Neue EU-Milliardenhilfen: Warum sich Bulgarien so schwertut mit dem Kohleausstieg
Die bulgarische Wirtschaft ist stark vom Kohlebergbau abhängig, der Weg zur Klimaneutralität bleibt steinig. Während Bergarbeiter gegen den „Green Deal“ in Brüssel demonstrieren, hat die EU nun über eine Milliarde Euro für die Wärmeisolierung von Gebäuden bereitgestellt. Eine Bergbaustadt begreift dies als Chance.
Steigende Meeresspiegel, häufigere Dürren, verheerende Überschwemmungen – die Folgen des Klimawandels sind weltweit spürbar. Doch rund um den Globus suchen Menschen nach Lösungen, die das Schlimmste verhindern können: Ressourcen nachhaltiger nutzen, neue Wege für die Landwirtschaft oder politisches Engagement für klimabewusstes Handeln. An jedem zweiten Mittwoch im Monat lesen Sie hier, wie Menschen weltweit gegen die Klimakrise kämpfen.
An der Petko-Karavelov-Straße wird an drei Wohnblocks gebaut, ohne dass man es auf den ersten Blick sieht. Die Bauarbeiter sind auf der Hinterseite zugange, die Gerüste werden gerade aufgestellt. Zwischen den drei achtstöckigen Blocks stapeln sich Styroporplatten und Rollen mit Steinwolle. „Wir reden nicht, wir machen vorwärts“, sagt Andrei Skrimov gefühlt zum zehnten Mal an diesem bewölkten Sommertag. Der einstige PR-Mann der gerade niedergehenden Sozialistischen Partei Bulgariens (BSP) berät heute den Bürgermeister seiner Heimatstadt Pernik, einer Kleinstadt 30 Kilometer südwestlich der bulgarischen Hauptstadt Sofia.
Skrimov entstammt einer Bergarbeiterfamilie, sein Vater und auch der Großvater haben unter Tage gearbeitet und Kohle gefördert. Das reiche Vorkommen des „schwarzen Goldes“ hat das einstige Bergdorf reich gemacht. 1891 hatten russische Ingenieure den ersten Stollen gegraben. „Elf Jahre später hatte Pernik zwar nur 13.000 Einwohner, aber ein eigenes Orchester, ein Theater und eine Kunstgalerie“, erzählt Skrimov stolz. Die Einwohnerzahl stieg rasch auf mehr als 90.000; heute beträgt sie noch knapp 70.000. Ein prachtvoller Boulevard von der 14-stöckigen Gebietsverwaltung bis zum neoklassizistischen Kulturhaus unterstreicht die Bedeutung der Stadt zu sozialistischen Zeiten.
Skrimov erzählt von der Selbstbefreiung der Bulgaren nach 500 Jahren osmanischer Besatzung Ende des 19. Jahrhunderts, der vom Kohlerausch begünstigten Industrialisierung zu Beginn der Unabhängigkeit und den neuen Chancen durch den EU-Beitritt von 2007. Im Winter fährt er über gut ausgebaute Fernstraßen bis an die polnischen Karpatenausläufer östlich von Krakau zum Skilaufen. Die eigenen Skigebiete seien ihm und seinen Kindern zu steil, sagt er. Besonders am Herzen liegen Skrimov jedoch die Schulhäuser seiner Stadt, von denen viele bereits wärmeisoliert seien. Beflissen führt er durch die nach dem Heiligen der Bergleute benannte Ivan-Rilski-Grundschule. Das riesige Gebäude ist erdbebensicher gebaut und rundum mit Styropor isoliert. Es sind gerade Schulferien, alles glänzt und ist ein bisschen steril, wirkt aber beeindruckend modern.
Fast alle Parteien kritisieren den „Green Deal“ der EU
Für solche Gebäudemodernisierungen greift die Stadt auf eine Reihe von EU-Programmen zurück. Wichtig geworden sind in den letzten Jahren zwei Brüsseler Fördertöpfe für den Übergang zur Klimaneutralität, die die EU bis 2050 anvisiert. Im Rahmen des Corona-Wiederaufbauprogramms gibt es einen Klimafonds und dazu neu einen Fonds zur gerechten Umgestaltung, den „Just Transition Fund“. Für beide Programme hat die Regierung in Sofia ihre Pläne mit erheblicher Verspätung in Brüssel eingereicht – und deswegen bereits Gelder verloren. Da Bulgarien nicht nur das ärmste, sondern auch das Energie-ineffizienteste der 28 EU-Mitglieder ist, war der Regierung in Sofia jedoch klar, dass Handlungsbedarf besteht. Bisher basieren nur zwölf Prozent des Stroms in Bulgarien auf erneuerbaren Energiequellen wie Solar-, Windkraft oder Biomasse, aber 34 Prozent auf Braun- und Steinkohle und 41 Prozent auf Atomkraft.
Die Verabschiedung der bulgarischen Ziele zur fristgerechten Erreichung der Klimaneutralität, der nebst der massiven Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energie auch den Kohleausstieg bedingt, hat Bulgarien im Herbst 2023 eine Protestwelle von Bergarbeitern, Kraftwerksangestellten und ihren Familien eingespielt. Tausende von den Gewerkschaften aufgebotene Staatsangestellte blockierten Autobahnen und demonstrierten von dem Regierungsgebäude in Sofia. Schließlich gab die liberale Reformregierung von Nikolaj Denkov nach und verlegte den Kohleausstieg in Absprache mit Brüssel von 2030 auf 2038. Seitdem gehört eine zurückhaltende bis radikale Kritik am „Green Deal“ der EU zu fast allen Parteiprogrammen in Bulgarien. Brüssel jedoch hat zum 1. Januar dieses Jahres 1,2 Mrd. Euro für Bulgarien aus dem „Just Transition Fund 2021–27“ bewilligt, die den drei Bergbauregionen Stara Zagora, Kjustendil und Pernik zugutekommen.
„Es ist enorm wichtig, dass Bulgariens Übergang von der EU-weit kohleintensivsten zu einer klimaneutralen Wirtschaft fair vonstatten geht“, begründete die EU-Kohäsions- und Reform-Kommissarin Elisa Ferreira die verhältnismäßig hohe Zahlung an die drei (von 96) Regionen. „Zusammen bauen wir einen Weg für ein konkurrenzfähigeres und grüneres Bulgarien, das niemanden links liegen lässt“, sagte Ferreira.
Vizebürgermeister Stefan Krastev sieht bei einem Treffen in einer mittleren Etage des immensen Verwaltungsgebäudes aus sozialistischer Zeit, in dem heute auch das Rathaus untergebracht ist, keinen Widerspruch zwischen Perniks reicher Bergbautradition und Energieeffizienz. „Es ist doch klar, dass wir alles unternehmen müssen, um mit weniger Energie möglichst viel zu erreichen“, sagt der ausgebildete Touristikfachmann mit einem Doktorat in EU-Studien. Die Kohleadern in der Gegend seien praktisch alle abgebaut, nur noch zwei Minen in Betrieb. Krastev spricht die in Bulgarien chronisch hohe Luftverschmutzung an und erwähnt das Wärmekraftwerk „Bobrov Dol“ am südlichen Stadteingang, das zumindest im Sommer keine Kohle mehr verfeuere, um Elektrizität, Fernwärme und Warmwasser herzustellen. Stattdessen läuft das Riesenwerk in der warmen Jahreszeit jetzt mit Gas. „Das Kraftwerk wurde vor 20 Jahren privatisiert, das ist problematisch“, klagt der Stadtbeamte, auch in Bezug auf Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz.
Rund 4000 Jobs fallen laut Schätzungen des Rathauses in den beiden Kohleminen, Kraftwerk und bei Zulieferern beim Kohleausstieg weg. Die Gemeinde hat dazu eine über 600-seitige Studie verfasst. Tausend Umqualifizierungen sollen von der EU mittels des „Just-Transition“-Programms bis 2027 finanziert werden. Vizebürgermeister Krastev rechnet damit, dass dies in den nächsten drei bis vier Jahren ausreicht. Er verweist auf die lokal niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wende von noch drei Prozent in Pernik (bei durchschnittlich 4,3 Prozent in Bulgarien im Jahr 2023) und viele Neuinvestitionen rund um die Grubenstadt, darunter auch einer im Bereich Energiespeicherung tätigen bulgarisch-schwedischen Firma. „Wir haben bereits einen Fachkräftemangel“, gibt er allerdings zu. Den könne man aber auch als praktische Chance begreifen: Die Kumpel würden mit der Zeit schon verstehen, dass es bessere Arbeit über als unter der Erde gäbe. „Pernik wird die Transformation des Kohleausstiegs schaffen, weil hier schon seit 100 Jahren das Zentrum der Innovation in Bulgarien war“, gibt sich Krastev mit viel Lokalpatriotismus optimistisch.
Im Rathaus heißt es derweil hinter vorgehaltener Hand, die Proteste im Herbst 2023 seien von der Leitung des Elektrizitätswerks quasi angeordnet und mit normalen Löhnen bezahlt worden. Dennoch hätten aus Pernik erstaunlich wenige Arbeiter an den Autobahn-Blockaden teilgenommen. In dem von ehemaligen Sozialisten beherrschten Rathaus hört man auch, bei den Gruben und meisten Kraftwerken handle es sich um überbesetzte Staatsbetriebe. Die Gewerkschaften bangten um ihren Einfluss sowie Mitgliederbeiträge und würden deshalb diese Misswirtschaft verteidigen. „Es geht um Macht und Geld, nicht um Kohleausstieg oder Green Deal der EU“, hört man in der Mannschaft von Stanislav Vladimirov, eines post-kommunistischen ehemaligen BSP-Parlamentariers, der das Rathaus 2019 nach einem großen Trinkwasserskandal knapp erobert hatte und 2023 mit fast 90 Prozent der Stimmen auf dem Ticket der neuen Lokalpartei „Für Pernik“ wiedergewählt wurde. Damit gilt die Stadtregierung bis 2027 als stabil, ganz im Unterschied zu Bulgarien selbst. Hier steht Mitte Oktober die bereits siebte vorgezogene Neuwahl in drei Jahren an. Vladimirov gilt als unbestechlicher, bescheidener Stadtvater. Dennoch ist in den Straßen von Pernik zu hören, die Vollbeschäftigung sei eine Mär und wenige könnten sich eines Einkommens erfreuen, das einen sicheren Lebensunterhalt garantiere. Auch sollen neben den zwei offiziellen noch fast ein Dutzend illegale Tagbau-Kohleschürfstellen in Betrieb sein. Erst Anfang August wurden laut der lokalen Nachrichtenseite „Pernik News“ von der Polizei in einem Werkhof 53 nicht registrierte Kohlesäcke beschlagnahmt.
Doch die innovationswillige Stadtregierung will sich von der miesen Stimmung bei Teilen der Bevölkerung nicht ausbremsen lassen. Während man im Rathaus gerade die vom „Just Transformation Fund“ mit 12 Millionen Euro finanzierte Ersetzung von 7000 Kohleöfen in Privathäusern durch Wärmepumpen, Solar- oder Klimaanlagen vorbereitet, werden mit Hilfe des EU-Klimafonds Wohnblocks, öffentliche Gebäude und Privathäuser Schritt für Schritt weitersaniert. Die drei Wohnblocks an der Petko-Karavelov-Straße sind Teil eines mit umgerechnet 1,42 Millionen Euro dotierten Programms zur Anhebung der Energieeffizienz von großen Wohneinheiten. 80 Prozent bezahlt die EU, je zehn Prozent kommen aus der Gemeinde- und Staatskasse. Bulgarienweit sollen bis 2033 bis zu 4,3 Millionen Euro nationale und EU-Gelder in die Wärmeisolierung von Häusern investiert werden. „Auf der Nordseite kommt immer Steinwolle rein“, erklärt ein Vorarbeiter beim ersten Wohnblock. Dort wird auf der Hinterseite im Parterre gerade neu verputzt. Es handelt sich um einen kleinen Trupp lokaler Bauarbeiter, der sich an dem achtstöckigen Block zu schaffen macht. Beim Nachbarblock muss gerade eine mit Styropor beschichtete Seitenwand noch einmal ausgebessert werden. An der Hinterseite des Wohnblocks ist ein auf- und abfahrbares Gerüst angebracht, eine neuartige Eigenkonstruktion, wie ein paar jüngere Bauarbeiter stolz hervorheben. Da der Chef nicht anwesend ist, wollen sie nichts zum Sinn von Gebäudeisolierungen sagen. Einer traut sich dennoch: „Wir machen eben, was zu tun ist.“