Zum 75. Todestag des Autors von „Draußen vor der Tür“: Wer zensierte Wolfgang Borchert?
Bereits kurz nach dem Fall des Nazi-Regimes thematisierte der Kriegstraumatisierte brisante Fragen von Schuld und Leid. Aber ein Alliierter, verbal geohrfeigt von einem Deutschen? Das war wohl zu heikel.
An deutsches Leid erinnern, ohne Deutschlands Schuld am Terror des Weltkriegs auszublenden: Diesem Ziel dient das junge Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Aber bereits 75 Jahre zuvor wagt Wolfgang Borchert mit Billbrook den erzählerischen Vorstoß in das Spannungsfeld zwischen Aussöhnung und Unversöhnlichkeit.
Borchert ist beides, literarisches Genie und Weltkriegsveteran. Mutig als Goebbels-Spötter – was ihn vors Kriegsgericht bringt – und mutig als Autor: Anhand des fiktiven Alliierten Bill Brook wirft Borchert auf subtile Weise die Frage auf, inwieweit Deutschlands Verbrechen an der Welt großflächige Bombardements vonseiten der Alliierten gerechtfertigt haben.
Bill Brook ist der Name eines jungen kanadischen Feldwebels, der nach Borcherts Duktus wohl 1946 oder 1947 frisch in Hamburg ankommt. Auf seinem Fußmarsch durch die noch immer in Ruinen liegenden Vorstädte packt ihn kaltes Grauen. Der Alliierte blickt in Abgründe der Menschlichkeit.
Billbrook.
Die Erzählung im Abriss plus: Spurensuche im Hamburger Straßengewirr und im Borchert-Archiv.
Operation Gomorrha. Nie ist Hamburgs Sommer auf höllische Weise heißer als im Jahr 1943. Am 24. Juli beginnen grausame Serien alliierter Luftangriffe. Sie legen große Teile der Metropole, die gut 1,5 Millionen Einwohnern beherbergt, in Schutt und Asche. Über 40.000 Tote. Die Hälfte aller Wohnungen zerstört. Eine Art Upscaling jener Barbarei, die Hitlers Feldmarschall von Richthofen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs am Beispiel Warschau vorexerziert hatte.
Etliche Monate nach Kriegsende ist Hamburgs Zentrum wieder zum Leben erwacht. Im Hauptbahnhof entsteigt, von Borchert ausgedacht, der Feldwebel einem Zug. Er betritt zum ersten Mal Hamburgs Boden.
Lampenlicht des nächtlichen Bahnhofs. … Sein Name.
Billbrook. Ein Schild mit diesem Schriftzug gewahrt der 26-jährige Bill Brook. Er weiß nicht, dass es auf einen Stadtteil verweist – Station einer bereits kurz nach Kriegsende rekonstruierten Bahnstrecke.
Heute gibt es keinen Haltepunkt mehr dieses Namens; Züge halten in Billwerder oder Billstedt. Personenzüge umfahren Billbrook, das rastergleich zerschnitten ist von den Wässern aus Bille und Elbe. Und das Radfahrer wie Fußgänger als industrielle Ödnis empfängt, auf der Lkw-Kolonnen lärmen.
Verrückt … Irrsinnig! Blödsinnig! … Sein Name stand da.
Bill Brook begibt sich vom Hauptbahnhof in die Unterkunft, ein den Alliierten zugeteiltes Hotel. Er teilt sich das Zimmer mit Kameraden, die Hamburg längst kennen.
Brook berichtet den Zimmerkameraden von seinem skurrilen Bahnhoferlebnis. Die Kameraden schütten sich aus vor Lachen, dann offenbaren sie dem Neuankömmling die Lösung seines Rätsels – warum wohl „sein Name“ im Hauptbahnhof zu lesen sei: Billbrook, erklären sie ihm, ist doch nur ein Stadtteil!
Am nächsten Nachmittag schnappt sich Brook den Stadtplan seiner Kameraden und zieht los, gen Billbrook.
Die grauen Hamburger Wolken hingen am Himmel. Bill Brook marschierte mit guter großartiger Laune nach Südosten.
Der Kanadier lässt das Alsterufer hinter sich, wo heute Fantasieburgen mit schnöder Postmoderne alternieren, wo auch das US-Konsulat seinen Sitz hat.
Nach einer Wegstunde wird Bill Brook beklemmend klar, dass er bis Billbrook wohl noch zwei Stunden zu Fuß hätte.
Sein Stolz trudelte ab wie ein abgeschossenes Flugzeug … Seine großartige Stimmung fing an abzubröckeln wie ein eingetrockneter Kuchen.
Noch geht Bill durch Straßen, in denen Menschen wohnen. Er hört Mädchen singen, Kanarienvögel trillern, Milchflaschen und Radfahrer klingeln.
In einem Haus zerhackte jemand Mozart auf dem Klavier. … Dann wurde das Leben weniger, seltener, leiser … kein Kind und kein Hund und kein Auto. Kein Haus. Kein Haus!
Auf der imaginären Route des Kanadiers findet sich heute nach vier Kilometern, auf der Adenauerallee, ein erster Hinweis aufs Mündungsgebiet der Bille. „Billstedt 7,2 Kilometer“, verheißt ein Schild. Wenig später wird ein erster Kanal gequert, danach die Stadt zusehends rauer, schluchtartiger, ungemütlicher.
Hammerbrookstraße. Es beginnt das Revier von Nutzfahrzeugen, KFZ-Gutachten, Import & Export. Leblose Häuser nur hie und da, lieblos hingeklotzt auf hilflosem Nachkriegsareal.
Nichts Lebendiges. Milliarden Steinbrocken, Milliarden Steinstücke, Milliarden Steinkrümel … und einige hundert Leichenfinger. Totes nur.
Statt gut gelaunt weiter zu spazieren, setzt ein bedrückter Bill Brook den Weg mit Riesenschritten fort.
Die verwehten ohne Widerhall in der flachen toten Stadt ohne Trost: Friedhof ohne Friede mit graugrünem Gras und einigen hundert erstaunt stehengebliebenen Schornsteinen … Leichenfingern.
Bevor Bill Brook erschöpft und geknickt kehrt macht – ohne das eigentliche Billbrook betreten zu haben – stößt er auf Einheimische.
Der eine alt und grau und abgenutzt und schlau und vergnügt. Der andere ganz jung, gerade angefangen, verdorben, zerpflückt, zerstört und ganz jung. Und er hatte nur ein Bein.
Der uniformierte Bill Brook zögert sich zu nähern, „fühlt die Verstoßung“. Aber der alte Mann winkt ihn heran.
„Alles kaputt?“, fragt Bill jenen Mann. „Alles", sagt Jener ganz leise. „Drei Stunden links, drei Stunden rechts. Dahin und rückwärts auch: Alles.
In zwei Nächten alles kaputt. Alles.
Bill Brook lacht ungläubig, laut und erschrocken.
Er wusste nicht, was er anderes tun sollte, als lachen. … Er lachte, weil es ungeheuerlich war, weil es ihn fror, weil es ihn erstarren ließ, weil es ihn graute.
Der alte Mann fühlt, dass es ein Lachen aus Grauen war.
Sechzig Gehminuten seien es noch, bedeutet er Bill Brook. Der knickt ein in seinem Vorhaben, sagt sich, dass er jetzt nicht mehr bis Billbrook kann, „sonst wird es Mitternacht“.
Er freute sich beinahe, dass er umkehren musste.
Es begegnet ihm ein Laternenpfahl, eine Anschlagsäule und eine „traurige durchlöcherte durchsiebte Telefonzelle.“
Zurück in der Stadtmitte, im Hotel nahe der Alster will er zunächst seine Erlebnisse aufschreiben. Aber es gelingt ihm nicht, eine Zeile darüber zu Papier zu bringen. Er geht zum Fenster.
„Schön. Schön!“ flüsterte der Kanadier und drückte seine heiße Stirn gegen das kalte Glas. „Schön, dass hier alles so lebendig ist.
Wer zensierte Wolfgang Borchert?
Als Textgrundlage dieser blitzlichtartigen Vorstellung von Billbrook dient das Gesamtwerk des Erscheinungsjahres 1985 – Bestand im Reporter-Archiv seit der Schulzeit. Aber wie sich herausstellt, hat es Borchert im Original anders aufgeschrieben; es gibt mindestens einen entscheidenden Unterschied: In der Szene mit dem alten Mann und dem Einbeinigen kann letzterer seinen Groll gegen den Alliierten Bill Brook nicht an sich halten:
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Diese Passage fehlte jahrzehntelang in Buch-Ausgaben – wahrscheinlich ganze 60 Jahre, wie die Nachfrage beim Rowohlt Verlag ergibt. Und es dürfte nicht die einzige gestrichene Passage sein, wie weitere Manuskriptseiten belegen (nur wenige sind erhalten).
„Schöne Entdeckung“, kommentiert Konstantin Ulmer, der bei der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg fürs Borchert-Jubiläum zuständig ist. Ulmer kuratiert die sowohl live als auch online zugängliche Borchert-Box (Nummer 4 auf der interaktiven „Borchert-Karte“: Billbrook).
Zensur in Westdeutschland
„Wahrscheinlich bearbeitete der Verlag das Manuskript“, meint Ulmer. „Denn anders als oft vermutet, gab es Zensur beziehungsweise Selbstzensur nach dem Krieg nicht nur in Ost-, sondern auch in Westdeutschland.“
Ulmers Erklärung: Nicht nur Zeitungs-, sondern auch Buchverlage mussten mit Billigung der Alliierten eine Lizenz erwerben. „Und eine solche Lizenz konnte natürlich auch wieder entzogen werden.“
Angst, die Alliierten zu brüskieren und die Lizenz zu verlieren?
Dass Borchert selbst diese und andere Passage strich, hält nicht nur Ulmer für unwahrscheinlich. Fürchtete doch der im Krieg wegen Wehrkraftzersetzung inhaftierte Borchert nicht einmal unter dem NS-Regime eine Briefzensur oder ernste Konsequenzen: „In etlichen Briefen pointierte er seine Ablehnung [der Nazi-Diktatur – Anm. RadelnderReporter] sarkastisch oder legte ihnen Karikaturen bei, mit denen er Kritik am Herrschaftssystem der Nazis übte“, schreibt Katrein Brandes. Die Ende 2017 (als 78-Jährige) mit ihrer Arbeit über Kriegseinsätze und die Umsetzung in Literatur promovierte Braunschweigerin zitiert in diesem Zusammenhang das Gemeinschaftswerk von Michael Töteberg und Irmgard Schindler zu Borcherts Briefwechsel, erschienen 1997.
Töteberg ist bei Rowohlt seit Jahren für die Borchert-Ausgaben zuständig. Auf Anfrage schreibt er, dass das Borchert-Gesamtwerk seit 2007 die authentische Fassung beinhaltet. „Es ist verwirrend, weil Titel und Umschlag gleich geblieben sind“, kommentiert Töteberg den Umstand, dass auch die Ausgaben vor 2007 nahezu identisch aussehen wie die textlich aktualisierten Ausgaben danach.
„Das Gesamtwerk wurde anfangs von Meyer-Marwitz herausgegeben und immer wieder nachgedruckt“, ergänzt Töteberg von Rowohlt, dessen fünf Monate alte „Sonderausgabe 100 Jahre Borchert" bereits vergriffen ist.
Eine erste (laut Töteberg unvollständige) Gesamtausgabe erschien 1949 unter Meyer-Marwitz als Gemeinschaftsausgabe von Rowohlt und dem Verlag Hamburgische Bücherei. Letzterer verlegte zwei Jahre zuvor, im April 1947, einen Borchert-Band namens Hundeblume. Als vorletzte Erzählung erschien darin Billbrook.
„Schwein!“ Diese verbale Ohrfeige, adressiert an Bill Brook, fehlt in der Erstausgabe der Erzählung, wie das Borchert-Archiv auf Anfrage des Reporters nachforschen ließ. Für die Öffentlichkeit blieb diese Passage wahrscheinlich 60 Jahre verborgen.