Der Rätselhafte aus der Höhle
Homo luzonensis – schon wieder eine neue Menschenart entdeckt
Die menschliche Familie hat erneut Zuwachs bekommen: Vor 67.000 Jahren lebte auf der philippinischen Insel Luzon ein seltsames Mischwesen, das Merkmale moderner wie älterer Menschenarten und sogar der Vormenschen-Gattung Australopithecus in sich vereint. Wer war Homo luzonensis und wie lässt er sich in die menschliche Ahnenreihe einordnen?
Im Jahr 2007 entdecken Forscher in der Callao-Höhle im Norden der philippinischen Insel Luzon einen menschlich wirkenden Fußknochen, der sich als uralt herausstellt. Auf 67.000 Jahre datieren ihn die Wissenschaftler im Labor – es handelt sich um den bis dato ältesten direkten Nachweis einer Besiedlung durch Menschen in dieser Region. Doch welche Art von Homo mag dort gelebt haben? Das lässt sich an dem einzelnen Knochen nicht bestimmen und so setzen die Paläoanthropologen ihre Ausgrabungen fort.
Sie fördern in den Jahren darauf zwölf weitere menschliche Relikte zutage: sieben Zähne, zwei Fuß- und zwei Fingerknöchelchen sowie einen Oberschenkelknochen. Mindestens drei unterschiedlichen Individuen müssen die Überreste gehört haben. Was die Forscher aber weit mehr beeindruckt: Die Knochen zeigen eine seltsame Kombination von Eigenheiten, die bislang von unterschiedlichen Menschenarten bekannt sind.
So einmalig sind die Merkmale, dass die Mitglieder des französisch-philippinisch-australischen Teams den Fund in einer Veröffentlichung des Wissenschaftsblattes „Nature“ vom 11. April 2019 zu einer neuen Art erklären: Homo luzonensis. Details an den Backenzähnen und den Vorbackenzähnen ähneln teils denen des Homo sapiens, teils denen anderer Menschenarten wie Neandertaler, Homo erectus oder dem auf der Insel Flores entdeckten Zwerg Homo floresiensis, auch als „Hobbit“ bekannt. Manches erinnert sogar an weit urtümlichere Vertreter der menschlichen Verwandtschaft. Noch frappierender wirken die gekrümmten Hand- und Fußknochen, die an ein Leben teilweise auf Bäumen denken lassen. Es sind Merkmale, die von den Australopithecinen bekannt sind – Vormenschen, die vor Jahrmillionen in Afrika lebten und deutlich kleiner waren als spätere Menschenformen.
Ein Zwerg, der vermutlich gut klettern konnte
Auch bei Homo luzonensis handelt es sich vermutlich um eine Art Zwerg. Doch über die Größe des Neuen machen die Paläoanthropologen nur vorsichtige Angaben, weil die wenigen Knochenrelikte nicht sehr aussagekräftig sind. Wahrscheinlich, so schätzen die Forscher, war Homo luzonensis ähnlich groß wie manche indigene Gruppen, die noch immer auf Luzon leben und bei denen die Frauen rund 1,4 Meter, die Männer rund 1,5 Meter erreichen.
Völlig unklar bleibt, wie die Urmenschen überhaupt auf die Insel gekommen sind. Die Insel ist zwar groß, auf ihr liegt auch die heutige philippinische Hauptstadt Manila. Aber selbst in den Kaltzeiten, in denen der Meeresspiegel mehr als 100 Meter tiefer lag als heute, gab es keine Verbindung zwischen Luzon und dem Festland. Die Urmenschen müssen daher einst wagemutige Seefahrer gewesen oder auf irgendeine andere Weise über das Meer gekommen sein.
Schon vor 700.000 Jahren war die Insel besiedelt
Noch rätselhafter wird der Fund durch die Entdeckung im Jahr 2013, dass schon seit mindestens 700.000 Jahren Wesen aus der menschlichen Verwandtschaft auf der Insel gelebt haben müssen. Das zeigen Funde, die Wissenschaftler in der Provinz Kalinga machten: Einfache Steinwerkzeuge und die Knochen von Nashörnern, die offenbar mit den Werkzeugen zerlegt worden sind. Ob es frühe Artgenossen von Homo luzonensis waren, die sich damals eine Mahlzeit bereiteten, lässt sich zurzeit allerdings nicht sagen, denn menschliche Knochen aus dieser Epoche wurden bislang nicht ausgegraben.
Letztlich wirft die Entdeckung des Neuen von der Insel mehr Fragen auf als sie Antworten gibt. Doch damit passt Homo luzonensis in eine Reihe von Entdeckungen aus den letzten Jahren, die ein immer komplexeres Bild der menschlichen Evolution zeichnen. 2003 wurde der Zwerg Homo floresiensis entdeckt, der noch vor rund 50.000 Jahren lebte, 2010 kam der Denisova-Mensch hinzu und vor zwei Jahren stellte sich heraus, dass der erst 2015 in Südafrika gefundene, primitiv wirkende Homo naledi vor rund 300.000 Jahren existierte. Immer mehr, zum Teil seltsam fremd wirkende Menschenarten waren Zeitgenossen des modernen Menschen. Sie alle bevölkerten offenbar gleichzeitig die Erde: Homo sapiens, Neandertaler, Homo erectus, Denisova-Mensch, Homo floresiensis, Homo naledi und Homo luzonensis.
Es war eine illustre Schar und bunte Vielfalt von Menschenformen. Man könnte sogar auf die Idee kommen, es seien zum Teil Varianten, lokale Anpassungen und nicht in jedem Fall getrennte Arten. Zwischen Homo sapiens, Neandertalern und Denisova-Menschen haben Paläo-Genetiker inzwischen einen Austausch von Genen nachgewiesen.
Der Inselmensch von Luzon könnte in der langen Zeit der Isolation eine eigene Evolution durchlaufen und sich an die dortige Umwelt angepasst haben. Aber hat er sich dabei wirklich zu etwas ganz Neuem entwickelt? Nicht alle Fachleute sind jedenfalls davon überzeugt, dass es sich wirklich um eine eigene Art handelt. Vieles bleibt offen. Zurzeit ist das Bild der Menschheitsevolution mit einer Nebelwand vergleichbar, aus der verschiedene Gestalten langsam auftauchen, manche deutlicher werden, andere nur Silhouette sind. Im Fall von Homo luzonensis ist das Bild noch recht verschwommen – erst weitere Forschungsergebnisse können Klarheit bringen, welche Rolle der Inselmensch wirklich im menschlichen Drama gespielt hat.