ME/CFS: Führender Neurologe bemängelt zahlreiche Fehldiagnosen bei Multisystemerkrankung

ME/CFS ist seit mehr als 50 Jahren offiziell als neurologische Erkrankung anerkannt und gilt als schwerste Form von Long-Covid – doch ausgerechnet in der Neurologie ist sie bis heute hoch umstritten. Im Interview erklärt Charité-Professor Harald Prüß, wo seine Fachgesellschaft steht und wann sich Betroffene Hoffnung auf Therapien machen dürfen.

vom Recherche-Kollektiv Postviral:
9 Minuten
Portraitfoto von Prof. Dr. Harald Prüß

Seit 1969 listet die Weltgesundheitsorganisation ME/CFS als neurologische Erkrankung. Dennoch ist die häufig postviral auftretende, chronische Multisystemerkrankung nicht bei allen Neurolog:innen anerkannt. Daran konnten auch die Corona-Pandemie und ihre Langzeitfolgen nichts ändern, obwohl ME/CFS als besonders schwere Ausprägung von Long-Covid gilt. Gerungen wird um den Charakter des Syndroms zwischen psychosomatischer und organischer Erkrankung, um die richtige Diagnose und Therapie – und um die Frage, wie viele Betroffene es eigentlich gibt.

Wie positioniert sich die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) zu diesen Fragen? RiffReporter sprach mit Harald Prüß, dem Sprecher der fachlich zuständigen DGN-Kommission Neuroimmunologie. Der Charité-Professor informiert auch über den Stand seiner Studie über ein mögliches Therapieverfahren für Long-Covid- und ME/CFS-Erkrankte, die Immunadsorption – und stellt eine neue ärztliche Leitlinie in Aussicht.

Herr Prüß, die Multisystemerkrankung ME/CFS ist in der Neurologie hochumstritten: Manchen gilt sie als unterdiagnostiziert, andere stellen sie grundsätzlich in Frage. Wer hat recht?

Nach meiner persönlichen Auffassung gibt es diese Erkrankung zweifellos. Wir kennen zum Beispiel klare Risikofaktoren – Frauen mit vorherigen psychischen Erkrankungen entwickeln beispielsweise häufiger ME/CFS. Vieles spricht dafür, dass wir es mit einer Krankheit mit eigenen Mechanismen zu tun haben, die wir bisher nur noch nicht richtig verstehen.

Nach überholter Ansicht gehen manche Ärzte auch davon aus, dass psychische Beschwerdekomplexe keine organische Erkrankung seien. Das sehe ich völlig anders.

Warum dann der Streit?

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