Liefert Kernfusion in Deutschland in 10 Jahren Strom? Die Forschungsministerin glaubt daran

Bisher spielte die Kernfusion in der Energiepolitik keine Rolle – sie galt als Zukunftsmusik nach 2050. Doch Forschungsministerin Stark-Watzinger setzt auf Fusionsstrom in den 2030ern. Vom internationalen Großprojekt „Iter“ kann er nicht kommen. Aber von Start-ups?

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Die Politikerin mit rotem Helm for technischem Gerät.

In der deutschen Energiepolitik gibt es schon seit längerem nur noch eine Richtung: raus aus Kernkraft, Kohle und schließlich auch aus Erdgas, rein in Erneuerbare, in Wind-, Solar-, Geo- und Bioenergie. Alle Debatten, Streitigkeiten, Strategien und Entscheidungen drehten sich in den vergangenen Jahren allein um das Timing bei diesem Übergang. 100 Prozent Erneuerbare Energie – so soll die deutsche Energiezukunft aussehen.

Mit der Kernkraft wird jetzt aller Voraussicht nach noch in diesem Jahr Schluss sein, mit der Kohlenutzung in Westdeutschland bis spätestens 2030 und im Osten bis 2038. Da Deutschland bis 2045 klimaneutral sein will, steht auch das fossile Erdgas schon auf der Abschussliste. Zeitgleich versucht die Regierung, beim Aufbau von Anlagen und Leitungen für 100 Prozent Erneuerbare Energie den Turbo einzulegen.

Doch Ende 2022 ist überraschend eine weitere Energiequelle ins Spiel gekommen: die Kernfusion. Auch Deutschland könnte dabei eine zentrale Rolle spielen.

Kein Kohlendioxid, kein hochgefährlicher Atommüll

Bisher galt das Vorhaben von Physikerinnen und Physikern, das Millionen Grad heiße Feuer der Sonne in Reaktoren zu zünden und daraus Energie zu gewinnen, bestenfalls als hypothetische Option für die zweite Hälfte des Jahrhunderts. „Die Fusionsforschung ist ein Beitrag zur langfristig ausgerichteten, anwendungsorientierten Grundlagenforschung“, heißt es etwa im aktuell gültigen Energieforschungsprogramm der Bundesregierung. Da Grundlagenforschung das Gegenteil von Anwendungsforschung ist, könnte die Botschaft klarer nicht sein.

Das Innere eines ringförmigen Metallgehäuses.
Im Februar 2022 simulierte ein Team von „EUROfusion“ in diesem sogenannten „JET Tokamak“ die Bedingungen in einem späteren Fusionsreaktor – doch der Weg zur Stromproduktion ist noch weit.

Doch spätestens seit dem 13. Dezember 2022 ist vieles anders. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der National Ignition Facility in den USA gaben bekannt, es sei erstmals gelungen, eine Kernfusion so ablaufen zu lassen, dass mehr Energie freisetzt als eingesetzt wird. Zumindest geht diese wichtige Rechnung auf, wenn man nur den Kern der Anlage mit dem eigentlichen Experiment betrachtet und den immensen Energieaufwand der großen Laseranlage außer Acht lässt, die das Experiment anstößt. Bei dieser sogenannten „Laserfusion“ wurde eine stecknadelkopfgroße Kapsel mit Wasserstoff schlagartig durch einen starken Strahl auf Fusionstemperatur erhitzt.

Das Experiment diente zwar hauptsächlich der Optimierung der US-amerikanischen Nuklearwaffen. Aber die Weltöffentlichkeit erkannte den Vorboten grenzenloser friedlicher Energieerzeugung – die obendrein fast ohne CO₂-Emissionen und ohne langlebige stark radioaktive Abfälle funktionieren kann. Wenn in einem Fusionskraftwerk etwas schiefläuft, dann kommt es einfach zum Stillstand. Das radioaktive Inventar ist im Vergleich zu einem Kernkraftwerk sehr gering.

„Das ist ein historischer Tag“, sagte die Forschungsministerin

In Deutschland geriet am Tag der Bekanntgabe eine Politikerin regelrecht aus dem Häuschen: Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Die FDP-Politikerin strahlte bei einem Auftritt im heute-Journal über beide Ohren, ihre Augen funkelten. „Das ist ein historischer Tag“, sagte sie.

Dann tat die Ministerin etwas Erstaunliches: Sie rückte die Kernfusion ganz vom Rand der deutschen Energiepolitik mitten in ihr Zentrum.

Die Ministerin steht am Mikrofon und spricht.
Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger (FDP) am 30. November 2022 im Deutschen Bundestag.

Auf die Frage des heute-Moderators, wann das erste deutsche Fusionskraftwerk ans Netz gehen und Strom einspeisen könnte, antwortete Stark-Watzinger:

„Also das ist ja unser sunshot-Projekt, diese Kernfusion, weil wir dann eben schaffen, Energie als Basis für den Wohlstand wirklich verlässlich und günstig auch zur Verfügung zu stellen – insofern, die Ambitionen dürfen da nicht zu klein sein, ich sag' mal zehn Jahre, es kann auch etwas länger dauern, aber wir müssen uns Ambitionen ja setzen.“

Zehn Jahre? Das ist ein überschaubarer, greifbarer Zeitraum. Schon jetzt werden im für die Energiepolitik zuständigen Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) viele sehr konkrete Entscheidungen getroffen, die auf Anfang und Mitte der 2030er Jahre zielen.

Fusionsreaktoren zählten bisher nicht dazu.

Doch die Bundesforschungsministerin hat sich weder verhaspelt noch von spontaner Begeisterung hinreißen lassen. Sie hat dieselbe Vision wie US-Präsident: „Der Präsident hat eine Vision für das Jahrzehnt, binnen zehn Jahren einen kommerziellen Fusionsreaktor zu bekommen“, sagte US-Energieministerin Jennifer bei der Zeremonie Mitte Dezember.

Frauen in Businesskleidung mit US-Fahne, eine am Rednerpult dahinter steht energy.gov.
Ein „historischer Tag“: Am 13. Dezember 2022 stellten Vertreterinnen US-amerikanischer Forschungsinstitutionen und der Regierung die neuen Ergebnisse in der Kernfusion vor.

Bereits 2019 gehörte Stark-Watzinger zu den Initiatoren einer Kleinen Anfrage im Bundestag mit dem Ziel, die Fusionsforschung zu stärken. Deutschland müsse am Ball bleiben, „was die Entwicklung einer Zukunftstechnologie mit unabsehbaren, möglicherweise immensen Entwicklungspotentialen für künftige Generationen anbelangt“, hieß es darin.

Die Forschungsministerin ist schon länger Fusionsfan

Im August letzten Jahres hat die Politikerin die deutsche Fusionsforschungsanlage „Wendelstein-7 X“ in Greifswald besucht und ihre Hoffnungen so auf den Punkt gebracht: „Wenn es gelänge, durch Fusion große Mengen von Energie zu erzeugen, wäre das ein wertvoller Beitrag zur Abdeckung der Grundlast und eine riesengroße Chance für unsere Energieversorgung und unsere Unabhängigkeit“.

Gerade jetzt, wo in Deutschland erstmals seit den 1970er Jahren wieder über Energieknappheit geredet wird und die Klimakrise immer spürbarer wird, trifft die Meldung aus den USA auf fruchtbaren Boden. In künftigen Fusionsreaktoren könnten 1 Gramm Brennstoff so viel nutzbare Energie erzeugen wie 11 Tonnen Kohle. Aber wie sollte ein Versuch aus der US-Grundlagenforschung plötzlich in Deutschland Fusionskraftwerke hervorbringen, die binnen 10 oder 15 Jahren Strom ins Netz einspeisen?

Zehn Jahre, so lange dauert es in Deutschland gerne, einen neuen Radweg zu realisieren. Für ein Atomkraftwerk setzt der Chef der Gesellschaft für Reaktorsicherheit 15 bis 20 Jahre Entstehungszeit an. Zwar hat die Bundesregierung nun bei den am 17. Dezember 2022 eingeweihten Entladeterminals für Flüssiggas gezeigt, dass neue Infrastruktur im Notfall auch binnen weniger Monate hingeklotzt werden kann. Aber bei Radwegen, Kernkraftwerken und LNG-Terminals weiß man genau, was man wie bauen will.

Bei der Kernfusion gibt es dagegen unzählige offene Fragen und zudem einige „unbekannte Unbekannte“, also lauernde Überraschungen.

Wie also kommt die Bundesforschungsministerin auf diese kurze Frist?

Jedenfalls nicht durch die Ingenieure und Wissenschaftlerinnen, denen der Durchbruch in den USA gelungen ist: Kim Budil, die Direktorin des Lawrence Livermore National Laboratory, zu dem das Kernfusionsprojekt gehört, hob bei der feierlichen Verkündigung des Durchbruchs hervor, dass die Versuchsanordnung von einem kommerziellen Reaktor, der Strom liefert, noch meilenweit entfernt sei. Sie widersprach damit auch der Zielzahl von zehn Jahren, die US-Präsident Joe Biden ausrichten ließ.

Budil sagte: „Ein paar Jahrzehnte der Forschung an den zugrunde liegenden Technologien könnten uns in die Lage versetzen, ein Kraftwerk zu bauen“. Sie fügte hinzu: „Nicht sechs Jahrzehnte, glaube ich, auch nicht fünf Jahrzehnte, wie wir früher sagten“.

Eine Fläche mit geometrischen Formen und einem Hohlraum. Sorry, ich kann das gerade nicht besser beschreiben.
Forschung in den USA: 192 Laser werden auf den kleinen Hohlraum am linken Rad der Fläche gerichtet, um eine Fusionsreaktion zu starten.

Selbst nach optimistischen drei Jahrzehnten wäre in dieser Rechnung erst der Punkt erreicht, ab dem man ein hochkompliziertes Kraftwerk bauen könnte. Standortsuche, Genehmigungsverfahren, Bauzeit, Testzeit, Inbetriebnahme – das muss man noch addieren. Budil hat also nichts davon gesagt, dass in zehn Jahren ein kommerzieller Reaktor mit Laserfusion Strom liefern wird.

In Deutschland ist das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) in München die unangefochtene Nummer eins in der Kernfusion. Mit 134 Millionen Euro pro Jahr unterstützt das BMBF dieses Institut. Stammt die Jahreszahl der Bundesforschungsministerin von dort? Das wäre plausibel. Üblich und guter Stil ist es in der Forschungspolitik eigentlich, dass die Ministerinnen und Minister des BMBF sich von den besten Köpfen im Land beraten lassen, bevor sie mit weitreichenden Aussagen an die Öffentlichkeit gehen.

Doch aus dem IPP in München kann die Ansage von den zehn Jahren plus Aufschlag nicht gekommen sein.

Forscher in einem Metallgefäß, Portrait der Wissenschaftlerin.
Plasmagefäss der Fusionsanlage „Asdex“ am IPP in München bei einem Upgrade 2010, wissenschaftliche Direktorin Sibylle Günter.

IPP-Direktorin Sybille Günter machte für Table.Media dieselbe Rechnung auf wie ihre Kollegin Kim Budil aus den USA bei ihrer Pressekonferenz. Mit der Technologie von heute kann man, um die Fusion von Wasserstoff zu Helium anzustoßen, nur einmal am Tag den Laser abfeuern. Dann muss alles abkühlen. Zur Stromproduktion wären aber mindestens zehn Zündungen pro Sekunde nötig. „Diese und viele andere technologische Fragestellungen müssen noch geklärt werden, bevor man an den Bau eines Kraftwerks denken kann“, sagte Günter.

Das IPP und die gesamte Energie- und Forschungspolitik Deutschlands setzen bisher auf eine andere Methode als Laser, um das Verschmelzen von Wasserstoff ins Laufen zu bringen: das „Magneteinschlussverfahren“, bei dem die Fusionsmasse in einem starken Magnetfeld schwebt. Davon gibt es zwei Varianten, den sogenannten „Tokamak“ und den sogenannten „Stellarator“. Für beide Techniken gehört das IPP zur Weltspitze und betreibt in Deutschland eigene Anlagen.

Iter: Ein Großprojekt mit vielen Verzögerungen

Deshalb rannte Stark-Watzingers Parteifreund Christian Lindner mit seinem Kommentar zum US-Durchbruch auch offene Türen ein. Er schrieb auf Twitter: „Der US-Durchbruch in der #Kernfusion enthält eine Botschaft an uns: Wir brauchen mehr Freude am Erfinden und Einsteigen als am Verbieten und Aussteigen. Die Zukunft der Energie muss auch ‚made in EU‘ sein.“

Weder in Deutschland noch in Europa wurde Fusionsforschung je verboten, im Gegenteil: Die Zukunft der Kernfusion ist längst „made in EU“. Deutsche Fusionsforscher sind federführend am Bau des weltweit ersten großen Erprobungs-Fusionsreaktors namens „Iter“ in Südfrankreich beteiligt.

Die Geschichte des Iter-Projekts spricht allerdings eine eigene Sprache: Seine Anfänge liegen in der Zeit vor dem Ende des Kalten Kriegs, als die Supermächte nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit suchten. 1985 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, eine Absichtserklärung zur gemeinsamen Entwicklung eines Fusionsreaktors.

Das finale Design für „Iter“ wurde 1999 beschlossen, der eigentliche Bau dann 2010 begonnen. 35 Nationen legen zusammen, um das Projekt zu finanzieren, und haben dafür sogar eine eigene Währung geschaffen. Die eingeplanten Kosten haben sich von anfangs sechs Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Die EU zahlt davon 45 Prozent – und Deutschland ist als ihr größter Nettozahler an vorderster Front auch finanziell dabei.

Derzeit ist der Zeitplan, dass Ende 2026 das erste Mal das heiße Plasma gezündet werden soll und im Jahr 2035 erstmals Strom erzeugt wird. Doch bis zur industriellen Stromproduktion ist es dann noch ein weiter Weg.

Eine riesige Halle mit komplizierten Bauteilen.
Kathedrale der Moderne: Die Versuchsanlage Iter von Innen.

Aufbauend auf diesen Erfahrungen soll dann „Demo“ entstehen, der erste Fusionsreaktor, der Strom liefert. Für dieses eigentliche Ziel der Kernfusionsforschung muss eine wichtige Technologie erst noch entwickelt werden: Beim Iter als Versuchsanlage geht es nur darum, dass die Kernfusion funktioniert und alle Bauteile den Temperaturen von vielen Millionen Grad standhalten. Ein Kraftwerk, das Strom produziert, muss zusätzlich in der Lage sein, sich seinen Treibstoff Tritium selbst aus dem Material der Reaktorwände zu erzeugen.

Erst deutlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts relevant

Zu den Chefplanern des ersten Fusionskraftwerks der Welt gehört der Physiker Hartmut Zohm vom IPP in München. Kaum jemand wünscht sich sehnlicher als er, dass ein Fusionsreaktor ans Netz geht. Doch er sagte Christian Meier in einem RiffReporter-Interview zum Zeitplan, dass der Bau von Demo nicht vor 2035 beginnen könne. „Viele Komponenten werden in Iter validiert, also werden wir dessen erfolgreichen Betrieb abwarten müssen, um das technische Risiko zu minimieren.“ Der Bau würde dann etwa zehn Jahre dauern. „Dazu kommen etwa fünf Jahre für die Inbetriebnahme, sodass Demo um 2050 Elektrizität ins Netz speisen könnte“, sagte Zohm.

Demo ist wiederum ein Prototyp, dem dann die serienreifen Kraftwerke erst folgen würden. Demnach stünde die Fusion erst deutlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur Verfügung.

Das Innere eines riesigen Gebäudes in Bau, Arbeiter sind mit einem gigantischen Gefäss beschäftigt.
In der Versuchsanlage „Iter" in Südfrankreich soll 2026 das erste Mal Millionen Grad heißes Plasma gezündet und in einem Magnetfeld eingeschlossen werden.

Das hieße, dass es Strom aus Fusion erst gäbe, wenn Deutschland längst vollständig klimaneutral sein muss. Für die kommenden 30 Jahre und die aktuelle Energiepolitik würde die Fusion demnach praktisch keine Rolle spielen. Das ist ein ganz anderes Szenario als Stark-Watzingers Ankündigung von Fusionsstrom in zehn Jahren.

Und wie bei allen Großprojekten gibt es auch beim Iter Verzögerungen. Erst am 17. November 2022 stellte dessen Lenkungsgremium fest: „Die jüngsten Ergebnisse der Analyse von Schlüsselkomponenten haben gezeigt, dass umfangreiche Reparaturen erforderlich sind.“ In einem der wichtigsten und kompliziertesten Komponenten sind Risse aufgetreten, die dort nicht sein sollten. Möglicherweise muss das riesige Bauteil, für dessen Antransport in Südfrankreich Straßen gesperrt wurden, zurück nach Südkorea gebracht und dort repariert oder ersetzt werden.

Agile Start-ups wollen das Staatenprojekt überholen – und in Deutschland Reaktoren bauen

Die Ansage der Bundesforschungsministerin, in Deutschland könne in zehn Jahren ein eigener Fusionsreaktor Strom ins Netz speisen, kann sich also auch nicht auf den Iter als bisheriges Fusions-Flaggschiff vieler Regierungen beziehen. Vielmehr hat Stark-Watzinger die knappe Frist von einer kleinen, aber umso engagierteren Community von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit agilen Start-up-Unternehmen das schwerfällige Iter-Projekt überholen wollen.

„Als ich gehört habe, wie die Bundesforschungsministerin von zehn Jahren sprach, musste ich schmunzeln“, sagt der Physiker Markus Roth, Gründer des deutsch-amerikanischen Unternehmens „Focused Energy“, das seinen deutschen Sitz in Darmstadt hat. Denn Stark-Watzinger kenne die Pläne seines Unternehmens, und dessen „Roadmap“ sehe vor, dass es ungefähr in 15 Jahren das erste Fusionskraftwerk geben soll, erzählt Roth: „Das ist ungefähr der Zeitrahmen, den die Ministerin vermutlich dabei im Sinne hatte, als sie ambitioniert die zehn Jahre nannte.“

Portaitfoto, Roth lächelt.
Der Physiker Markus Roth von „Focused Energy"

„Focused Energy“ ist nicht das einzige Fusions-Start-up, ganz im Gegenteil. Angesichts der Energieknappheit und der Klimakrise sind in den letzten Jahren mehrere Firmen gegründet worden, die ihren Investoren versprechen, im Wettlauf um das gezähmte Sonnenfeuer auf Erden die Nase vorne zu haben. Das meiste Geld fließt in den USA: Mehrere Milliarden Dollar haben Fusions-Startups dort mobilisieren können.

Das derzeit wichtigste dieser Jungunternehmen heißt Commonwealth Fusion Systems und sitzt in Cambridge in der Nähe des Massachusetts Institute of Technology (MIT), aus dem es 2018 hervorgegangen ist. CEO Bob Mumgaard sagte am 19. April 2022 bei einer Konferenz zur Kommerzialisierung der Kernfusion im Weißen Haus:

„Wir müssen mutig sein. Wir müssen sagen, dass es ein Ziel gibt, auf das wir zusteuern können. Das ist es, was diese Art von Veranstaltung wirklich gut macht. In zehn Jahren sollten wir im ganzen Land Pilotanlagen errichten, die auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik sind. Wir wissen, wie das geht, weil wir das schon einmal gemacht haben, sei es beim Manhattan-Projekt oder bei Apollo, oder bei dem, was in letzter Zeit mit der kommerziellen Raumfahrt passiert ist, oder wie wir es in der Neurowissenschaft gemacht haben.“

Doch könnten kleine Start-ups wirklich das riesige staatliche Forschungsprojekt Iter schlagen?

Einen eindrucksvollen Präzedenzfall dafür, dass ein kleiner, privatwirtschaftlicher und anfangs belächelter Akteur ein großes, internationales und staatlich gelenktes Forschungsprojekt überholen kann, gibt es: Zur Jahrtausendwende war es der Biotech-Unternehmer Craig Venter, der mit seiner Firma Celera Genomics als erster das Erbgut eines Menschen komplett genetisch sequenziert hat, nicht das große, staatlich organisierte „Human Genome Project“.

Wiederholt sich diese epische Geschichte von damals nun bei der Kernfusion? Sind die Start-ups wie kleine, agile Säugetiere, während der Iter-Staatenverbund einem schwerfälligen Dinosaurier gleicht?

Drei Personen posieren vor einer Kulisse, die an James Bond erinnert.
Das Management von Marvel Fusion: Moritz von der Linden (links), Heike Freund und Georg Korn.

Private Start-ups schlagen Staatsprojekt und bescheren Deutschland Alternativen zum grünen Ökostrom – das wäre für eine liberale Bundesforschungsministerin ein doppelter Erfolg

Anders als das Lamentieren von FDP-Chef Lindner über hiesige Verzagtheit bei Innovationen und Kernfusion vermuten lässt, mischen deutsche Start-ups in dem privaten Fusions-Business bereits kräftig mit. Das in München ansässige Unternehmen „Marvel Fusion“ trommelt ebenso für den Bau einer Laserfusions-Anlage in Deutschland wie das von Ex-Mitarbeiter Roth gegründete Konkurrenzunternehmen „Focused Energy“. Die technischen Ansätze unterscheiden sich dabei grundlegend – und jeder der Konkurrenten sieht sich im Vorteil.

„Marvel Fusion“ nennt Siemens Energy und den Laserhersteller Trumpf als industrielle und die Ludwig-Maximilians-Universität München, die Universität Stanford und das MIT als wissenschaftliche Partner.

„Als Nächstes soll eine Demonstrationsanlage gebaut werden, in der wir die Bausteine unserer Technologie experimentell nachweisen können“, erklärt Pressesprecher Jannik Reigl auf Anfrage. Dem soll der Prototyp eines Kraftwerks folgen. Dieser solle „bereits bis 2030 fertiggestellt sein und Energie produzieren, sodass in den 2030er Jahren kommerzielle Kraftwerke zur Verfügung stehen können.“ Eine Entscheidung über einen Standort ist noch nicht gefallen. In Penzberg südlich von München war das Unternehmen aber bereits auf Suche.

Fusionsreaktoren sollen ganze Großunternehmen und das deutsche Internet powern

Markus Roth, der Chef von „Focused Energy“, verhandelt bereits fleißig mit der US-Administration und der Bundesregierung über den Sprint zur Anwendung der Technologie. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in den USA, die deutsche GmbH in Darmstadt ist ein Tochterunternehmen. „Wir brauchen die besten Köpfe von beiden Seiten des Atlantiks“, sagt Roth, der am 13. Dezember stolz erklärte, dass mehrere der Wissenschaftler hinter dem Sensations-Experiment in den USA inzwischen für Focused Energy arbeiteten. 35 Mitarbeiter gebe es derzeit in Deutschland, ihre Aufgabe sei die Technologieentwicklung. Die rund 20 Mitarbeiter in den USA bereiteten derweil den Bau von Pilotanlagen vor.

Ein Mann hält vor Publikum eine Power Point Präsentation und hat ein Mikrofon in der Hand.
Frank H. Laukien, Beiratsvorsitzender von Gauss Fusion und CEO des Unternehmens Bruker, bei der Konferenz „Forum Fusion" Anfang Dezember in München.

„Wir koppeln die Erfahrung und die Expertise großer Labors und Universitäten mit der Geschwindigkeit und der Flexibilität eines Start-up-Unternehmens“, sagt Roth.

Der Zeitplan von Focused Energy sieht vor

  • relativ bald eine kleine Testanlage zu bauen, um noch einige offene Fragen der Physik zu beantworten.
  • Zwischen 2028 und 2030 eine Demonstrationsanlage zu errichten, in der die Laser bereits in schnellem Takt gezündet werden können
  • Anfang der 2030er zu erreichen, dass die Fusion mit hohem Energiegewinn verlässlich läuft
  • bis etwa 2037 die offenen technischen Anforderungen zu lösen und das erste Demonstrationskraftwerk an den Start zu bringen, das Strom ins Netz speist.

Roth hält Deutschland für einen gut geeigneten Standort. „Unsere Fusionsmethode baut zu einem großen Teil auf der Expertise von Hochleistungsoptik und Lasertechnik auf – und das ist eines der Gebiete, wo wir in Deutschland weltweit noch die Nase vorn haben.“ Er sieht in künftigen Fusionsreaktoren riesige Möglichkeiten: So könnten große Industrieanlagen wie etwa der BASF oder auch die Knotenpunkte des deutschen Internets im Raum Frankfurt mit Fusionsreaktoren zuverlässig versorgt werden. Die neue Form der Energieerzeugung könne zudem dafür eingesetzt werden, Meerwasser zu entsalzen und damit trinkbar zu machen oder sogar der Atmosphäre wieder Kohlendioxid zu entziehen, um der Erderwärmung entgegenzuwirken.

Am 12. Dezember 2022 traten bei einer Konferenz namens „Forum Fusion“ in München zwei weitere Player ins Rennen ein. Die „Gauss Fusion GmbH“ hat ein Konsortium aus mehreren Firmen hinter sich. „Technisch sind wir ein Start-up, aber de facto handelt es sich um eine Industrieinitiative aus sehr erfahrenen Partnern“, sagte Mitgründer Frank Laukien.

Er vermied aber das Versprechen von zehn Jahren und nannte den doppelten Zeitbedarf: Ziel sei es, „nach einer Analysephase von zwei Jahren in 20 Jahren ein europäisches Fusionskraftwerk zu bauen.“ Man strebe eine Public-Private-Partnership mit den besten europäischen Forschungsinstituten an. Es gehe darum, „die europäische Energieunabhängigkeit zu erreichen“, sagte Laukien bei der Tagung.

superkomplexe technische Anlage mit Bauarbeiter bei der Montage.
Die Versuchsanlage Wendelstein 7-X in Greifswald während der Bauphase.

Zudem stellte bei der Konferenz Jorrit Lion, Physiker am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, „Proxima Fusion“ vor, eine Ausgründung des Instituts. Dabei geht es nicht um Laserfusion, sondern um die Optimierung der deutschen Fusionsanlage „Wendelstein-7 X“, die nach dem sogenannten Stellarator-Prinzip funktioniert. Sie haben einen erheblichen Vorsprung, was Versuchsanlagen anbelangt. Die Anlage in Greifswald ist mit 1, 1 Milliarden Euro aus den Haushalten von Bund, Mecklenburg-Vorpommern und EU in Greifswald gebaut worden und einsatzbereit. Die Gründer wollen aus dem Stellarator nun ein kommerziell nutzbares Fusionskraftwerk weiterentwickeln.

Noch gibt es weder Baupläne noch Genehmigungsverfahren

Es ist also einiges los in Deutschland – und Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger drückt zusätzlich aufs Gaspedal. Schon im Frühjahr soll eine neu eingerichtete Expertengruppe einen Fahrplan vorlegen, wie Wissenschaft und Start-ups zusammen schnellstmöglich das Ziel eines Fusionskraftwerks in Deutschland erreichen können.

Mit ihrer Ansage, dass in zehn Jahren bereits Strom aus der Kernfusion ins Netz fließen wird, geht die FDP-Politikerin aber ein großes Wagnis ein. „Die Bundesforschungsministerin hat bewusst ein sehr ambitioniertes Ziel geäußert, das von einigen Experten für erste Anlagen genannt wird“, erklärte das BMBF. Zugleich habe Stark-Watzinger betont, dass es noch etwas länger dauern kann: „Ihr ist wichtig, so schnell wie möglich auf dem Weg zu einem ersten Fusionsreaktor voranzukommen“, teilte das Ministerium mit. Dem BMBF seien in Deutschland „konkrete Pläne für die Errichtung eines stromliefernden Reaktors nicht bekannt“.

Textausrisse wissenschaftlicher Veröffentlichungen in physikalischer Fachsprache
Artikel von „Marvel Fusion“, Gegenrede von IPP-Forscher: „Intrinsische Widersprüche“.
Ein lila leuchtender Reaktorraum und eine helle gelbe Blase.
Plasma am Max-Planck-Institut in München, Kernfusion im Computermodell

Aus Sicht eines Start-ups ist es nur verständlich, mit einer Topmannschaft ehrgeizig und energiegeladen aufzutreten und Investoren Zeitpläne vorzulegen, die man nach bestem Wissen und Gewissen gerade noch für machbar hält und die zugleich attraktiv genug für im Risikokapitalbereich immer sehr ungeduldige Geldgeber sind. Es ist aber etwas ganz anderes, mit dem Amt einer Bundesministerin solche Hoffnungen zu wecken, und das ohne Hinweis, dass es derzeit noch nicht einmal Standorte, Baupläne oder laufende Genehmigungsverfahren gibt.

Auch wenn Marvel Fusion mit einem Team renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufwartet, gibt es am speziellen technischen Ansatz der Firma erhebliche Zweifel. Marvel Fusion will nicht Deuterium und Tritium fusionieren, sondern Protonen und Bor. Der Vorteil davon ist, dass Energie nicht in Form von Neutronen entsteht, was deutlich weniger Strahlung und damit weniger radioaktive Bauteile, die entsorgt werden müssen, bedeutet.

Technische Fragezeichen, unklare Finanzierung

Als Wissenschaftler von Marvel Fusion Anfang 2022 ihr technisches Konzept schriftlich präsentierten, schrieb der Fusionsforscher Karl Lackner, Emeritus des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik, dazu in einem wissenschaftlichen Kommentar aber, dass diese „neuen, optimistischen Vorhersagen“ nicht auf strengen Abschätzungen beruhten, sondern auf „Hochrechnungen weit jenseits anerkannter Grenzen der Gültigkeit“. Ihr Modell enthalte „intrinsische Widersprüche“. Grundsätzlicher kann man das Konzept, das binnen zehn Jahren Strom bringen soll, kaum anzweifeln. Marvel Fusion erklärte dazu auf Anfrage: „Wir begrüßen den wissenschaftlichen Austausch.“ Es werde in Kürze eine Replik geben.

Zudem ist die Finanzierung der Pläne des Unternehmens noch nicht gesichert. Zwar konnte Marvel Fusion nach eigener Auskunft bereits 60 Millionen Euro an privatem Kapital einwerben und einen Zuschuss des Freistaats Bayern für eine Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München in Höhe von 2, 5 Millionen Euro. Das ist ein stattlicher Erfolg, denn im Gegensatz zu den USA sind Risikokapitalgeber in Deutschland oft knausrig.

Doch allein für den Bau einer Demonstrationsanlage sind nach Angaben des Unternehmens zusätzliche 350 Millionen Euro nötig, also mehr als das Fünffache des bisher eingeworbenen Betrags.

Solarzellen in offener Landschaft glänzen in der Abendsonne.
Fusionsreaktor Sonne, Photovoltaikanlage in Bayern

„Focused Energy“ setzt zwar auf ein Verfahren, bei dem es keine grundsätzlichen technischen Einwände gibt, steht aber auch noch vor riesigen technischen Hürden und der offenen Frage der Finanzierung. Das Unternehmen will bald insgesamt 35 Millionen Euro Startkapital eingesammelt haben. Der Gesamtbedarf ist ein Vielfaches davon. Gut möglich, dass Investoren oder auch Regierungen die nötigen Milliardensummen zuschießen, wenn erfolgreich demonstriert wurde, dass nicht nur innerhalb des Experiments, sondern im Gesamtprozess mehr Energie herauskommt als hineingesteckt wird. Bis dahin ist es aber noch ein harter Weg. Die „schnelle Lernkurve“, von der Focused-Energy-Chef Roth spricht, muss steil nach oben schießen.

Forschungs- und Energiepolitik mit Risikofreude eines Start-ups?

Ambitionierte Zeitpläne und offene Finanzierungsfragen – das ist beides völlig normal für Start-ups. Denn für einen Zeitplan jenseits von zehn Jahren ist es schwierig, schnelllebiges Risikokapital einzusammeln. Investoren verlangen von Start-ups oft schon Zielerfüllung binnen drei Jahren.

Unmöglich ist es nicht, dass die Deutschen Ende der 2030er über den ersten Strom aus Fusionskraftwerken staunen können. Aber es gibt insgesamt sehr viele Unwägbarkeiten. Ist es da seriös, so zu tun, als könne man Kernfusion in der Energiepolitik bereits fest einplanen?

Kernfusion ist für die FDP ein wichtiges Terrain, um die von ihr immer geforderte „Technologieoffenheit“ zu demonstrieren. Zudem eignet sich die Technologie bestens, um in der Energiepolitik zu punkten, ohne rückwärtsgewandt auf Kernkraft und Kohle herumzureiten. Außerdem lassen sich mit dem Thema hervorragend die Grünen triggern.

Die Grünen werfen nämlich die Kernfusion mehr oder weniger in einen Topf mit der Kernkraft, was aus der Sache heraus kaum zu begründen ist. Sie sehen darin ein weiteres Symbol zentralistischer Energieversorgung, während die erneuerbare Energiewende für Dezentralität steht.

„Bei der Fusionsforschung handelt es sich um ein Fass ohne Boden, das Milliardensummen verschlingt ohne nennbare Erfolge hervorzubringen“, heißt es einem Antrag der Grünen im Bundestag von 2015. Kernfusion bedeute „einen Wiedereinstieg in atomare Großtechnologien, erzeugt erneut gesellschaftliche Abhängigkeit von oligopolen Versorgungsstrukturen und bietet das Risiko der Proliferation“, schrieb der damalige Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter 2021. Für Länder, die ihre Energieversorgung noch aufbauen, werde „die nur in riesigen Zentralanlagen entstehende Energie der Kernfusion finanziell unerschwinglich sein“.

Könnten übergroße Hoffnungen bei der Energiewende querschießen?

Mit dem Ansatz, neben Erneuerbaren Energien die Kernfusion voranzutreiben, setzt die FDP auf Versorgungssicherheit. Denn auch wenn die Erneuerbaren im Stromsektor trotz des politischen Widerwillens auch der Liberalen einen phänomenalen Aufstieg hingelegt haben, sind auf dem Weg zu „100 Prozent“ noch viele Fragen offen, inklusive der nötigen Speicherung. Wenn es wirklich neben erneuerbaren Energiequellen die Möglichkeit gäbe, rund um die Uhr in Fusionskraftwerken Strom oder vielleicht auch Wärme ohne CO₂ und stark radioaktiven Atommüll zu produzieren, würde das die Energiesicherheit deutlich erhöhen.

Doch die FDP muss sich nun überlegen, mit wieviel Risiko für die Energieversorgung ihr eigener Kurs einhergehen könnte. Denn zu große Hoffnungen könnten im schlimmsten Fall dazu führen, dass dringend nötige Investitionen in Erneuerbare hinausgezögert werden, weil Investoren auf die nahende Wundertechnologie Fusion setzen, sich das in Aussicht gestellte Potenzial nicht oder nicht rechtzeitig einlösen lässt.

Wofür sich die erstaunlichen technischen Möglichkeiten der Technik und die ehrgeizigen Versprechen der Start-up-Unternehmer deshalb nicht eignen, ist, bei der Energiewende jetzt querzuschießen und den Ausbau zu 100 Prozent erneuerbarer Energie auf der Grundlage von Hoffnungen zu verlangsamen. Zur „Technologieoffenheit“ gehört, was gerne übersehen wird, ja auch, vorhandene Technologien nach Kräften einzusetzen – wie das Einsammeln der Fusionsenergie, die vom Zentralgestirn unseres Sonnensystems auf der Erde eintrifft, mit Hightech-Modulen.

Der Physiker Markus Roth von „Focused Energy“ sieht die Kernfusion jedenfalls nicht als Alternative zu Erneuerbaren Energien, sondern als Ergänzung. „Der Ausbau der Erneuerbaren sollte meines Erachtens ungebremst voranschreiten“, sagt er.

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