukommt.
Christian: Eine harte Ansage, ich habe da noch mehr Glauben an das, was Politik leisten könnte, als Du.
Johanna: Ich würde sie einfach realistisch nennen. Vielleicht wird dies, im Rückblick, eine der wenigen positiven Folgen der Corona-Pandemie sein: Dass sie eine Debatte darüber ausgelöst hat, ob die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen – die von der Mehrheit ja bislang, wenn überhaupt, nur mit distanziertem Bedauern zur Kenntnis genommen wird – womöglich viel schlimmere und direktere Folgen für die Menschheit hat als bislang angenommen.
Christian: Ob es wirklich einen direkten Zusammenhang zwischen Naturzerstörung und der Ausbreitung von SARS-CoV-2 gibt, das haben unsere KollegInnen Claudia Ruby und Thomas Krumenacker ja intensiv diskutiert.
Johanna: Habe den Beitrag kürzlich nochmal gelesen und stelle fest, dass mir Thomas‘ Position, bei allem Respekt für Claudias Argumente, nach wie vor mehr einleuchtet. Bestärkt hat mich darin ein kürzlich erschienenes Interview mit dem Soziologen Mike Davis, der schon vor 15 Jahren ein neues Zeitalter der Pandemien vorausgesagt hat. er macht dafür vor allem die globale Nahrungsmittelindustrie verantwortlich. Wie schätzt du das denn ein?
Christian: Die Warnung ist berechtigt, wenn die Menschheit weiter Wildnisgebiete erschließt, um sie über Menschen und Waren direkt mit den Metropolen zu verbinden, und mit Tierfabriken und Antibiotikamissbrauch ideale Bedingungen für neue Erreger schafft. Ich habe mit meinem Kollegen Andreas Rinke 2012 in unserem Buch “11 drohende Kriege” vor einer Pandemie durch Massentierhaltung gewarnt. Aber SARS-CoV-2 kommt wahrscheinlich nicht aus der Massentierhaltung, zumindest nicht aus der Fleischproduktion. Woher dann, das ist eine offene Frage.
Johanna: Der direkte Ursprung des Virus mag ungeklärt sein, aber es geht ja nicht allein darum. Sondern um die treibenden Faktoren, die Menschen in immer engeren Kontakt mit Wildtieren bringen. Und das ist nun mal, vor allen anderen, die globale Nahrungsmittelindustrie mit ihrem ungeheuren Bedarf an Flächen für Weideland und Futtermittelanbau. Der vielerorts die lokale Landbevölkerung zwingt, in noch unberührte Wildnisgebiete vorzudringen, um ihren Bedarf an Ressourcen zu decken, und sich dort dem Kontakt mit gefährlichen Viren auszusetzen. Thomas hat diese Zusammenhänge ja in einer ganzen Serie von Artikeln eindrücklich beschrieben.
Christian: Diese Frage nach dem Ursprung des Virus ist leider politisch komplett vermintes Gelände, denk nur an Trumps Rede vom „China-Virus” oder der “Kung-Flu”. Ich habe im Frühjahr umfangreiches, professionell wirkendes Material zugespielt bekommen, mit sehr plausibel klingenden Indizien für einen Unfall in einem Biosicherheitslabor in Wuhan. Aber mir war das dann doch nicht schlüssig genug, um darüber zu schreiben.
Johanna: Bedauerst du das?
Christian: Ganz und gar nicht. Später erfuhr ich dann nämlich, dass wohl Geheimdienste dieses Material gestreut hatten. Ich bin sehr froh, dass ich die Finger davon gelassen habe. Jetzt gibt es eine Untersuchungskommission der Weltgesundheitsorganisation, die hoffentlich unabhängig recherchieren kann. Ziemlich sicher ist nur, was unser RiffReporter-Kollege Kai Kupferschmidt über eine drohende Pandemie sehr hellsichtig schon 2013 in Science geschrieben hat: Dass Fledermäuse als Viruswirt eine wichtige Rolle spielen.
Johanna: Weißt Du, was mich an dieser ganzen Virus-Ursprungsdiskussion grundsätzlich irritiert? Dass es erst eine Katastrophe von globalem Ausmaß brauchte, um eine ernsthafte Diskussion über die Notwendigkeit von Naturschutz auszulösen. Jedenfalls eine, an der sich nicht nur die üblichen Verdächtigen beteiligen, also Wissenschaftler- und Naturschützerïnnen, sondern auch diejenigen, die Natur als Ressource beanspruchen. Also vor allem Vertreterïnnen der Landwirtschaft. Und bei denen, etwa unserer Agrarministerin, war auch schon wieder die übliche Abwehrhaltung zu registrieren: Erst muss der Ursprung dieses einen Virus zweifelsfrei belegt werden, bevor wir auch nur darüber nachdenken, ob unsere Branche vielleicht einen Hauch von Mitverantwortung für diese Pandemie hat.
Christian: Und wenn nicht für diese, dann für die nächste, bei der ein Virus auf einem Sojahighway aus dem Regenwald in Kontakt mit uns kommt. Aber ignorant sind nicht nur Politiker. Biodiversität gilt noch immer als Randthema. Bei einem Pressegespräch des Weltbiodiversitätsrats zu diesem Thema war unser Kollege Thomas einer der wenigen Journalisten, die teilgenommen haben. Aber wenn Apple ein neues Iphone vorstellt, sind Tausende Medienvertreterïnnen dabei. Das ist doch krank. Unsere Kollegin Tanja Krämer hat im Herbst 2020 einen wunderbaren Artikel darüber geschrieben, warum es mehr und besseren Umweltjournalismus braucht. Ich kann nur hoffen, dass unsere Branche beim UN-Biodiversitätsgipfel im kommenden Herbst nicht erneut versagt.
Johanna: Der Gipfel! Du lässt ja wirklich nicht locker, Christian. Natürlich teile ich deine Hoffnung im Prinzip, aber ich würde auch hier wieder der abgewandelten Devise meiner Großmutter folgen: Erhoffe so wenig wie möglich, dann wirst du wenigstens nicht enttäuscht. Ich wäre schon zufrieden, wenn die Konferenz dem Thema Biodiversität dazu verhelfen würde, etwas mehr aus dem Schatten des alles dominierenden Umweltthemas Klima herauszutreten.
„Ich war fassungslos, wie bedenkenlos viele Klimaschützerïnnen den Bau der Tesla-Fabrik in Grünheide bejubelt haben.“
Christian: Also versteh mich nicht falsch, dieser Gipfel kann scheitern, eine Luftnummer bleiben, versanden. Aber wenn man Politik ernst nimmt, sollte man ihn auch ernst nehmen. Wichtig fände ich dabei, dass Klima und Naturschutz endlich nicht mehr getrennt gedacht und behandelt werden. Das ist ja letztlich nur ein Ergebnis davon, dass die Vereinten Nationen 1992 beim Erdgipfel zwei getrennte Konventionen und damit zwei getrennte Politikbereiche geschaffen haben, einen für Klima, einen für Naturschutz.
Johanna: Einspruch. Ich finde es geradezu zwingend, beide Themen immer wieder auch getrennt zu betrachten – wegen der negativen Folgen, die viele Klimaschutzmaßnahmen zwangsläufig für die Natur haben. Mir wird zum Beispiel angst und bange, wenn ich daran denke, wie sich der forcierte Ausbau der Offshore-Windkraft auf die ohnehin schwer gebeutelten Seevogel-Populationen in der Nordsee auswirken wird. Die ja bis heute, außerhalb der Wattenmeer-Nationalparks, so gut wie keinen Schutz genießen – die Schutzgebiete bestehen leider nur auf dem Papier. Dort wird dann auch noch der Meeresboden regelmäßig mit Schleppnetzen durchpflügt. Wäre ja noch schöner, wenn die Fischereiindustrie auf irgendwelche blöden Mollusken oder Tauchenten Rücksicht nehmen müsste.
Christian: Über Windkraftnutzung müssen wir mal eine eigene Debatte führen, das sollten wir uns für 2021 vornehmen. Dein GEO-Artikel dazu hat viele Menschen zum Nachdenken gebracht.
Johanna: Ja, ich habe dieses Jahr auch oft gedacht, dass wir das Thema wieder stärker verfolgen sollten. Zum Beispiel war ich fassungslos, wie bedenkenlos viele Klimaschützerïnnen den Bau der Tesla-Fabrik in Grünheide bejubelt haben, und wie heftig die Anwohnerïnnen angefeindet wurden, die zumindest eine ordnungsgemäße Umweltverträglichkeitsprüfung eingefordert haben. Als wäre für Klima und Natur irgendwas gewonnen, wenn unsere Städte demnächst von Elektro-SUVs zugeparkt werden!
Christian: Das sehe ich genauso, aber genau solche nur scheinbaren Lösungen sind das Ergebnis davon, Klima und Natur getrennt zu behandeln. Wenn man es zusammen anpacken würde, würden jetzt auf der ganzen Welt erstmal Moore renaturiert, womit sich riesige Mengen CO2 binden lassen und der angeblich klimafreundliche Anbau von Mais für sogenannte Bioenergie würde eingestellt. Ohne solche Scheinlösungen würden wir vielleicht jetzt über Energiesparen reden statt über Windräder in ökologisch sensiblen Gebieten. Zum Glück gibt es jetzt ja endlich die Diskussion über “naturbasierte Klimalösungen”, ich würde ergänzen: es braucht auch naturbasiertes Denken. Wenn wir einfach nur ein auf Verschwendung, Ineffizienz und Überkonsum gründendes Wirtschaftssystem CO2-frei machen, wird vom Reichtum der Natur wenig übrigbleiben.
Johanna: Da sind wir uns mal komplett einig. Überkonsum beenden! Naturbasiert denken! Moore renaturieren! Ich hab vor Kurzem gelernt, dass allein die entwässerten Moore in Mecklenburg-Vorpommern dreimal so viel Treibhausgase emittieren wie sämtliche Windkraftanlagen des Bundeslandes einsparen. Und zwar jedes Jahr. Irre. Es wäre so leicht, das zu ändern – wenn man etwa die Milliarden an Subventionen, die in die Scheinlösung “Bio”-Energieproduktion gepumpt werden, in die Wiedervernässung von Moorböden investieren würde. Ach, Christian, wenn wir dieses Land regieren könnten, und sei es nur für ein paar Wochen!
Christian: Wie sagen die Briten so schön – be careful what you wish for…Ich möchte nicht in der Haut von Politikerïnnen stecken, die jeden Tag von Lobbyistïnnen mit Wünschen bombardiert werden und mit Warnungen, wie viele Arbeitsplätze verlorengehen, wenn sie keine neuen Autobahnen bauen oder sonstwas.
Johanna: Man muss einfach den Mumm haben, diese Lobby-Bagage auch mal vor die Tür zu schicken. Allein das vergangene Jahr hat zig Gründe geliefert, der Natur endlich die Priorität einzuräumen, die sie schon lange verdient: die erschütternde Langzeitstudie vom Randecker Maar etwa, die ein fast komplettes Verschwinden der wandernden Insekten seit 1970 ermittelt hat, die Erkenntnis, dass sich das Artensterben bei Vögeln noch fünfmal schneller vollzieht als selbst pessimistische Berechnungen bislang annahmen….
Christian: ….und dann noch die Studie zur Verarmung der Flora in Deutschland, die mit 29 Millionen Datensätzen viel genauer war als die Krefeld-Studie zum Insektenrückgang – und in den Medien kaum vorkam. Fast jede Woche haben Wissenschaftlerïnnen solche Studien veröffentlicht, man ist als Journalist kaum noch hinterhergekommen. Auf mich wirkte es wie ein kollektiver Hilfeschrei.
Johanna: Und es wird Zeit, dass der gehört wird! Ich hab schon mal ein bisschen Vorarbeit geleistet: durch die Gründung einer neuen Bürgerbewegung für Biodiversität, der “Mondays for Nature”. Was das ist, oder besser gesagt, sein könnte – bislang ist das wirklich nur eine Idee – hab ich in meinem neuen Buch aufgeschrieben, das im Februar erscheint. Im letzten Kapitel habe ich die “Grüne Neune” vorgestellt, die wichtigsten Erste-Hilfe-Maßnahmen für die Biodiversität, die wir jetzt sofort umsetzen könnten. Alles ganz naheliegend, problemlos zu finanzieren, seit langem angemahnt. Drei gemeinsame Wochen an der Regierung würden völlig reichen, Christian!
Christian: Die Unterstützung für Natur- und Klimaschutz in der Bevölkerung ist in den Umfragen tatsächlich groß. Aber als früherer Parlamentskorrespondent muss ich an diesem Zeitplan leider doch erhebliche Zweifel anmelden. Zudem würden wir beide uns sehr schnell danach sehnen, ungestört zu recherchieren, Missstände aufzudecken, Bücher und Artikel zu schreiben…Apropos Bücher: Zu den Highlights 2020 zählte für mich, dass wir Flugbegleiter unser erstes Buch herausgebracht haben. Und erzähl ein bisschen mehr von Deinem neuen Buch, das Ende Februar erscheint. Das klingt nach einem ersten Highlight für 2021. Gerade sehe ich zum ersten Mal den Titel: “Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht”. Wow.
Johanna: Für alle, die jetzt spontan an Pelztiere denken: Der Braune Bär ist ein wunderschöner Nachtfalter, der kürzlich vom BUND zum Schmetterling des Jahres 2021 gewählt wurde – nur wenige Wochen, nachdem wir entschieden hatten, ihn auf den Titel zu setzen. Ein netter Zufall, oder? Zum Inhalt: Es geht um Nachtfalter, klar, aber auch um Tagfalter, um seltene Moorpflanzen, vielhundertjährige Eichen, eine rätselhafte Süßwassermuschel und, natürlich, um Vögel. Unter anderem um Seggenrohrsänger und Goldregenpfeifer.
„Her mit den Ideen! Lasst uns die Zukunft besingen.“
Christian: Klingt nach wunderbarer Naturlektüre!
Johanna: Hoffentlich auch das. Aber vor allem ging es mir um diejenigen, die sich für den Schutz dieser Lebewesen engagieren. Denn wenn mir eines Hoffnung macht angesichts der fortschreitenden Naturzerstörung, dann sind es Menschen, die sich trotz allem nicht entmutigen lassen. Die im Kleinen demonstrieren, was irgendwann vielleicht auch im Großen möglich ist: das, was wir an Naturschätzen noch besitzen, zu erhalten und wenn möglich sogar wiederzubeleben.
Christian: Genau daran wollen wir 2021 ja auch zusammen bei „Countdown Natur” arbeiten, unserem Riffreporter-Rechercheprojekt, bei dem auch die Flugbegleiter mitmachen. Eine unserer Fragen wird lauten: Wie würde Deutschland aussehen, wenn wir bis 2030 die Naturschutz- und Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen wirklich umsetzen – und was muss dafür passieren? Auf diese Szenario-Übung freue ich mich schon sehr.
Johanna: Ich sehe gerade einen Kiebitzschwarm an meinem Fenster vorbeiziehen. In der Ferne höre ich die Rufe der Rohrdommel, die sich in dem renaturierten Feuchtgebiet am Rand unsere Dorfes niedergelassen hat. Der Duft neu angepflanzter Schlehen- und Wildrosenhecken dringt mir in die Nase. Kann ich noch mitmachen beim Beschreiben der blühenden Zukunft – ich habe mein Engagement bei den Flugbegleitern ja, buchbedingt, sträflich vernachlässigt im vergangenen Jahr – oder habt ihr schon alle Szenarien an feste Autorïnnen vergeben?
Christian: Da wir bei RiffReporter eine Genossenschaft von freiberuflichen Journalistïnnen sind, arbeitet jeder auch an anderen wichtigen Projekten. Es ist schön, dass Du mit Deinem Buch fertig bist. Und wir freuen uns schon darauf, wenn Du wieder mehr Artikel schreibst und mit Deinem Buch in unseren analogen und digitalen Veranstaltungen mit Bibliotheken auftrittst. Für das Szenario-Projekt haben wir Dich schon fest eingeplant! Wie übrigens auch unsere Leserïnnen, denn die sollen ihre Ideen beisteuern.
Johanna: Her mit den Ideen! Lasst uns die Zukunft besingen. Und nicht nur die. Du hast eingangs an Deinen Vorsatz für 2020 erinnert, mehr Hymnen zu singen, speziell auf Pirole. Ich nehme hiermit meine Skepsis gegenüber Vorsätzen ausdrücklich zurück und rege an, 2021 noch viel mehr Hymnen anzustimmen – auf Vögel und andere Lebewesen, vor allem aber auch auf Menschen. Mir fallen so viele ein, die ich spontan besingen oder zumindest beschreiben möchte; man hat in einem Buch ja immer so schrecklich wenig Platz. Als erstes würde ich… Aber vielleicht fängst Du erstmal an, Du hast schließlich schon Übung im Lobsingen.
Christian: Das ganze Zitat lautete eigentlich “Mehr Hymnen auf Pirole und Wasseramseln”, und die Hymne auf Wasseramseln bin ich 2020 schuldig geblieben. Insofern fange ich am besten mal mit diesen Vögeln an, die ich ganz besonders mag, seit ich sie in den 1980ern in meiner bayerischen Heimat mal vier Wochen lang im ganzen Landkreis gezählt habe. Ich beschäftige mich aber auch wieder mehr mit Botanik – da würde ich eine Hymne auf so wunderbar artenreiche Lebensräume wie die Porphyrkuppenvegetation in Sachsen-Anhalt singen, durch die unsere Bundesregierung leider gerade eine Autobahn bauen lässt.
Johanna: Und bei Menschen – wer gehört zu Deinen Lichtblicken für 2021?
Christian: Wir Journalistïnnen haben eigentlich eher das Kritisieren im Blut, aber ich finde das Loblied einen guten Ausgleich. Da fallen mir spontan zwei Gruppen ein: Die Managerïnnen, die Natur- und Klimaschutz wirklich ernst nehmen. Und junge Menschen, die entweder trotz oder wegen der ganzen schlechten Nachrichten gerade ihre Liebe zur Erde und zur Natur entwickeln und einzusetzen lernen. Und Du?
Johanna: Bei Vögeln und Pflanzen wüsste ich gar nicht, wo anfangen, es sind so viele, und im Zweifelsfall immer diejenigen, die ich gerade vor Augen oder im Ohr habe. Bei Menschen dagegen fallen mir schon einige konkrete ein: zuallererst diejenigen, die sich um das undankbare Schwarzbrot des Naturschutzes kümmern, die politische Lobbyarbeit in Berlin und Brüssel, aber auch die bürokratischen Alltagsaufgaben in lokalen Naturschutzbehörden.
Christian: Es ist leider überall ein Kampf bergauf, weil die Regeln, was sich wirtschaftlich lohnt, falsch geschrieben sind und weil Wissenschaft im Zweifelsfall knallhart ignoriert wird…
Johanna: Ich bewundere vor allem die Hartnäckigkeit und Frusttoleranz dieser Leute. Zu erleben, wie die fundiertesten Argumente, das umfangreichste Detailwissen immer wieder vom Tisch gewischt werden, von Ministerïnnen und Abgeordneten ebenso wie von baufreudigen Kommunalverwaltungen – ich frag mich oft, wie man das auf Dauer aushält. Und trotz allem immer wieder stur weiter macht, auch vor chronischen Konflikten nicht zurückschreckt. Diese Schwarzbrot-Aktivistïnnen haben viel mehr öffentliche Anerkennung verdient, finde ich. Ebenso wie.. darf ich noch kurz weitermachen, oder willst Du erst?
„Gehörnte Mauerbiene! Gestreifte Eichengallwespe! Argus-Bläuling!“
Christian: Alles gut, Du weißt ja, dass ich es zu unserer Jobbeschreibung als Umweltjournalistïnnen zähle, auch den Umweltbewegten genau auf die Finger zu schauen – warum das nötig ist, hat 2020 vor allem der WWF sehr deutlich gemacht, der zugeben musste, sich bei Naturschutzprojekten im Kongo nicht ausreichend um den Schutz der Menschenrechte gekümmert zu haben, wie eine Untersuchungskommission festgestellt hat. Leider gibt es Schwarze Schafe auch in der Umweltbewegung. Aber das mindert meinen Respekt vor den Umweltschützerïnnen, die ihr Bestes geben, überhaupt nicht.
Johanna: Ich würde noch ein Loblied auf diejenigen singen, die sich um weniger prominente Biotope kümmern, wie die von Dir erwähnten Magerrasen-Biotope im Saaletal – das wäre übrigens ein idealer Einsatzort für “Mondays for Nature”, denn diese Autobahnbaustelle gehört ebenso dringend blockiert wie die im Dannenröder Wald. Beim Stichwort Blockaden fällt mir ein weiteres Umweltthema ein, das auch wir Fachjournalistïnnen viel zu wenig auf dem Radar haben, unsere Kollegïnnen von den Flussreportern ausgenommen.
Christian: Fließgewässer! Bäche und Flüsse sind zwar sauberer geworden, aber noch bei jeder Radtour tut mir es mir in der Seele weh zu sehen, wie Landwirtschaft und falsch verstandener Hochwasserschutz sie in so vielen Regionen zu armseligen Wasserrinnen gemacht haben.
Johanna: Sie werden vor allem immer noch von Tausenden Staumauern und Kleinkraftwerken blockiert – Bauwerken, die maximalen ökologischen Schaden anrichten, bei minimalem Nutzen für den Klimaschutz. Eine Hymne auf die wenigen Naturschützerïnnen, die sich für die ungeheuer zähe Aufgabe einsetzen, Deutschlands und Europas Flüsse wieder durchgängig zu machen – und den Bau neuer Blockaden zu verhindern. Ein letztes Lied noch für alle diejenigen, die sich für den Erhalt und die Weitervergabe eines vernachlässigten, selbst von den biologischen Fakultäten lange verkannten Schatzes einsetzen: das Wissen über die Vielfalt der Arten, vor allem derjenigen mit geringem Kuschel- oder Promifaktor, wie Moosen, Mollusken oder Fluginsekten.
Christian: Das habe ich bei einem Spaziergang mit dem Chef des Botanischen Gartens Berlin für ein Interview wieder gemerkt: Dieses Wissen ist enorm wertvoll und wichtig – mindestens gleichrangig zum Beispiel mit dem Wissen von Ökonomïnnen, wie man eine Währung oder Volkswirtschaft stabil hält. Nur leider 1000fach weniger bekannt und geschätzt.
Johanna: Aber das Schöne ist: Noch ist dieses Wissen vorhanden und sehr lebendig. Und ich zapfe es regelmäßig an. Wenn ich zum Beispiel einen schrägen Käfer in meinem Garten finde, eine mir unbekannte Wildbiene, eine auffallend gemusterte Kugel auf einem Eichenblatt oder einen besonderen Falter, dann brauche ich nur kurz ein Bild davon auf Twitter zu posten, und zack! meldet sich ein artenkundiger Mensch, der das Tierchen oder auch Pflänzchen beim Namen nennt: Gemeiner Totengräber! Gehörnte Mauerbiene! Gestreifte Eichengallwespe! Argus-Bläuling! Meist noch mit einer Erläuterung zu Vorkommen und Verhalten, und welche Merkmale das abgelichtete Tier, zum Beispiel, vom Hauhechel-Bläuling unterscheiden, oder vom Schwarzhörnigen Totengräber. Ich bin jedesmal total begeistert, dass dieses Wissen existiert und so bereitwillig geteilt wird. Eine Hymne auf meine naturverbundene Twitter-Bubble!
Christian: Da stimmt ich mit ein! Und jetzt blicken wir noch kurz ins Neue Jahr. Es gibt ja diese bizarre Hoffnung, dass irgendwas besser würde, nur weil das Jahr 2020 vorbei ist. Aber bevor wir die lange Liste der Probleme fortsetzen, was sind Deine konkreten Hoffnungen für 2021?
Johanna: Es ist vor allem eine, die Du schon anfangs formuliert hast: dass die Corona-Krise, vor allem der weitgehende Stillstand des öffentlichen Lebens während der Lockdowns, möglichst viele Menschen dazu bewegt, die Natur wieder mehr wahrzunehmen und auch wertzuschätzen. Zu erkennen, wie kostbar lebendiges Grün in der Nähe der eigenen Wohnung ist, wie Vogelgesang klingt, der nicht von Verkehrslärm übertönt wird, welche Beobachtungserlebnisse selbst kleine Inseln der Vielfalt bieten können. Es gibt Anzeichen, dass das Bedürfnis nach solchen Naturerfahrungen gerade zu dramatisch gestiegen ist – mit durchaus durchwachsenen Folgen vor allem für stadtnahe Schutzgebiete. Aber wenn dieses neu erwachte Interesse dauerhaft zu mehr Aufmerksamkeit für Natur führt, wäre das großartig. Mehr Hoffnungen möchte ich lieber nicht formulieren, sonst fallen mir gleich wieder zig Sachen ein, die schief gehen oder schlechter werden könnten.
Christian: Recht hast Du, ich glaube die Kunst unserer Zeit ist eher, Dinge trotz widriger Umstände konkret anzupacken. Deshalb lass’ ich auch lieber mal überzogene Hoffnungen stecken, was den UN-Naturschutzgipfel betrifft. Wir werden intensiv darüber berichten, das ist dann unser konkretes Ding. Was mich mit Blick auf das neue Jahr beschäftigt, ist dieses Gefühl, über das ich 2016 in einem Essay in der FAZ geschrieben habe: Wie lange müsste man in die Vergangenheit zurückgehen, bis sich die Gegenwart wie ein Science-Fiction anfühlt? Früher waren das Jahre und Jahrzehnte, 2020 fühlte sich plötzlich die Gegenwart an wie ein ziemlich harter Science Fiction. Da kommen wir nur wieder raus, wenn jetzt sehr viele Menschen gemeinsam die Handlung umschreiben.