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Von wegen Sofahelden – was gibt es jetzt Besseres, als die Natur in der eigenen Umgebung zu erkunden?
Von wegen Sofahelden – was gibt es besseres in der Corona-Pandemie, als die Natur in der Umgebung zu erkunden?
Wie wir vor der eigenen Haustür nicht nur Vögel, sondern auch Ruhe finden
Die Bundesregierung ermuntert uns mit Werbeclips, in diesen Tagen einfach auf dem Sofa liegen zu bleiben. Auch wenn der dahinterstehende Appell absolut richtig ist, sich an die Corona-Regeln zu halten, um das eigene Leben und das der Mitmenschen vor Covid-19 zu schützen – so viel Zeit bewegungslos in der Wohnung zu verbringen, das birgt seine eigenen Gesundheitsrisiken und drückt auf die Stimmung.
Der Corona-Winter ruft nach neuen Routinen – statt zu verreisen können wir unsere Umgebung erkunden; wir können spazieren gehen statt auf dem Sofa in Trübsal zu versinken.
Um Sie zu inspirieren, stellen wir Ihnen heute unsere persönlichen Natur-Refugien vor der Haustür (und in einem Text vor dem Fenster) vor. Orte, an die wir ohne lange Wege gelangen, an denen wir Entlastung vom Stress der Pandemie finden – und an denen wir Natur erleben können.
Johanna Romberg: Mein Irgendwas-fliegt-immer-Refugium
Ein Häuflein verfrorener Goldammern, ein Kolkrabenpaar, ein Schwarm lebhaft wispernder, aber hartnäckig unsichtbarer Goldhähnchen: Es ist nicht viel los zurzeit in meinem Dorf und dessen Umgebung, ornithologisch gesehen (und auch sonst wenig). November in Nordniedersachsen ist selbst zu Normalzeiten eine karge Angelegenheit, und in diesem Jahr erst recht.
Zum Glück gibt es nicht weit von uns ein IFI, ein „Irgendwas fliegt immer“-Gebiet. So nenne ich jene Inseln in der norddeutschen Agrarwüste, von denen ich selbst nach kurzem Rundgang immer mit einem guten Dutzend gesichteten Arten zurückkomme, darunter meist mindestens einer, die ich seit Monaten oder Jahren nicht mehr gesehen habe.
Mein bevorzugtes IFI ist eine Kleientnahmestelle in der Elbmarsch, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem beliebten, auch bundesweit bedeutenden Rastplatz und Brutrevier vor allem für Enten, Gänse und andere Wasservögel entwickelt hat. Für Leute, die nicht in Meeres- oder Flussnähe wohnen: Klei ist entwässerter Schlick, den man im Deichbau verwendet, weil er gut klebt. Auch unter den Schuhen übrigens. Anwohner berichteten früher, dass sie nach jedem Gang durchs Gelände „fast zwei Pfund Lehm unter jedem Stiefel“ gehabt hätten.
Der leere Terminkalender brachte mich zu den Enten
Man gewinnt Klei durch Ausbaggern von Flächen im Hinterland eines Deichs. Zurück bleiben flache Teiche, die alles anziehen, was auf, an und im Wasser lebt – von Feuerlibellen über Ringelnattern und Nutrias bis zu Seeadlern. Die Vögel sind in dem rund 100 Hektar großen Abbaugebiet in der Elbmarsch mit 220 Arten vertreten – so viele hat, im Laufe der vergangenen 15 Jahre, der Ornithologe Volker Dierschke gezählt, der das Gebiet im Wochenrhythmus beobachtet und in Absprache mit dem regionalen Deichverband auch naturschutzfachlich betreut.
Ich habe von diesen 220 Arten (allein in diesem Jahr waren 168 davon präsent) bis jetzt höchstens ein Fünftel gesehen – die Elbmarsch liegt einige Kilometer von meinem Wohnort entfernt, und im normalen Alltag gibt es immer tausend Dinge, die gerade dringender sind als eine Vogelexkursion. In den vergangenen Wochen aber war ich, auch dank coronabedingt leerem Terminkalender, häufiger dort. Vor allem zum Entenbeobachten.
Ich liebe Enten, weil sie gerade im norddeutschen November daran erinnern, dass es noch andere Farben gibt außer hochnebelgrau, koniferengrün und stoppelfeldbraun: das intensive Orange auf den Flanken der Löffelenten etwa, das erstaunlich leuchtkräftige Vanillegelb auf den Stirnen der Pfeifenten, das metallic-grüne Abzeichen, das Männchen wie Weibchen bei den Krickenten ziert. Und das strahlende Weiß der Gänse- und Zwergsäger, die auf jedem Tümpel von weitem ein Blickfang sind.
Leiser Neid auf Langstreckenflieger
Dieses Jahr habe ich beim Betrachten von Enten, wie beim Vogelbeobachten generell, außer Freude noch etwas anderes empfunden: leisen Neid. Wenn man so lange unfreiwillig ortsgebunden ist, dann fällt einem umso mehr auf, wie unfassbar mobil die Vögel sind. Die Enten und Gänse, die zurzeit in der Elbmarsch rasten – sie könnten morgen Richtung Atlantikküste aufbrechen, oder auch zum Bodensee. Wir Beobachtende können ihnen nur sehnsüchtig hinterher schauen, ein bisschen sorgenvoll auch: Enten, zumindest die häufigeren Arten, dürfen in Deutschland bis zum 15. Januar gejagt werden, zudem gelten sie, wie alle Wasservögel, als Überträger der Vogelgrippe. Das könnte sie gerade in Pandemiezeiten vermehrt zum Zielobjekt machen.
Solche Überlegungen treiben mich vor allem dann um, wenn ich nach Ankunft an der Kleientnahmestelle vor leeren Wasserflächen stehe. Zuletzt ist mir das gleich zweimal hintereinander passiert, und das, nach dem auf ornitho.de kurz zuvor über ein Dutzend interessante Arten zum Teil in Schwarmstärke gemeldet wurden.
Volker Dierschke hat mich auf Nachfrage beruhigt: Die Vögel, sagte er, seien auch innerhalb der Region sehr mobil, sie pendelten oft innerhalb eines Tages zwischen Elbe, Kleientnahme und anderen Wasser- und Futterflächen in der Elbmarsch. Und dann erzählte er mir noch, dass er erst vorgestern außer 94 Schnatter-, 21 Pfeif-, 79 Krickenten und je eine Spieß- und Tafelente gesehen habe, außerdem einen Raubwürger und eine Kornweihe.
Ich muss demnächst unbedingt wieder hinfahren.
Thomas Krumenacker: Mäusebussard statt Schreiadler
Die Adler sind jetzt in der Negev-Wüste oder in Afrika. Und ich bin: im Tegeler Forst.
Seit vielen Jahren gehört es zu den Höhepunkten meines Vogeljahres, eine Art ein Stück des Weges auf ihrem Zug zu begleiten, die mir viel bedeutet: den Schreiadler. Wenn der Sommer zu Ende geht, der Altweibersommer Fäden spinnt und das Licht mit jedem Tag weicher wird, wächst auch meine Sentimentalität. Es sind die letzten Tage mit den Adlern. Die Saison ist dann gelaufen, das von mir betreute Adlerpaar war auch dieses Jahr erfolgreich und macht sich auf den gefährlichen Weg in den Süden.
Diesen „Trennungsschmerz“ mildert seit vielen Jahren eine herbstliche und – wenn zeitlich machbar – eine weitere winterliche Reise nach Israel. Im Herbst finden sich dort Hunderte, manchmal Tausende Schreiadler in einigen Waldgebieten ein, um zu übernachten.
Ich quartiere mich dann in ihrer Nähe ein, verbringe einen gemütlichen Vormittag mit Birdwatching im Jordantal oder am See Genezareth und mache mich gegen Mittags dann auf in einen kleinen Wald unweit von Nazareth, um – gut getarnt – die spätnachmittägliche Ankunft der Adler abzuwarten. Die Vögel, die hier eintreffen, haben noch vor weniger als einer Stunde die wohl gefährlichste Passage ihres Zugs absolviert: den Flug über den Libanon. Also freuen wir uns gemeinsam, dass sie wohlbehalten angekommen sind. Am nächsten Tag setzen die Vögel mit den ersten Sonnenstrahlen ihre Reise fort und ich warte auch den nächsten Schwung Adler am Nachmittag. Während die Schreiadler hier nur kurz Station machen, verbringen sehr nahe Verwandte der Schreiadler, sozusagen deren große Geschwister, in Israel den ganzen Winter. Sie, die Schelladler, sind meist Ziel meiner Winterreise.
Neue Routine: Eine Stunde pro Tag im Wald, ohne Mobiltelefon
Beide Reisen – und einige mehr – sind dieses Jahr für mich ausgefallen. Im Frühjahr war das Fliegen nach Israel nicht möglich, im Herbst und jetzt im Winter halte ich es nicht für vernünftig. Um meine überlebenswichtige Dosis Natur zu bekommen, gehe ich stattdessen fast täglich für eine Stunde in den Tegeler Forst oder in das Tegeler Fließtal – zwei der schönsten Naturgebiete in der Hauptstadt und direkt vor meiner Haustür gelegen.
Einen urwüchsigen Mischwald wie es der Tegeler Forst in einigen Teilen noch ist, muss man im stadtnahen Brandenburg schon länger suchen. Eine Stunde pro Tag im Wald, ohne Mobiltelefon und ganz auf Vögel konzentriert, das ist mein Rezept im „Lockdown“. Ich freue mich über jeden Schwarzspecht und den Habicht, der neulich auf dem Weg saß und nur sehr widerwillig und schwerfällig mit einer gerade erbeuteten Ringeltaube davonflog.
Im Tegeler Fließtal heißen die Adler zwar Mäusebussarde, aber es gibt selbst Anfang Dezember noch mehr Kraniche als Spaziergänger. Die erzwungene Beschränktheit auf das im Wortsinne Naheliegende empfinde ich inzwischen mehr als Bereicherung denn als Verzicht. Und meine CO2-Bilanz kann sich endlich auch sehen lassen, weil die Flüge ausfallen.
Noch wichtiger als sonst ist mir in diesen Tagen auch das Futterhaus vor dem Fenster. Mal sehen, vielleicht wird es ja ein guter Seidenschwanz-Winter, die ersten habe ich schon gesehen. Und in ein paar Wochen schon beginnt die Spechtbalz. Und dann kommen auch die Adler schon wieder.
Markus Hofmann: Die stoischen Waldohreulen
Etwas weiter vorne zweigt ein Pfad rechts ab. Eine Frau und ein Mann stehen dort. Sie zögern, den Pfad zu betreten. Im feuchten Gras liegt eine Holzlatte, mit der der Weg während den Brutzeiten der Vögel gesperrt wird. Jetzt ist er offen. Das Paar bleibt dennoch auf dem Hauptweg, auf dem Radfahrer zwischen Spaziergängern und Hunden Slalom fahren. Ich aber gehe nach rechts, und plötzlich schärfen sich meine Sinne.
Bereits zuvor habe ich immer wieder in den Himmel geschaut und die Landschaft nach verdächtigen Bewegungen abgesucht: ein Huschen übers Feld, ein Schatten zwischen den Wolken. Rund um den Zürcher „Chatzensee“ (Schweizerdeutsch für „Katzensee“), den die Gletscher hier vor Tausenden von Jahren bei ihrem Rückzug hinterliessen, gibt es regelmässig Aussergewöhnliches zu entdecken. Vor kurzem haben Birder auf einer einschlägigen Internetseite eine Fichtenammer gemeldet. Das Gebiet im Norden der Stadt Zürich mit Mooren und kleinen Wäldern steht seit über 100 Jahren unter Schutz.
Aber ich blieb eher unkonzentriert. Die vielen Menschen, die hier zwischen Autobahn und ausfransenden Neubauquartieren ihren Sonntagsspaziergang machen und Erholung vom Homeoffice suchen, hielten mich davon ab, dauernd das Fernglas vor die Augen zu halten. Es ist mir etwas peinlich, die Rolle des Vogel-Nerds am Wegrand zu spielen.
Ich wäre wohl an ihnen vorbeigegangen
Am liebsten bin ich alleine unterwegs. Dann muss ich mich auf meine eigenen Augen und Ohren verlassen. Auf dem schmalen Pfad abseits vom Getümmel des Naherholungsgebietes, kehrt etwas Ruhe ein. Das Geplauder der Paare und Familien ist verstummt.
Da zappelt es in einem Strauch. Mindestens ein Dutzend Feldsperlinge flattert munter von Ast zu Ast. Dann entscheidet sich ein Wagemutiger aus der Gruppe, auf den Boden zu fliegen, und alle folgen ihm, hüpfen wie Gummibälle auf und ab zwischen den Gräsern, suchen nach Nahrung, dann wird ihnen das auch wieder zu langweilig, sie heben ab in den nächsten Strauch, in dem ihre braunen Gefieder zwischen den herbstlich-welken Blättern verschwinden.
Im Augenwinkel erkenne ich einen Mann in rund 50 Meter Entfernung. Er schaut durch ein Fernrohr, das auf eine Gruppe von Sträuchern gerichtet ist. Dann sieht er sich um und senkt gleich wieder den Kopf zum Fernrohr. Langsam nähere ich mich ihm. Inzwischen hat der Mann die Beine des Stativs zusammengeschlagen und es sich nach Art der Vogelbeobachter lässig über die Schulter gelegt. Ob ich sie schon gesehen habe, fragt er mich, während wir den Pfad kreuzen: da vorne, fünf Waldohreulen.
Ich wäre wohl an ihnen vorbeigegangen, hätte mich der Mann nicht auf sie aufmerksam gemacht. Wie überdimensionierte Kerzen in einem Weihnachtsbaum sitzen sie bolzengerade und in gebührender Entfernung voneinander im Strauch. Obwohl dieser bereits viele Blätter verloren hat, sind sie perfekt getarnt. Im Gegensatz zu den Sperlingen verhalten sie sich fast regungslos. Manchmal dreht eine von ihnen etwas den Kopf. Ich bin nur wenige Meter von ihnen entfernt. Meine Anwesenheit scheint ihnen völlig egal zu sein. Nur eine hat mich im Blick. So bilde ich es mir zumindest ein.
Zurück zum Bus, Maske auf
Ich bleibe eine knappe halbe Stunde dort. Niemand kommt mehr des Weges. Meine Arme werden müde vom Hochhalten des Fernglases. Die Eulen hocken gelassen da. Auch der Schrei eines Rotmilans bringt sie nicht aus der Ruhe. Es ist später Nachmittag. Es dunkelt ein. Ich verlasse die Waldohreulen mit dem Versprechen, bald zurückzukommen.
Nach wenigen Minuten gelange ich auf einen breiten Weg, reihe mich in den Strom der Spaziergänger ein und überquere auf einer Brücke die Autobahn. Ein letzter Blick zurück zum Strauch mit den fünf Waldohreulen, dann ziehe ich wieder die Schutzmaske über Mund und Nase und steige in den Bus, der mich durch die Stadt nach Hause bringt.
Anne Preger: Birden vom Freiberuflerinnen-Schreibtisch
Egal wie viel Arbeit auf meinem Schreibtisch wartet, mein Blick wandert regelmäßig aus dem Fenster – in die Krone des Walnussbaums, der an der Grenze unseres Gartens im Hof meiner Nachbarn steht. Und manchmal werde ich dann hektisch – dann nämlich, wenn Brownie, Karlsson oder Django im Baum nach den letzten Walnüssen des Jahres angeln. Dann sprinte ich die Treppe rauf, hole die Kamera und versuche, vom Balkon aus ein gutes Bild von einem der drei Eichhörnchen zu machen, die den Baum gerade fast täglich besuchen.
Der Walnussbaum ist auch mein persönlicher Ort für „backyard birding“: Buntspechte schauen vorbei, aber auch schon mal ein Grünspecht. Im Winter sind Rotkehlchen, Blau-, Kohl- und Schwanzmeisen aktiv. Ein paar Rabenkrähen krächzen von den Ästen. Im Herbst hat regelmäßig ein Gimpelpärchen vorbeigeschaut. Und im Frühjahr singt ein Star von seinem Ansitz in den obersten Zweigen.
Ab und zu kommt auch mal ein Halsbandsittich vorbei, aber meistens jagen die eingeschleppten Papageien eher im Familienverband über dem Baum hinweg. Die Äste des Walnussbaums sind zum Teil mit Flechten und Moos bewachsen. Der Baum ist auch im Sommer eher schütter belaubt und vielleicht nicht mehr ganz gesund. Aber ich hoffe, dass meine Nachbarn ihn trotzdem noch lange stehen lassen.
Christian Schwägerl: Pforte in eine schönere Welt
Noch nie war mein geografischer Radius kleiner als in diesem Jahr: Meine Wohnung, mein Viertel – außer mit wenigen Ausnahmen im Hochsommer war es das. Der Vorteil: Noch nie zuvor habe ich mein Viertel am Rüdesheimer Platz im Berliner Stadtteil Wilmersdorf so aufmerksam wahrgenommen wie in diesem Jahr.
Bei meinen vielen Spaziergängen habe ich Straßen, Winkel und Hinterhöfe erkundet, in denen ich zuvor nie gewesen war; ich habe herausgefunden, dass die halbe Frühgeschichte der RAF an Schauplätzen ganz in der Nähe stattgefunden hat; ich bin darüber gestolpert, dass der Duden seine Zentrale ganz in meiner Nähe hat. Auch wenn das Leben verengt war, hat sich mein Blick geweitet.
In schönen wie in traurigen Abschnitten des Jahres war ein Gebiet besonders wichtig für mich: Die Kleingartenanlage gegenüber meiner Wohnung. Ein kleines, grün gestrichenes Türchen bildet die Eintrittspforte. Innen warten schmale Wege, die zwischen den Grundstücken hindurchführen. Man muss über die Kleingartenanlage wissen, dass sie und ihre Besitzer einen sympathischen Eindruck machen. Hier schneidet kaum jemand Rasen millimetergenau. Es gibt viel Wildwuchs, viele Obstbäume, viele Blumen. Die meisten Gartenbesitzerïnnen scheinen sich Mühe zu machen, Vögeln und anderen Tieren ein Zuhause zu bieten.
An den meisten Tagen sitzen direkt am Eingang Spatzen, nicht selten sogar ein aus Haus- und Feldsperlingen gemischter Pulk, der sich einmal in April so stark vergrößert und beim Tschilpen sich zu solcher Lautstärke gesteigert hatte, dass die Nachbarschaft davon erschallte. Wenige Meter weiter erfreute ich mich bis zum Herbst fast täglich am einladenden Anblick der Hängematte in einem wunderbar zugewachsenen Garten, fast wie aus einem Bilderbuch.
Trost in den Farben, Formen und Verwandlungen
Während der ersten Corona-Beschränkungen von März bis Mitte April war der Vogelgesang so rein und schön, wie ich ihn noch nie wahrgenommen hatte. Keine Flugzeuge, keine Autos, nichts übertönte die Mönchsgrasmücken, Amseln, Zilpzalpe, Gartenrotschwänze. Als sich dann im Mai die Nachtigall hinzugesellte, war es drumherum schon wieder lauter – die Stadtautobahn ist nicht weit – aber der Vogel verstand es, seinen Gesang weithin hörbar zu machen. Das war inmitten der Ängste und Unsicherheiten dieser Zeit wie Honig, der in einen bitteren Trank tropft und ihn erträglicher macht.
Ich war nicht der einzige, der in diesem Jahr regelmäßig in den Kleingärten seine Bahnen gegangen ist. Noch nie ist den Menschen in der Stadt wohl so deutlich vor Augen getreten wie wichtig jeder Flecken Grün in einer solchen Metropole ist. Jetzt, zum Jahresende, gibt es einen regelrechten Run auf alle Parks und stadtnahen Wälder, die Menschen brauchen Abwechslung zu ihren vier Wänden und finden sie dort. Sie brauchen Bewegung, um nicht auf dem Sofa einzurosten oder schlimmeres. Und sie finden Trost in den Farben, Formen und Verwandlungen einer Natur, die uns in einer Zeit großer Umbrüche und großer Verunsicherung in der Menschenwelt die Gewissheit bietet, dass auf Sommer Herbst, auf Herbst Winter und vor allem auf den Winter ein neues Frühjahr folgt, auch während einer Pandemie, die so viel Tod und Leid mit sich bringt und unsere Geduld strapaziert.
Gerade jetzt in den Wintertagen ruft der faule Teil des Gehirns: Bleib im Bett, bleib auf dem Sofa, bleib am Schreibtisch! Aber da ist diese grüne Tür in die Kleingartenanlage. Sie ruft lauter, vom Anblick flechtenbewachsener Obstbäume; von den Winterarien der Stare, die sich in einer großen Birke zusammenfinden; vom Ticken des Buntspechts; von Luftkämpfen zwischen Nebelkrähen und Turmfalken; von Pflanzen, deren ausdauernde Blüten die Jahreszeit vergessen lassen.
Sogar in Dämmerung und Dunkelheit ist es hier schön.