Unsere Kuhmilch und das Tierwohl
Wie unterschiedlich drei norddeutsche Landwirte mit Milch, Kuh und Kalb umgehen. Und warum eine „tiergerechtere“ Schlachtung bald möglich ist.
Am 1. Juni ist Weltmilchtag. Ins Leben gerufen hat ihn vor zwanzig Jahren die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Die FAO betont damit, für wie wichtig sie Milch und deren Produkte für die Ernährung auf der Welt erachtet. Ausgeblendet ist dabei, dass die Milch ja von einem Lebewesen stammt, von einer Mutter. Gehört deren Milch nicht den Kälbern? Selbst wenn sie sie bekommen: Oft geschieht dies nur aus dem Eimer, weil der Bauer Kalb und Kuh binnen Tagesfrist trennt. Auch in der Bio-Landwirtschaft. Aber immer mehr Bauern vollziehen die Trennung später. Sie setzen auf „kuhgebundene Kälberaufzucht“. Um zu erfahren, wie das in der Praxis aussieht, hat der Autor bei drei Biohöfen in Norddeutschland recherchiert.
Ein Frühjahrsmorgen im Stall von Fredeburg. Diese landwirtschaftliche Domäne liegt auf etwa halber Strecke zwischen Elbe und Lübecker Bucht. Biobauer Florian Gleißner zeigt nach hinten im Stall, auf die große leere Liegefläche für die Mutterkühe. „Die kommen gegen 17 Uhr zurück, dann dürfen Jene da zu ihnen auf die Fläche.“ Jene da, das ist eine Schar Kälber rechts von Gleißner, die quirlig um seine Aufmerksamkeit zu buhlen scheinen. Sie drücken und schubsen sich an die Holzlatten, die jenen Stallbereich umgrenzt, den man Kindergarten nennen könnte. Morgens und abends dürfen die Kälber zu den Mutter- und Ammenkühen, auf die große Liegefläche. Die Kühe kommen dahin mit etwa halb vollem Euter, weil ihnen Gleißner oder Kolleg·inn·en des Biohofs nur einen Teil der Milch abgemolken haben. Der Rest im Euter ist für die Kälber.
Längere Kuh-Kalb-Bindung
Kuh- oder muttergebundene Kälberaufzucht nennt sich diese Methode. Sie breitet sich seit rund zwanzig Jahren vom Süden Deutschlands her weiter aus. Laut Recherchen des Zeit Magazin sind Bayern und Baden-Württemberg inzwischen gespickt mit Biohöfen, die diese besondere Form der Kälberaufzucht betreiben. Eher schwach vertreten ist eine längere Kuh-Kalb-Bindung in der Mitte und im Norden der Republik. Ausgerechnet Rinderland Niedersachsen verzeichnet nur einen Hof; Mecklenburg-Vorpommern gar keinen.
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Gleißner findet es auch im Sinne des Tierwohls besser, wenn die Kälber nicht – und das ist sowohl in herkömmlichen als eben auch in Bio-Betrieben die Regel – Stunden oder wenige Tage nach der Geburt von den Müttern getrennt werden. Das sehen allerdings nicht alle Milchbauern so. Zum Beispiel Helmut Evers aus Wahrenholz.
Oder lieber doch nicht „muttergebunden“ aufziehen?
Jenes Dorf nördlich von Gifhorn blieb für eine Vor-Ort-Recherche seinerzeit tabu; zu hoch waren im niedersächsischen Grenzgebiet zu Sachsen-Anhalt die Covid-Inzidenzen. Aber Milchbauer Helmut Evers ist im WorldWideWeb präsent – als erfahrener „KuhTuber“. MyKuhTube heißt eine Image-Plattform, initiiert von den Landesvereinigungen der Milchwirtschaft in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, auf der gut zwanzig Milchbauern ihren Beruf und ihren Alltag erklären. Im Video mit der Nummer 699 widmet sich Evers Anfang Mai 2021 ganz dem Trennungsschmerz nach Kuh-Kalb-Trennung (so der Titel seines zehnminütigen Clips).
Evers bewertet es als wichtig, exakt messen zu können, wieviel Milch – und von der Mutterkuh gespendete Abwehrstoffe – seine Kälber zu sich nehmen. Und das sieht er nur, wenn sie aus dem Eimer trinken. Es gibt ein zweites Argument für die frühe Separation: Nach Evers‘ Erfahrung fällt der Trennungsschmerz der Kälber umso stärker aus, je später er trennt. Im Clip verweist er hinter sich auf Angusbullen, die ein halbes Jahr bei ihren Müttern waren und sich jetzt „unentwegt lautstark zu Wort melden“.
„Ich persönlich meine, es ist besser, sowohl für die Kälber als auch für die Mütter, die Tiere gleich voneinander zu trennen, bevor der große Gewöhnungseffekt stattfindet“, sagt Evers. Im Clip untermauert er anhand eines fünf Stunden alten Kalbs das Dilemma mit der getrunkenen Milchmenge. Deswegen bekommen frisch getrennte Kälber bei Evers eine Woche lang Milch aus dem Eimer. Immerhin solche, die allein von der Mutter stammt.
Biokälber bekommen drei Monate Mutter- oder Ammenmilch
Eine Woche Muttermilch: Diese Zeitspanne praktizieren auch Biohöfe, die nach Bioland-Richtlinien arbeiten. Gemäß Richtlinien dauert die sogenannte Tränkephase mindestens drei Monate. „Nach einer Woche besteht die Vollmilch für die Kälber nicht mehr ausschließlich aus der Milch der Mutter“, erklärt Martin Ulferts, der dritte Landwirt, der in dieser Recherche eine Rolle spielt. „Die Milch ist dann ein Mix von verschiedenen Kühen, aus dem die Kälber pro Tag sechs bis acht Liter bekommen.“
Ulferts ist Ostfriese und ließ sich an der Aller zum Landwirt ausbilden – nicht nahe Gifhorn, wo „KuhTuber“ Evers seinen Hof hat, sondern an der Unteraller. Bevor der Fluss nordwestlich von Hannover zu mäandern beginnt, schmiegt sich der Weiler Eilte an seinen Deich. Dort fand Ulferts eine dauerhafte Anstellung.
In den feuchtkühlen Wiesen zwischen Weiler und erster Flussschleife wartet Mitte Mai um 7.30 Uhr eine Rinderschar ungeduldig auf ihn. Der Vater von Zwillingen im Kleinkindalter kommt heute einen Tick später mit dem Melkwagen herangetuckert. Der Anhänger „Marke Eigenbau“, geschleppt von einem kleinen Traktor, ist ebenso ungewöhnlich wie die Rasse der zu melkenden Rinder: Siebzehn Wasserbüffel-Kühe plus ein Bulle liegen oder stehen auf der Weide an der Aller.
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Während Ulferts die Euter der ersten beiden Kühe im Melkstand mit Wasser reinigt, erklärt er: „Wir produzieren nach Bioland-Richtlinien und auch nach diesen bleibt das Kalb maximal zwei Tage bei der Mutter. Danach kommt es für sechs Tage in ein Séparée, das wir Kälberiglu nennen. In dieser Igluzeit lernt es das Trinken aus dem Nuckel-Eimer.“ Es bekommt zwar noch immer Muttermilch – aber eben aus dem Eimer und ohne direkten Kontakt zur Mutterkuh.
Von sahnigen und samtigen Geschmacksnoten
Von Milchverkostung war in diesem Beitrag bislang nur in Sachen Kälber die Rede. Aber Milchbauern produzieren ja letztlich für uns Menschen. Wie nun schmeckt eine solche Rohmilch?
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Nicht nur dass jede Rohmilch ihren eigenen Geschmacks-Charakter hat: Landwirte gehen aus persönlichen oder kommerziellen Motiven immer häufiger dazu über, ihrem ganzen Betrieb und Tun eine persönliche Note, ein besonderes Image zu geben. In Fredeburg überließ man es einer gemeinnützigen Unternehmergemeinschaft, die muttergebundene Kälberaufzucht filmisch zu dokumentieren. Büffel-Fan Tino Bullmann zog gar die Aufmerksamkeit des NDR auf sich, der über die Büffelzucht eine Folge der Serie „Nordtour“ drehte.
Wer Milch trinkt, verantwortet auch Schlachtungen
Die flüchtigen Einblicke in Milchwirtschaft zu Zeiten, in denen Tierwohl stärker im Vordergrund steht, könnten an dieser Stelle zu Ende sein. Wäre da nicht die Sache mit dem Fleisch. Oder wie Florian Gleißner es in Fredeburg formuliert: „An der Milch hängt immer auch Fleisch.“ Will heißen: Wer Kuhmilch konsumiert, nimmt indirekt in Kauf, dass Rinder geschlachtet werden: Warum? Florian Gleißner: „Zum einen besteht der Kälbernachwuchs etwa zur Hälfte aus männlichen Tieren, zum anderen taugt auch nicht jedes weibliche Kalb später als Milchkuh.“
Gleißner hofft, bald auf dem Hof oder der Weide schlachten zu dürfen. Das erspart Rindern einen stressigen Transport, was obendrein die Fleischqualität verbessert. Bald dürfte die EU-Kommission die „Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs“ dahingehend ändern, dass Hof- und Weideschlachtungen möglich sind. Seit Anfang April 2021 liegt ein entsprechender Änderungsentwurf dem EU-Rat und -Parlament vor. Gibt es binnen zwei Monaten keine Einwände, wird die Neuregelung automatisch rechtskräftig.
Welche Konsequenzen hat es, wenn das Schlachten liberalisiert wird? Auf Nachfrage ist aus dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zu vernehmen, der amtliche Tierarzt habe anwesend zu sein. „Das verteuert Biofleisch natürlich noch weiter“, gibt Gleißner zu bedenken. Zudem darf laut BMEL der Körper des geschlachteten Tiers nur in einem dafür zugelassen Fahrzeug zum Schlachthof transportiert werden, um ihn dort weiter zu verwerten.
In Fredeburg gibt man zu schlachtende Rinder längst nicht mehr in den konventionellen Schlachtbetrieb. Es besteht eine Übereinkunft mit der Hofschlachterei in Büchen, die teures, aber eben ethisch vertretbares Biofleisch produziert.
Mit der zahlreichen Stamm- und mancher Lauf-Kundschaft fällt den Fredeburgern der Absatz teuren Biofleischs leicht. Anderswo werden Biokälber – zumal, wenn kein Hofladen angeschlossen ist – zuhauf herkömmliches Metzger- oder Supermarktfleisch. Allein deswegen, damit wir Menschen Biomilch kaufen können. Nach Angaben der Schweisfurth Stiftung landet der überwiegende Anteil der Kälber von Öko-Milchviehbetrieben im konventionellen Viehhandel.
Die in Sachen Tierwohl engagierte Stiftung beteiligt sich an einem 2021 initiierten Forschungsprojekt namens mehrWERT Öko-Milch+Fleisch. Durchgeführt wird es von der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft. Zu den erklärten Zielen gehört, Biobauern mehr Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich auch zur Milchproduktion untaugliche Rinder artgemäß halten und als Öko-Rindfleisch vermarkten lassen.