Brasiliens Demokratie auf dem Prüfstand: Putschversuch in der Hauptstadt
Die radikalen Anhängerïnnen des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro rannten Sturm gegen die drei wichtigsten Regierungsgebäude in Brasilia. Jetzt müssen sie sich vor Gericht verantworten. Sechs Schlüsselfragen und Antworten.
1. Was ist am 8. Januar geschehen?
Eine wild aufgebrachte Menge von etwa 3.000 Anhängerïnnen des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro stürmte am Sonntag, kurz vor 15 Uhr Ortszeit, das Herz der brasilianischen Demokratie in der Hauptstadt Brasilia.
Bereits eine Stunde später waren sie mit Gewalt in die drei wichtigsten Gebäude eingedrungen: den Nationalkongress, den Regierungssitz und den Obersten Gerichtshof. Sie demolierten, was sie nur konnten: Sie schlugen Fensterscheiben ein, zertrümmerten das Mobiliar und die Computer, beschädigten Kunstwerke (wie den Wandteppich der Habsburger Prinzessin Leopoldina, der ersten Kaiserin Brasiliens), beschmierten Wände und raubten das Original der brasilianischen Verfassung von 1988. Dabei griffen sie auch Journalistïnnen an. Ihr Ziel war es, den seit einer Woche amtierenden linken Präsidenten Lula da Silva zu entmachten.
Der Angriff erfolgte exakt zwei Jahre und zwei Tage nach dem Sturm auf das Kapitol in Washington. Dieses stürmten Anhängerïnnen von Bolsonaros großem Vorbild Donald Trump, der zu dem Zeitpunkt ebenfalls in einer Präsidentschaftswahl unterlegenen war. Auch er hatte damals seine Wahlniederlage nicht akzeptiert. Parallelen zu den Verbrechen in Washington gibt es noch mehr. Das belegen die Videos und Fotos, die seitdem um die Welt gingen und tausendfach über Telegram- und WhatsApp-Gruppen geteilt wurden.
2. Wie reagierte die Polizei?
Die Sicherheitskräfte blieben zunächst untätig. Es besteht der Verdacht, dass die Militärpolizei mit den radikalen Bolsonaro-Anhängern sogar zusammenarbeiteten. Sie hatte die „Demonstranten“ zuvor zum Platz der Drei Mächte eskortiert.
Videoaufnahmen zeigen, dass die Polizei nicht den Versuch unternahm, den Vormarsch der Bolsonaristïnnen aufzuhalten. Es dauerte viereinhalb Stunden, bis sie die Situation wieder unter Kontrolle hatten.
Der Anschlag war in den sozialen Netzwerken angekündigt worden. Justizminister Flavio Dino hatte deshalb Tage zuvor Verstärkung der Militärpolizei angefordert, um das Zentrum Brasilias zu sichern – vergebens. Der für den Einsatz am Sonntag verantwortliche Generalkommandant der Militärpolizei des Bundesdistrikts (PMDF) Fábio Augusto Vieira wurde inzwischen festgenommen.
3. Wie wehrt sich der Staat?
Noch am selben Abend hob Präsident Lula da Silva per Bundesintervention die Autonomie des Bundesdistrikts Brasilia bis Ende Januar auf. Am nächsten Tag, dem 9. Januar, räumte Alexandre de Moraes, Richter am Obersten Gerichtshof, die Belagerung der Militärkasernen durch radikale Bolsonaro-Anhänger. Er suspendierte auch den Bolsonaro-treuen Gouverneur Ibaneis Rocha zunächst für 90 Tage. Ihm wird vorsätzliche Unterlassung vorgeworfen, da er eine falsche „freie politische Demonstration in Brasilia“ verteidigte, obwohl ihm die Gefahr eines Angriffs auf die Institutionen bekannt war. Außerdem hatte Rocha die Aufforderungen der Behörden ignoriert, einen Sicherheitsplan zu erstellen.
Rund 1.500 Personen, die an den Anschlägen beteiligt waren, wurden zwischenzeitlich festgenommen und verhört. Ein Drittel ist seit Dienstag wieder frei. Die Polizei sucht weiter nach den Unterstützerïnnen und Geldgebern des Putschversuchs. Schließlich hatten 40 Busse die etwa 3.000 radikalen Bolsonaro-Anhängerïnnen zum „Platz der drei Gewalten“ transportiert.
4. Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke bei der Aufklärung?
Eine wichtige. Denn die Putschistïnnen haben sich bei ihrem Tun ausgiebig gefilmt und die Selfies und Videos in verschiedenen Gruppen in den sozialen Medien gepostet. Im allgemeinen Tumult der Invasion gingen diese viral.
Ihr Narzissmus wird die radikalen Bolsonaro-Anhängerïnnen nun vermutlich teuer zu stehen kommen. Bolsonaro-Gegnerïnnen und Verteidigerïnnen eines demokratischen Brasiliens entdeckten diese Bilder in ihren Gruppen – und hatten den Impuls, diese Personen anzuzeigen. „Es war eine spontane Reaktion der Zivilgesellschaft“, sagt Erika Bauer. Sie konnte gleich anfangs einen Mann identifizieren und beim Justizministerium melden. Das ging ganz einfach über eine E-Mail. Sehr schnell nach dem Angriff tauchte auf Instagram die Seite contragolpebrasil (dt. Gegenputsch Brasilien) auf. Diese sammelt die zumeist selbst geschossenen Beweise des Sturms auf die brasilianische Demokratie und identifiziert dank Hilfe der Instagram-Nutzerinnen die Teilnehmerïnnen. Die Seite hat bereits mehr als 1, 1 Millionen Followerïnnen. Mehr als 88 Personen seien bereits identifiziert worden.
5. Wer steckt hinter dem Angriff?
„Der Sturm der Bolsonaro-Anhänger war kein spontaner Ausdruck des Protests, sondern ein Umsturzversuch, lange angekündigt und gestützt durch Teile der Polizei, der Politik sowie Unternehmer, die dem Ex-Präsidenten nahestehen“, sagt Christoph Heuser, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien.
Der oberste Richter Alexandre de Moraes erließ am 10. Januar Haftbefehl gegen Anderson Torres, den Sicherheitschef des Bundesdistrikts Brasilia. Er war Justizminister unter Bolsonaro. Ihm wird die Mobilisierung der Bolsonaro-Anhänger vorgeworfen. Torres war eine Woche vor den Ereignissen nach Florida in den Urlaub verschwunden, wo sich auch Bolsonaro aufhält. Torres distanzierte sich von den „unvorstellbaren Angriffen auf alle Instanzen der Macht der brasilianischen Republik“ und will sich der Justiz stellen.
Ex-Präsident Jair Bolsonaro hält sich seit dem 30. Dezember in Orlando/Florida auf und wurde am Tag nach den Vorfällen wegen Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingewiesen. Er kündigte an, bald nach Brasilien zurückzukehren. Er verurteilte zwar den Vandalismus, sprach aber von „Demonstrationen“ statt Putschversuch und wies Vorwürfe zurück, er habe die Ereignisse provoziert.
6. Welche politischen Folgen wird der Umsturzversuch haben?
Bisher wohl das Gegenteil von dem, was sich die radikalen Bolsonaro-Anhängerïnnen erhofft haben. Der Angriff auf die Regierungsgebäude hat zu einer Solidarisierung mit Präsident Lula und seiner Regierung geführt. Er versammelte seine 27 Gouverneure hinter sich. Darunter sind sogar Unterstützerïnnen Bolsonaros wie die Gouverneure von São Paulo, Rio de Janeiro, und aus dem Rinder- und Soja-Bundesstaat Mato Grosso, die Anschläge in Brasilia verurteilten.
Der Umsturzversuch bietet Lula den Anlass, seinen Vorgänger zu diskreditieren, hart gegen dessen radikale Unterstützerbasis vorzugehen und sie zu schwächen. Das ist politisch deshalb relevant, weil Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 49, 1 Prozent der Stimmen bekommen hatte und zahlreiche Gouverneure und Kongressabgeordnete kontrolliert.
Auch die Zivilgesellschaft zeigte sich solidarisch mit der Regierung und half aktiv bei der Verteidigung des Rechtsstaats mit. Darüber hinaus will auch ein Großteil der Bolsonaro-Wähler mit den Ausschreitungen nichts zu tun haben: 93 Prozent der Bevölkerung verurteilten den Überfall auf die Regierungsgebäude. Und das Land könnte gestärkt aus dem Angriff auf die Demokratie hervorgehen.
Während die Regierung noch damit beschäftigt ist, weitere Gefahren für die Demokratie aufzudecken und zu entschärfen, hat sich die Stimmung der Zivilbevölkerung inzwischen entspannt.
Die Seite contragolpebrasil besuchen nun viele wegen der lustigen Kommentare. Der neueste Schrei ist ein Meme, mit dem man seine Bolsonaro-Anhänger-Kontakte in Schrecken versetzen kann: ein Telefonanruf von Obersten Gerichtshof, Alexandre de Moraes.