Im Check: Online-Kurs zur evidenzbasierten Medizin

Was du von Cochrane Evidence Essentials erwarten kannst und was nicht

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
9 Minuten
Auf fünf Puzzle-Stücken sind von links nach rechts ein Fragezeichen, ein Pfeil nach rechts, Zahnräder, ein Pfeil nach rechts und eine leuchtende Glühbirne zu sehen.

Wenn du gute Gesundheitsentscheidungen treffen willst, brauchst du unter anderem ein Grundverständnis dafür, wie gesichertes Wissen in der Medizin entsteht. Solche Einblicke verspricht ein kostenfreier Online-Kurs, den das internationale Forschungsnetzwerk Cochrane inzwischen auch auf Deutsch anbietet. Welche Stärken und Schwächen hat das Angebot?

Das Wichtigste in Kürze

  • Das deutschsprachige kostenfreie Online-Angebot bietet verschiedene Lernmodule, die sich an ein breites Publikum richten.
  • Vermittelt werden Grundlagen der evidenzbasierten Medizin, etwa zu Vor- und Nachteilen bestimmter Studientypen und zu systematischen Übersichtsarbeiten.
  • Du bekommst einen guten Überblick, Hintergrundwissen und den deutlichen Hinweis, Studienergebnisse mit Arzt oder Ärztin zu besprechen, bevor du daraus weitreichende Schlussfolgerungen ziehst. Dass Cochrane Reviews vermutlich nicht bei allen deinen Gesundheitsentscheidungen helfen, könnte noch etwas deutlicher thematisiert werden.

„Eine Studie zeigt, dass …“ Wenn ein Satz so anfängt, kannst du dir leider nicht sicher sein, dass dahinter eine allgemeingültige Wahrheit folgt, die dir Sicherheit für deine Gesundheitsentscheidung gibt. Denn nicht alle Studien sind tatsächlich aussagekräftig, wenn es um den Nutzen von bestimmten Behandlungen geht. Ersteller:innen von guten Gesundheitsinformationen schauen deshalb genau hin, wenn sie medizinische Studien so aufbereiten, dass sie auch für Menschen ohne medizinische Vorkenntnisse verständlich sind.

Aber nicht immer findest du zu deiner Frage verlässliche Gesundheitsinformationen und manchmal stößt du bei deiner Internetsuche auch direkt auf Studien, mit denen der vermeintliche Nutzen von einem Arzneimittel, einem Nahrungsergänzungsmittel oder einer anderen Therapie belegt werden soll. Wie kannst du dann herausfinden, ob das etwas taugt?

Bei Plan G haben wir deshalb in unserer Rubrik Gesichertes Wissen schon in mehreren Beiträgen beschrieben, was eigentlich verlässliche Studien ausmacht. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch der Online-Kurs „Cochrane Evidence Essentials“, den das internationale medizinische Forschungsnetzwerk Cochrane anbietet. Der Online-Kurs verspricht eine „Einführung in die Evidenz zu Gesundheitsthemen und wie man sie nutzen kann, um informierte Entscheidungen zu treffen“ – also zu Themen rund um die evidenzbasierte Medizin. Klingt verheißungsvoll – aber hält der Kurs dieses Versprechen auch? Um das herauszufinden, habe ich mir das Angebot einmal näher angesehen.

Was du zum Hintergrund des Kurses wissen musst

Cochrane ist dadurch bekannt geworden, dass Cochrane-Forschungsteams methodisch hochwertige systematische Übersichtsarbeiten erstellen, die so genannten Cochrane Reviews. Dazu werten sie möglichst alle relevanten Studien zu einer bestimmten Fragestellung gemeinsam aus und beurteilen ihre Aussagekraft. Dadurch lässt sich der Nutzen einer bestimmten Behandlung besser einschätzen als auf der Basis einer einzelnen Studie. Gesammelt werden die Cochrane Reviews in der Cochrane Library, einer großen Datenbank.

Der Kurs wurde ursprünglich auf Englisch entwickelt, später dann durch ein deutschsprachiges Cochrane-Team aus Deutschland und der Schweiz übersetzt. Die deutsche Fassung wurde Anfang 2021 veröffentlicht. Kosten fallen für den Kurs nicht an, du musst dich für den Zugang aber bei Cochrane registrieren.

Laut Eigenbeschreibung richtet sich der Kurs an eine breite Zielgruppe: Dazu gehören Menschen ohne medizinische Fachkenntnisse wie Patient:innen oder (pflegende) Angehörige, Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten oder die an verantwortlicher Stelle im Gesundheitssystem oder seinen Organisationen Entscheidungen treffen müssen.

Wie der Kurs aufgebaut ist

Der Online-Kurs besteht aus mehreren Lernmodulen, die in eine fiktive Geschichte eingebettet sind. In der Geschichte wird die Protagonistin Eleni mit einer Gesundheitsfrage ihrer Tante konfrontiert: Soll sie bei einem bevorstehenden Langstreckenflug Kompressionsstrümpfe tragen, die sie schrecklich unbequem findet? Eleni begibt sich auf die Suche nach Informationen und muss sich mit Meinungen in Internetforen und Expert:innen in Zeitungsartikeln herumschlagen. Dabei stößt sie auf das Prinzip der evidenzbasierten Medizin.

Was genau dahinter steckt, ist in den vier Lernmodulen aufbereitet, für die du jeweils 30 bis 45 Minuten Zeit mitbringen musst. Nach einer Einführung in die Grundlagen und Geschichte der evidenzbasierten Medizin geht es um verschiedene Arten von Studien sowie die Vorteile und Fallstricke von randomisierten Studien. Die beiden letzten Module beschäftigen sich mit systematischen Übersichtsarbeiten, wie man Cochrane Reviews in der Cochrane Library findet, versteht und die wichtigsten Informationen herauszieht. Schließlich endet die Geschichte damit, wie Eleni selbst anhand der Ergebnisse eines Cochrane Reviews gemeinsam mit ihrer Ärztin die Entscheidung trifft, bei ihrem anstehenden Flug Kompressionsstrümpfe zu tragen.

Jedes Modul ist in kleinere Abschnitte unterteilt, die die Inhalte in Form von Text, interaktiven Infografiken, Audiobeiträgen und Videos vermitteln. In Quizfragen lässt sich das Gelernte überprüfen. Am Ende jedes Moduls gibt es Hinweise auf weitere vertiefende Inhalte.

Was positiv auffällt und wo es noch Verbesserungsbedarf gibt

Auf den ersten Blick hat der Kurs auf mich einen guten Eindruck gemacht. Aber an der einen oder anderen Stelle gibt es doch Aspekte, die sich noch verbessern ließen. Die beziehen sich zum Teil auf die deutsche Aufbereitung, zum Teil aber auf die grundsätzliche Konzeption und damit auch auf das englischsprachige Original.

Deutschsprachiges Angebot

Multimediale und noch dazu deutschsprachige Einführungen in die evidenzbasierte Medizin sind bislang eher selten. Das Angebot stößt also genau in eine Lücke.

Die Übersetzung der Texte aus dem Englischen ins Deutsche wirkt zwar an der einen oder anderen Stelle noch etwas hölzern, aber es ist sehr zu begrüßen, dass das Übersetzungsteam zum Beispiel bei den weiterführenden Links auch auf deutschsprachige Inhalte hinweist und nicht nur die englischsprachigen Links der Ursprungsversion übernommen hat. Auch ein längeres englisches Audiostück ist mit einer deutschen Spur unterlegt, die Videos sind entweder auf Deutsch oder haben deutsche Untertitel.

An manchen Stellen geht die deutsche Fassung auch ein wenig über die englische Fassung hinaus, etwa wenn es um die Erklärung geht, an welche „health professionals“, also Gesundheitsprofis, sich die evidenzbasierte Medizin richtet. Die Aufzählung der Heilpraktiker in der deutschen Übersetzung ließ mich an dieser Stelle kurz auflachen – wäre ja schön, wenn die sich tatsächlich angesprochen fühlten.

Etwas anachronistisch wirkt im Jahr 2021 der Verzicht auf Gendern. Dass in der jetzigen Fassung nur von „Arzt“ und „Patient“ die Rede ist, sollte schleunigst geändert werden.

Patient:innen-Perspektive

Die Inhalte vermitteln nicht nur methodische Grundlagen, sondern verankern die Methodik konsequent im Kontext der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Das Recht von Patient:innen auf eigene informierte Entscheidungen zieht sich als Subtext durch alle Module. Das halte ich für angemessen und genau richtig.

Dass die Lernmodule in eine realistische Rahmengeschichte einer Patientin eingebettet sind, holt die Leser:innen ab. Die Verknüpfung ist im weiteren Verlauf aber eher lose und wirkt teilweise ein bisschen konstruiert. Es wäre schön, wenn man beim Googlen nach einem konkreten Gesundheitsproblem tatsächlich an prominenter Stelle auf die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin stoßen würde. Zumindest in Deutschland ist das eher nicht der Fall.

Didaktisch aufbereitet

Die Module lassen erkennen, dass die Ersteller:innen die Didaktik des Online-Kurses gut durchdacht haben: Am Anfang werden Lernziele definiert, bei Quizfragen gibt es gleich ein Feedback und die Module enden alle mit einer Einladung zur Reflexion des Gelernten sowie einer Zusammenfassung. An vielen Stellen gibt es interaktive Elemente, so dass die Nutzer:innen aktiv werden können. Die multimedialen Angebote sorgen für Abwechslung, allerdings musst du insgesamt doch relativ viel Text bewältigen.

Dabei lassen sich die einzelnen Elemente auch überspringen, wenn du es eigentlich gar nicht so genau wissen willst. Und du kannst an einer Stelle aufhören und später mit der nächsten Einheit weitermachen. Allerdings konnte ich nicht herausfinden, ob der Fortschritt tatsächlich gespeichert wird – vielleicht liegt das aber auch an meinen Browser-Einstellungen.

Das Überspringen werden vielleicht einige Nutzer:innen besonders im zweiten Modul zu den Details der randomisierten kontrollierten Studien nutzen, die teils sehr tief in die Einzelheiten einsteigen. Die sind zwar alle inhaltlich sehr relevant, dürften aber gerade Menschen ohne medizinischen Hintergrund, die sich zum ersten Mal mit den Themen beschäftigen, in der Fülle vermutlich überfordern. Sinnvoll wäre es vielleicht, die einzelnen Infohäppchen noch deutlicher als bisher in Grundlagen und Weiterführendes zu unterteilen, um den verschiedenen Zielgruppen noch besser gerecht zu werden.

Auch ohne medizinische Vorkenntnisse?

Gerade in den Einführungsmodulen werden die Grundlagen gut heruntergebrochen, so dass sie auch tatsächlich für die gesamte angedachte Zielgruppe gut verständlich sein dürften. Allerdings werden Menschen ohne medizinische Vorkenntnisse vermutlich spätestens an der Stelle scheitern, wo sie für das Suchen in der Cochrane Library den Tipp erhalten „Nutze für die Suchfunktion englischsprachige Begriffe“ – das wird ohne medizinischen Hintergrund und mit begrenzten Englischkenntnissen kaum möglich sein. Vielleicht ist die fachliche Hürde für Menschen mit englischer Muttersprache niedriger, aber deutschsprachige Nutzer:innen haben es meiner Einschätzung nach schwer, diesem Rat zu folgen.

Keine Anleitung zur kritischen Bewertung

Kritik an der Methodik der evidenzbasierten Medizin und ihre Grenzen sowie systematischen Reviews wird in den Modulen thematisiert und eingeordnet, ebenso auch von systematischen Reviews, zumindest in Ansätzen. Die Module thematisieren gerade bei den randomisierten kontrollierten Studien, was alles schief gehen kann. Bei den systematischen Reviews werden zwar die einzelnen Schritte dargestellt, aber die Verzerrungsmöglichkeiten werden eher nur angedeutet.

Außerdem darfst du dir keine Anleitung erwarten, wie du selbst die Zuverlässigkeit von randomisierten Studien oder systematischen Reviews beurteilen kannst. Aber das würde vermutlich den Rahmen des Online-Kurses sprengen. Gerade für die medizinischen Fachleute, an die sich der Kurs auch richtet, wäre es aber vielleicht interessant, Hinweise auf entsprechende Checklisten oder andere Hilfsmittel in den weiterführenden Links zu finden.

Entscheidungsfindung nur am Rande

Der Online-Kurs weist explizit darauf hin, dass Cochrane Reviews nur eine Unterstützung für gute Gesundheitsentscheidungen bieten, aber das Gespräch mit Arzt oder Ärztin nicht ersetzen können. Das ist gut und richtig. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass es mehr Einblicke gibt, wie zum Beispiel die fiktive Protagonistin Eleni mit ihrer Ärztin die Informationen aus dem Cochrane Review abgewogen hat.

So gibt es zum Beispiel keinen Hinweis darauf, dass möglicherweise auch die Größenordnung des Nutzens eine Rolle spielen könnte. Das wäre bei der Frage, um die es im Beispiel geht, aber durchaus relevant. Laut Cochrane Review erkrankten nämlich ohne Kompressionsstrümpfe nur 30 von 1000 Studienteilnehmenden mit hohem Risiko an einer symptomatischen Thrombose. Spannend wäre auch die Abwägung gewesen, wie Eleni damit umgeht, dass die Studienergebnisse für manche Fragen nur unsichere Antworten liefern, zum Beispiel dazu, wie gut Kompressionsstrümpfe Beinschwellungen durch Wassereinlagerungen (Ödeme) verhindern.

Lösung für alles?

Keine Frage: Wenn ich für eine bestimmte Gesundheitsfrage einen gut gemachten aktuellen Cochrane Review finde, bin ich sehr erleichtert, denn das spart viel Arbeit, einer möglicherweise unübersichtlichen Studienlage hinterher zu recherchieren. Allerdings erweckt der Online-Kurs in meiner Wahrnehmung an der einen oder anderen Stelle zumindest im Unterton den Eindruck, dass sich mit Cochrane Reviews und den deutschen Zusammenfassungen nahezu alle Gesundheitsfragen lösen ließen.

Ich bezweifle aber, dass das für Menschen ohne medizinische Vorkenntnisse wirklich so ist. Mir fehlen zum Beispiel deutlichere Hinweise darauf:

  • dass es bei Weitem nicht zu allen Fragestellungen, für die Gesundheitsinteressierte nach Antworten suchen, tatsächlich einen Cochrane Review gibt – und trotz aller Bemühungen sind die Reviews auch nicht immer aktuell.
  • dass ältere Cochrane Reviews nicht immer die methodischen Standards erfüllen, die an neuere Reviews angelegt werden und dass das die Verlässlichkeit beeinträchtigen kann.
  • dass es auch nicht für alle allgemeinverständlichen Zusammenfassungen (plain language summaries) deutsche Übersetzungen gibt, selbst die ohne medizinische Fachkenntnisse nicht immer einfach zu verstehen sind und oft auch nicht alle deine Fragen beantworten können.

Wem die frei verfügbaren allgemeinverständlichen Zusammenfassungen nicht reichen und wer genug Englisch versteht, um die Cochrane Reviews im Original und Volltext zu lesen, wird froh sein zu erfahren, dass der Zugriff in der Schweiz für alle kostenlos möglich ist. In Deutschland ist das leider nicht der Fall. Dass Patient:innen über örtliche Krankenhäuser oder Angehörige von Gesundheitsberufen in Deutschland Zugang zu den Cochrane Reviews bekommen können, wie im Online-Kurs vorgeschlagen wird, dürfte wohl eine seltene Ausnahme sein.

Fazit

Wenn du dich mehr mit der Frage beschäftigen willst, wie eigentlich gesichertes Wissen in der Medizin entsteht, wirst du im Online-Kurs mit abwechslungsreichen, teils multimedialen Elementen viele interessante Hintergründe erfahren. Dass der Kurs viele verschiedene Zielgruppen ansprechen will, gelingt manchmal besser, manchmal schlechter. Auf jeden Fall ermutigt er dazu, sich auch ohne medizinische Fachkenntnisse auf die Suche nach gesichertem Wissen für eigene Gesundheitsfragen zu machen – und dann aber mit Arzt oder Ärztin darüber zu sprechen. Es gibt zwar keine Garantie, dass du für deine konkrete Frage tatsächlich bei den Cochrane Reviews fündig wirst und dass dir die frei verfügbaren deutschsprachigen Zusammenfassungen (gesammelt unter Cochrane Kompakt) alle Details verraten, die du wissen willst. Ein Blick in die Datenbank lohnt sich aber auch, wenn du dir erst einmal einen Überblick verschaffen willst.

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