Aufrecht vor zwölf Millionen Jahren
Der sensationelle Fund eines auf zwei Beinen laufenden Affen in Bayern könnte die Sicht auf die Urgeschichte der Menschheit verändern
Der aufrechte Gang gehört zu den grundlegenden Eigenschaften des Menschen und seiner engsten Verwandten. Eine Tübinger Forscherin entdeckte nun einen Affen, der vor zwölf Millionen Jahren auf dem Gebiet des heutigen Süddeutschlands lebte und sich auf zwei Beinen fortbewegen konnte. Es ist ein erstaunlicher Fund. Doch ist dieser Primat damit unser aller Vorfahr und begann die Menschwerdung in Europa – oder gibt es andere Erklärungen?
Es kommt nicht oft vor, dass eine Meldung über die Urgeschichte des Menschen es in die tagesaktuellen Meldungen der Fernsehanstalten, Rundfunksender und anderer Leitmedien schafft. Doch am 6. November 2019 war es so weit: „Aufrechter Gang könnte sich in Europa entwickelt haben“ hieß es etwa auf Zeit Online und ganz ähnlich titelten andere Medien. Anlass für die Aufregung war die Bekanntgabe eines 11,6 Millionen Jahre alten Skelettfundes aus Süddeutschland. Die Knochen gehörten einst einem Menschenaffen, der dort auf Bäumen gelebt hatte und der – das ist die eigentliche Sensation – sich aufgerichtet auf zwei Beinen fortbewegen konnte.
Die Nachricht enthält gleich zwei erstaunliche Erkenntnisse: Zum einen ist die aufrechte Fortbewegungsweise offenbar mindestens fünf Millionen Jahre älter als bislang angenommen. Zum anderen könnte dieser Schritt nicht in Afrika erfolgt sein, wie von den meisten Paläoanthropologen geglaubt, sondern in Europa. War Danuvius guggenmosi – wie die Forscher die neue Primatenart nennen – also ein Zwischenglied in der Linie zum Menschen? War er damit womöglich unser aller Urahn und Europa die Wiege der Menschwerdung?
Ein Skelett namens „Udo“
Es war der 17. Mai 2016, als Madelaine Böhme, Professorin für terrestrische Paläoklimatologie an der Universität Tübingen, zusammen mit einem Doktoranden im VW-Bus ins Ostallgäu fuhr. Schon seit fünf Jahren suchten die Forscher dort in einer Tongrube in der Gemeinde Pforzen nach uralten Relikten von Säugetieren. An dieser Stelle hatte vor vielen Jahrmillionen wohl ein Flüsschen gelegen und eine Rinne gebildet, in der sich die Knochen umgekommener Tiere angesammelt hatten und schließlich von einer Tonschicht für die Ewigkeit konserviert worden waren. In der heutigen Zeit dient die Tongrube, von den Einheimischen „Hammerschmiede“ genannt, als Rohstoffquelle für eine Ziegelei, doch die Paläontologen durften dort jährlich ein paar Wochen lang nach Fossilien graben. Und genau an diesem Frühlingstag im Mai 2016 sah Madelaine Böhme ein dunkelbraunes Knochenrelikt mit zwei kräftigen Zähnen aus dem hellgrauen Ton ragen. Sie erkannte sofort: Es handelte sich um ein Stück aus dem linken Unterkiefer eines Menschenaffen.
Schnell suchten die Forscher weiter und entdeckten noch einen rechten Unterkiefer-Backenzahn. Da es zufällig der 70. Geburtstag des Rocksängers Udo Lindenberg war und dessen Musik den ganzen Tag aus dem Radio dudelte, war auch sofort der Spitzname für den soeben entdeckten Menschenaffen klar: „Udo“. Weitere, jeweils dreimonatige Grabungen folgten unter Mithilfe von mehr als fünfzig Freiwilligen in den Jahren 2017 und 2018. Dabei wurden gut 200 Kubikmeter Sediment umgegraben und rund 5000 Fundstücke geborgen – darunter weitere Skelettreste von „Udo“ sowie die Fossilien zahlreicher Tiere. Daraus ließ sich sogar das damalige Ökosystem rekonstruieren.
Danuvius vermochte aufgerichtet auf Ästen zu stehen
Wie so oft in der Wissenschaft dauerte es dann noch einige Zeit, bis der Fund akribisch analysiert, eingeordnet und bewertet war. Anfang November 2019 erschienen die Ergebnisse in der renommierten Zeitschrift Nature. Demnach sind von „Udo“ 15 Prozent des Skeletts erhalten, darunter Teile der Hand und des Fußes, der Wirbelsäule, Arme und Beine und selbst eine Kniescheibe. Zudem war der Affenmann offenbar nicht alleine unterwegs. Denn die Forscher hatten auch Knochenrelikte von drei weiteren Exemplaren derselben Art entdeckt: eines größeren und eines kleineren Weibchens sowie eines Jungtiers.
Entscheidend aber ist: Die Form der Brustwirbel und der Beinknochen sowie die Untersuchung von Hüft- und Kniegelenk zeigen, dass dieser Affe sich mit durchgestreckten Knien und gerader Hüfte aufzurichten vermochte. Er konnte also – ganz ähnlich wie ein Mensch – zweibeinig stehen. Die Arme von Danuvius dagegen waren weniger menschlich, sondern – ähnlich wie bei einem Schimpansen oder Bonobo – deutlich länger als die Beine. Die Hände verfügten zudem über einen kräftigen, abspreizbaren Daumen und gekrümmte Finger. Der Affe konnte damit bestens hangeln und Äste umgreifen. Auch die Füße besaßen – im Gegensatz zum Menschen – einen abspreizbaren, kräftigen großen Zeh.
Dank der einzigartigen Kombination bewegte sich „Udo“ auf spezielle Weise in den Bäumen seines feucht-warmen Lebensraums fort, vermuten die Forscher: Beim Klettern übernahmen die Beine die Hauptarbeit, während er sich mit Armen und Händen vor allem festhielt. Manchmal bewegte er sich wohl auch an den Armen schwingend durchs Geäst. Ansonsten aber, und das ist das Besondere, stand er häufig aufgerichtet auf den Ästen oder lief zweibeinig auf ihnen entlang.
Ein möglicher Vorfahre von Schimpanse und Mensch
„Diese Merkmale machen Danuvius zu einem Kandidaten für einen der letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Menschenaffen“, schreibt Böhme in ihrem Buch „Wie wir Menschen wurden“. Er sei ein Bindeglied zwischen der vierbeinigen Fortbewegung der Menschenaffen und der zweibeinigen des Menschen. Und Böhmes Kollege David Begun – ebenfalls an der Nature-Publikation über Danuvius beteiligt – nimmt an, dass diese Entwicklung sich tatsächlich in Europa und nicht in Afrika abgespielt hat. Europa sei in der Zeit vor 14 bis 7 Millionen Jahren wie ein gigantisches Labor gewesen, in dem sich die Menschenaffen weiterentwickelt hätten. Und erst anschließend seien sie wieder nach Afrika vorgedrungen, als dort das Klima wieder günstiger wurde.
Wenn das stimmt, muss die frühe Geschichte des Menschen völlig neu geschrieben werden. Aber war es tatsächlich so? War der Europäer Danuvius unser allererster Ahn und der Erfinder jener Fortbewegung, die uns Menschen auszeichnet?
Nicht alle Experten können Böhmes Schlussfolgerungen in ganzer Konsequenz nachvollziehen. „Es ist zweifellos ein sensationeller Fund, der Skelettmerkmale vereint, die man so noch nicht gesehen hat“, sagt etwa der Paläoanthropologe Ottmar Kullmer vom Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt, „doch man kann sie unterschiedlich interpretieren.“ Zwar deute vieles darauf hin, dass Danuvius sich im Baum aufrichten konnte, konstatiert Kullmer. Aber angesichts des extrem abspreizbaren großen Zehs und der gekrümmten Zehenknochen, fällt es dem Forscher schwer sich vorzustellen, dass Danuvius ähnlich wie ein Mensch auf dem Boden laufen konnte. Madelaine Böhme räumt in ihrem Buch selbst ein, dass man derzeit nicht wisse, ob Udo und seine Artgenossen den Boden betreten haben oder nicht.
Wanderten Udos Nachfahren nach Afrika aus?
Kullmer sieht auch wenige Belege dafür, dass aufrecht gehende Menschaffen aus Europa nach Afrika gelangten. Das sei zwar nicht undenkbar, „aber die Beweislage ist einfach zu dürftig, um so weit zu spekulieren“. Schließlich gebe es eine Fundlücke von mindestens vier Millionen Jahren, bevor in Afrika die ersten aufrecht gehenden Menschheitsvorfahren auftauchten.
Auch Carsten Niemitz, emeritierter Professor für Humanbiologie an der FU Berlin und Autor eines Buches über den aufrechten Gang, hält Madelaine Böhmes Interpretation für zu weitgehend. Er bezweifelt, dass von „Udo“ ein direkter Weg zum Menschen führt. Zwar gebe es Hinweise auf eine aufrechte Haltung, aber Danuvius zeige ein Mosaik aus Merkmalen, das nicht auf einen habituellen – gewohnheitsmäßigen – aufrechten Gang schließen lasse, sondern eher auf eine zeitweilige zweibeinige Fortbewegung.
Der Affe aus dem Allgäu als Experiment der Evolution
„Ich denke, dass es mehrere Versuche in Richtung aufrechter Gang gab“, sagt Niemitz. „Aber viele, die ihn im Verlauf der Evolution ausprobiert haben, sind wieder ausgestorben. Eigentlich lohnt sich die zweibeinige Fortbewegung für einen Vierfüßer nicht; sie ist langsamer und deshalb gefährlich“. Das bedeutet letztlich: Eine aufrechte Haltung ist nur in speziellen Ökosystemen und unter bestimmten Voraussetzungen von Vorteil. Ändert sich die Umwelt, kann das schnell zum Nachteil werden und der Art zum Verhängnis.
Ein weiterer Einwand dagegen, dass „Udo“ unser direkter Ahn ist: Die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse trennten sich erst vor sechs bis sieben Millionen Jahren, also viel später, als Danuvius lebte. Wäre Danuvius – ein aufrecht gehender Affe – ihr gemeinsamer Ahn, hätte sich jene Linie, aus der die Schimpansen dann hervorgingen, nach vier Millionen Jahren aufrechter Körperhaltung wieder zurückentwickeln müssen zur vierfüßigen Lebensweise. Das halten Kullmer und Niemitz für wenig wahrscheinlich.
Trotz solcher Einwände werfen die Forschungen von Madelaine Böhme aber zweifellos neues Licht auf ein frühes Kapitel der Paläoanthropologie. Es ist eine aufregende Erkenntnis, dass bereits vor zwölf Millionen Jahren aufrecht gehende Menschenaffen lebten. Und dass ein solcher Schritt in Europa geschah, ist es ebenfalls. Wie so oft in den letzten Jahren, stellt sich heraus: Die menschliche Evolution war komplizierter als gedacht. Vielleicht müssen wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass die zweibeinige Fortbewegung den Anfang der Menschwerdung darstellt. Sie ist stattdessen womöglich nur ein Merkmal, dass sich bei Menschenaffen in unterschiedlichen Ökosystemen mehrfach unabhängig voneinander entwickelte – und auch wieder verschwand.
Sollte aber Danuvius tatsächlich der erste unserer Vorfahren gewesen sein, dann hätte die Geschichte des Menschen bereits vor zwölf Millionen Jahren begonnen. Das wäre wahrlich eine Sensation. Doch noch ist es viel zu früh, diese Frage eindeutig zu beantworten. Die Paläoanthropologen benötigen weitere Funde – am besten das komplett erhaltene Exemplar eines „Udo“ oder seiner Gefährtin. Wir bleiben für Sie dran..