Extrembedingungen und viele Nischen: In Städten ist die pflanzliche Vielfalt besonders gross
Mit der Globalisierung haben sich Pflanzen rund um den Globus verteilt und gedeihen gerade dort gut, wo der Mensch stark in die Umwelt eingegriffen hat: in den Städten. Doch auch im Kulturland bedrängte Pflanzen finden dort ein neues Refugium.
Tausende von Pendlern eilen hier in Zürich morgens aus dem S-Bahnhof „Hardbrücke“ an ihre Arbeitsplätze und am Abend wieder zurück nach Hause. In der Nacht folgen ihnen die Partygänger, die die Bars und Clubs aufsuchen. Züge, Autos, Trams, Busse und Fahrräder verkehren auf engem Raum. Früher wurden in diesem Industriequartier Schiffe gebaut, heute wird in den ehemaligen Fabrikgebäuden Theater gespielt. Mittendrin auf einem Betonplatz steht ein riesiger grün schimmernder Kristall: In der Glasfassade des 36 Stockwerke hohen Bürogebäudes spiegelt sich das urbane Treiben. Mehr Stadt geht kaum.
Und doch will mir der Ökologe Jonas Frei gerade hier die Vielfalt der Pflanzen zeigen. „Der Ort ist botanisch sehr interessant“, versprach er, als wir den Treffpunkt vereinbarten.
Jonas Frei hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht: „Stadtwildpflanzen. 52 Ausflüge in die urbane Pflanzenwelt“. Der heutige Ausflug mit ihm wird ein Mini-Trip, nicht einmal 100 Meter weit. Doch auf diesem Spaziergang unternehmen wir eine botanische Weltreise, und Frei wird das Wort „selten“ so häufig fallen lassen, dass ich mich in einem Regenwald mit lauter exotischen Gewächsen wähne.
Vom Bahnhof „Hardbrücke“ spazieren wir zu einem Weg, der entlang der Geleise führt. Auf der einen Seite trennt uns ein Drahtzaun von den Zügen, die alle paar Minuten vorbeidonnern. Auf der anderen Seite begrenzen Büro- und Wohngebäude den Weg, den sich Fussgänger und Fahrradfahrerinnen teilen. Alles andere als ein Naturidyll. Jonas Frei aber sagt: „Gleisfelder sind in vielen Städten sehr artenreiche Gebiete, auch hier in Zürich. Sie ähneln einer Flussauenlandschaft.“
Heisse und trockene Städte: Das mögen Pflanzen aus dem Süden
Eine Auenlandschaft ohne Fluss allerdings. Statt einem Fluss, dessen Pegel schwankt, manchmal trockenfällt und dann wieder über die Ufer tritt und Flächen überschwemmt, sorgt hier der Bahnbetrieb für Dynamik. Und wo Dynamik herrscht, da ist die Artenvielfalt oft hoch.
Zwischen den Geleisen und Betriebsgebäuden der Bahn wechseln sich Schotter-, Kies- und Sandflächen ab, es gibt besonnte und trockene Böschungen sowie feuchte und schattige Gräben: verschiedenste Lebensräume, die ihre je eigenen Arten anziehen. In Städten herrscht zudem ein wärmeres und trockeneres Klima als in der Umgebung. Und auf dem baumlosen Bahnhofsgelände ist es oftmals noch heisser und trockener als in der übrigen Stadt. So verschlägt es Arten nach Zürich, die natürlicherweise weiter südlich vorkommen.
Jonas Frei kniet am Wegrand nieder. Er schaut sich im Gleisschotter, der unter dem Zaun hindurch bis zum Weg reicht, eine etwa 15 Zentimeter hohe Pflanze mit kleinen, blassgelben Blüten genauer an. „Ein Alyssum, das kenne ich in der Schweiz eigentlich nur aus dem warmen und trockenen Wallis“, sagt Frei. „Alyssum alyssoides, Kelch-Steinkraut. Ganz selten.“
Wie kommt diese Pflanze an diesen scheinbar so unwirtlichen Ort? „Ich tippe auf Dachbegrünung“, sagt Frei. „Vermehrt werden Flachdächer mit Saatmischungen begrünt. Da hat der Wind wohl einen Samen hierher verfrachtet.“
„Super seltener Trauben-Gamander“
Ein ähnliches Schicksal hat vermutlich auch das Pflänzchen erfahren, das gleich nebenan aus einer Abflussrinne spriesst. Es spiegelt sich im bis zum Boden reichenden Glas des Bürogebäudes. Neben ihm liegt eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe.
Genauso achtlos werden auch die meisten Menschen an der Pflanze vorbeigehen. Nicht so Jonas Frei: „Das ist super selten, ein Trauben-Gamander.“ Auch diese Pflanze stammt aus Südeuropa. Sie wurde zwar immer wieder mal in Zürich nachgewiesen. Vor 20 Jahren aber wurde sie nicht mehr gesichtet. Nun ist sie zurück auf humusarmen Kiesböden – und auf künstlich angesäten Flachdächern, von wo sie möglicherweise hierher geraten ist.
Genau dies fasziniert Jonas Frei an der Stadtflora: Wie Menschen und Pflanzen zusammenleben und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. „In der Stadt können wir an Pflanzenarten ablesen, wie vernetzt und global wir sind.“
Vor einiger Zeit ist ihm das Buch „Wild Plants in the City“ aus dem Jahr 1975 in die Hände gefallen. Darin beschreibt die Autorin Nancy M. Page typische New Yorker Pflanzen. „Von den rund 100 Arten, die Page aufführt, finden wir die allermeisten auch in Zürich und anderen europäischen Städten wie Berlin oder Paris, aber auch in Tokio oder in Städten an der Ostküste der USA.“
Jonas Frei nennt die Pflanzen, die über den ganzen Erdball verbreitet sind, die „Flora des Anthropozäns“. Die Pflanzenwelt des Menschenzeitalters gedeihe dort, wo der Mensch am stärksten in die Umwelt eingegriffen habe. „Während viele Arten von menschengemachten Veränderungen verdrängt worden sind, profitieren die Stadtpflanzen genau von diesen Eingriffen.“
Der Mensch sei heute der beste Verbreiter von Pflanzen, sagt Frei. Viele Pflanzen seien mit dem globalen Handel rund um die Welt gereist. Doch häufig spiele auch der menschliche Geschmack eine Rolle, wenn etwa „exotische“ Gewürz- oder Gartenpflanzen ausbüxen und sich unkontrolliert in der Stadt breitmachen.
Ein Beispiel davon findet Jonas Frei ein paar Meter weiter: das Patagonische Eisenkraut. Wie der Name sagt, stammt es ursprünglich aus Südamerika. Vor ein paar Jahren hat es seinen Siegeszug durch die Gärten und Balkonbegrünungen in Zürich angetreten, und nun verwildert die aparte Pflanze mit ihren violetten Blüten in der Stadt. Ihre Ansprüche sind bescheiden: Kleinste Ritzen genügen ihr zum Keimen. Brachen und Baustellen gehören zu ihren Biotopen. Aber auch für das Patagonische Eisenkraut gilt in Zürich: sehr selten!
Stadtpflanzen müssen mit teilweise harschen Bedingungen zurechtkommen. Neben dem warmen Stadtklima müssen sie Trockenheit ertragen. In Städten sind grosse Teile der Flächen versiegelt, das Regenwassers wird in Kanalisationen abgeleitet, sodass nur wenig Wasser für die Pflanzen übrigbleibt. Was auf Gehwegen und an Strassen wächst, muss zudem Tritte aushalten können. Und ebenso hilft zum Überleben eine höhere Resistenz gegen Salz wie im Fall der Strandkresse, die üblicherweise in salzhaltigen Böden im Küstenbereich zuhause ist und die Jonas Frei nun gerade am Rand des Gehwegs entdeckt. „Die profitiert enorm vom Salzen im Winter.“ Und klar: In Zürich ist sie selten.
Invasive Arten: Ursache und Wirkung nicht verwechseln
Allerdings gibt es auch Pflanzen, die sich wohler fühlen, als vielen lieb ist. Sogenannte invasive Neophyten sind gebietsfremde Pflanzen, die sich so rasch vermehren, dass sie die einheimische Flora verdrängen. Sie gelten daher als eine Gefahr für die Biodiversität. Vielerorts haben Behörden und auch Naturschutzorganisationen Massnahmen ergriffen, um invasiven Arten wie dem Japanischen Staudenknöterich oder der Kanadischen Goldrute Herr zu werden: Man reisst sie aus, verbietet ihre absichtliche Anpflanzung oder versucht, ihre Einfuhr zu verhindern.
Jonas Frei zeigt gegenüber diesen schlecht beleumundeten Pflanzen eine eher gelassene Haltung. Er weist mit Nachdruck darauf hin, dass wir Ursache und Wirkung nicht verwechseln sollten. Wie Menschen seien es, die Ökosysteme so stark verändert hätten, dass invasive Pflanzen bei uns ideale Bedingungen vorfänden. Der Mensch habe die mitteleuropäische Landschaft gerade seit Mitte des letzten Jahrhunderts regelrecht ausgetauscht und damit die Lebensgemeinschaften umgekrempelt. Neophyten seien eine Reaktion darauf und nicht die Ursache des Problems.
Pflanzen vom Acker nun mitten in der Stadt
Doch in der Stadt finden sich nicht nur viele Pflanzen, die sich dank menschlichem Einfluss in Regionen abseits ihrer ursprünglichen Lebensräume etablieren. Die Stadt wird auch zu einem Refugium für heimische Pflanzen, die in ihrem ursprünglichen Habitat zurückgedrängt worden sind.
Was im Kulturland wegen der intensiven Landwirtschaft mit ihrem hohen Einsatz an Herbiziden verschwindet, taucht in der Stadt wieder auf. Ackerwildkräutern wie die Ackerröte oder den Acker-Gauchheil begegnet man auf städtischen Kiesplätzen oder lückigen Rasen eher als in den Äckern ausserhalb der Stadt.
Auch wir kommen auf unserem kurzen Spaziergang an etlichen Pflanzen des Kulturlandes vorbei. Da sind etwa Klatsch- und Saat-Mohn, Wiesen-Flockenblume, Kornblume, Wilde Karde, Weisse Lichtnelke, Nickendes Leimkraut, Acker-Kratzdistel, Klatschnelke und die – man ahnt es schon – sehr seltene Acker-Ringelblume.
Dass man mitten in der Stadt so viele verschiedene Arten auf kleinem Raum antrifft, hat auch mit einem Umdenken zu tun. Die Zürcher Stadtverwaltung lässt mittlerweile vieles stehen, was früher gemäht oder ausgerissen worden wäre. Sie sät selten gewordene Arten gar an. Wie zum Beispiel die Eselsdistel, die uns ihre stachligen Blätter entgegenstreckt.
„Allein daran, wie es hier aussieht, erkennt man schon, dass sich etwas geändert hat“, sagt Jonas Frei. Früher wäre das Spriessen von „Unkräutern“ entlang von Strassen und Gehwegen als ungepflegt bezeichnet worden. „Aber mittlerweile hat man erkannt, dass die städtische Biodiversität einen Wert hat. Und sie wird von der Bevölkerung zunehmend akzeptiert.“
Dazu beigetragen haben auch Pioniere des sogenannten Guerilla Gardening. Einer von ihnen, der Zürcher Maurice Maggi, sät seit Jahrzehnten heimlich bunte Stockrosen auf öffentlichem Grund. Seine „Pflanzengraffiti“ gehören heute zum Stadtbild von Zürich. Auch das Urban Gardening sowie Aktionen wie #mehralsunkraut und #Krautschau, bei denen die Namen von „Unkräutern“ mit Kreide markiert werden, um Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, zeigen, dass die Akzeptanz für mehr Natur in vielen Städten gestiegen ist.
In der Stadt könne man Natur ganz ohne Einschränkungen erleben, sagt Jonas Frei. „Anders als in Schutzgebieten werden die Menschen nicht von der Natur ausgesperrt.“ In einem Schutzgebiet versuche man den historischen Zustand einer bestimmten Zusammensetzung von Arten zu erhalten, in der Stadt hingegen sei die Artenvielfalt ständig im Umbruch: „Hier lässt sich Biodiversität aktiv erleben.“
Die Botschaft des Stadtökologen lautet daher: Wir sollten uns freuen über die ständigen Veränderungen, die immer wieder botanische Überraschungen hervorbringen. „Die grosse Zeit der Entdeckung neuer Pflanzenarten ist lange vorbei. Doch heute kann ich in den Städten Neuentdeckungen machen. Pflanzen, die vorher nie da waren, tauchen plötzlich auf. Und für diese Entdeckungen muss ich keine langen Reisen auf mich nehmen.“
Die Virginische Kresse: eine Kosmopolitin
Bevor wir zurück zum Bahnhof gehen und uns wieder inmitten des Verkehrsgetümmels verabschieden, will mir Frei nochmals ein Beispiel für eine globalisierte Pflanze zeigen. Sie sei eine regelrechte Kosmopolitin. Wieder bückt er sich beim Zaun. Eine S-Bahn rast vorbei, ihr Fahrtwind nimmt wohl gleich so manche Pflanzensamen mit und verteilt sie entlang der Geleise.
Die Pflanze, die Frei untersucht, hat weisse Blütenblätter, es ist eine Virginische Kresse. Ursprünglich aus Nordamerika, kommt sie nun fast weltweit in Städten vor. Im 18. Jahrhundert war sie in Mitteleuropa bereits aus botanischen Gärten verwildert. Im Kanton Zürich wurde sie 1888 zum ersten Mal entdeckt. Mittlerweile ist sie hier die häufigste Kressen-Art überhaupt. Bahnareale und Schuttplätze mag sie besonders, typische städtische Lebensräume also, die dauernder Veränderung unterworfen sind, die entstehen und wieder vergehen. Auch mit dieser unscheinbaren Pflanze mitten in der Stadt, in diesem vom Menschen geschaffenen Raum, zeige die Natur ihre eigenständige Kraft, sagt Frei.
Um sie zu erleben, müssen wir nur vor die Türe treten – und hinschauen.
Jonas Frei: Stadtpflanzen. 52 Ausflüge in die urbane Pflanzenwelt. Mit Hintergrundwissen und Stadtvegetation. AT Verlag, Aarau und München 2022. 352 Seiten. € 28, CHF 34.