Kernkraft und Krieg: „Risikopotenzial, das wir bisher nicht erlebt haben“
Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, hält die deutsche Atom-Debatte wegen des Ukraine-Kriegs für „befremdlich“. Er fordert, weltweit allen Atomanlagen Schutz gegen Kriegsrisiken abzuverlangen
In der Ukraine ist die Sicherheit von Atomanlagen durch den russischen Angriffskrieg bedroht. In Deutschland dagegen wird darüber diskutiert, im Dienst der Versorgungssicherheit mit Strom die drei verbleibenden Kernkraftwerke länger laufen zu lassen als bis Jahresende oder stillgelegte Reaktoren wieder zu aktivieren.
Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, hält die Debatte für falsch, weil die fraglichen Reaktoren gar nicht zur Verfügung stehen würden. Er fordert im Interview, die Sicherheitsanforderungen für Nuklearanlagen im Licht des Ukraine-Kriegs zu verschärfen und in Deutschland auch wegen Kriegsrisiken den oberirdisch lagernden Müll schnellstmöglich unter die Erde zu bringen.
Herr König, wie besorgt sind Sie über die Entwicklungen in der Ukraine?
König: Wir erleben erstmalig, dass in einem Krieg Nuklearanlagen unmittelbares Ziel von Angriffen sind – eine Situation, für die Anlagen weder bei uns noch in der Ukraine vollständig ausgelegt sind. Das ist sehr beunruhigend.
Es gab bisher noch keine ähnliche Situation?
Meines Wissens nicht, und die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat ja extra eine Regel geschaffen, um eine solche Situation unbedingt zu verhindern. Jeder bewaffnete Angriff auf Atomanlagen, die friedlichen Zwecken dienen, und jede Bedrohung für sie bedeutet einen Verstoß gegen die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, des Völkerrechts und der Satzung der IAEA. Diese Regeln hat Russland nun gebrochen. Die Szenarien, über die wir jetzt nachdenken müssen, entstammen der Sphäre der militärischen Nutzung von Kernenergie im Gegensatz zur zivilen Nutzung. Da wurde jetzt eine Schwelle überschritten.
Gibt es Strafen speziell für so einen Regelbruch?
Speziell für einen Angriff auf Nuklearanlagen ist mir keine Strafe bekannt, aber die internationale Gemeinschaft unternimmt ja viel, damit der russische Präsident Wladimir Putin einen hohen Preis für seinen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine bezahlt. Worüber wir aber natürlich nachdenken müssen ist, dass das aktuelle Geschehen jetzt weltweit in Sicherheitskonzepte und Auslegungen von Nuklearanlagen einbezogen werden muss.
Bisher wurden neben einer Kernforschungsanlage vor allem zwei Nuklearanlagen in den Krieg hineingezogen, das Gelände des früheren Kernkraftwerks Tschernobyl und die größte Reaktoranlage Europas in Saporischschja. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?
Das Entscheidende in Tschernobyl ist, dass dort Brennelemente aus dem letzten aktiven Reaktor noch immer in Wasser lagern, um abzuklingen – das ist die sogenannte Nasslagerung. Sie macht eine kontinuierliche Kühlung nötig, die nicht für längere Zeit unterbrochen werden sollte. Auch aus Gründen des Strahlenschutzes muss zur Abschirmung immer genügend Wasser im Becken bleiben.
In Tschernobyl war zwischenzeitlich die Stromversorgung unterbrochen. Wie gefährlich war die Situation dort in den vergangenen Tagen?
Nüchtern betrachtet bestand kein Risiko einer nuklearen Kettenreaktion, weil die Aktivität in den Nasslagern durch die lange Zeit inzwischen so reduziert ist, dass die Brennstäbe auch einige Wochen ohne aktive Kühlung auskommen könnten. Das Wort Tschernobyl setzt natürlich besondere Ängste frei. Wir haben aber jetzt eine ganz andere Situation als 1986, als dort ein Reaktor explodierte und Radioaktivität in große Höhen getragen und dadurch weit verteilt wurde. Für die Region kann eine unkontrollierte Freisetzung aus dem Nasslager aber immer noch gravierende Folgen haben.
Und in Saporischschja, wo ja Strom produziert wird?
Dort ist die Situation anders als derzeit in Tschernobyl, weil durch den Betrieb in den Reaktoren sehr viel Wärme erzeugt wird und es eine aktive Kühlung braucht. Die Risiken in Saporischschja kommen von den Reaktoren selbst, die jetzt unter extrem schwierigen Umständen betrieben werden. Zum Beispiel muss die Notstromversorgung immer gewährleistet sein.
Was ist mit dem Nuklearabfall in Saporischschja?
Der wird vorwiegend in Behältern trocken gelagert, die ein deutlich geringeres Risiko bergen als Nasslager, weil sie nicht fortlaufend gekühlt werden müssen. Die Behälter bieten zudem einen besseren mechanischen Schutz gegen Einwirkungen von Außen, wenn auch nicht gegen jede denkbare kriegerische Angriffsform.
Was bedeutet es für die Betriebsmannschaften, in einem kriegerischen Konflikt ein Atomkraftwerk steuern zu müssen?
Wir wissen nicht konkret, unter welchen Bedingungen das Personal dort tätig ist. In Tschernobyl musste das Personal in den ersten Kriegswochen ganz ohne Schichtwechsel weiterarbeiten. Der psychologische Stress, mitten in einem Krieg zu sein und um seine Familie zu fürchten, ist riesig. Für den Betrieb eines Kernkraftwerks sind aber ein kühler Kopf und maximale Aufmerksamkeit gefragt.
Könnte Russland das ukrainische Personal durch russisches Personal ersetzen?
Nein. Zwar haben die Anlagen in der Ukraine russisches Design, aber jede Nuklearanlage ist im Detail anders, und man muss für jede Anlage speziell geschult sein und Erfahrungen haben. Man kann das Personal nicht plötzlich vollständig auswechseln, wenn man einen sicheren Betrieb gewährleisten will.
Nachdem Russland die Regeln zum Umgang mit Nuklearanlagen gebrochen hat – wäre es sinnvoll, wenn jetzt zum Beispiel die Internationale Atomenergiebehörde intervenieren und statt Blauhelmen so etwas wie Gelbhelme entsenden könnte, technisch versierte Interventionstruppen, die Nuklearanlagen sichern oder eine Katastrophe verhindern können?
Das muss mit fachlicher Unterstützung der IAEA insbesondere die internationale Gemeinschaft beantworten, sie sind jetzt dafür zuständig, die Situation zu bewerten und die Konsequenzen zu ziehen. Aber klar ist: Wir haben es mit einem Risikopotential zu tun, das wir bisher in der friedlichen Nutzung der Atomenergie nicht erlebt haben. Das verlangt eine nüchterne Bewertung und neues Nachdenken aller, die in diesem Sektor der Energieerzeugung unterwegs sind. Ich gehe aber davon aus, dass trotz aller Irrationalität Russland kein Interesse daran hat, jetzt absichtlich eine Nuklearkatastrophe herbeizuführen.
Kann Deutschland gerade der Ukraine in Nuklearfragen helfen?
Nicht direkt, denn die Sicherheit in kerntechnischen Anlagen ist zunächst nationale Angelegenheit. Zudem ist der Betrieb der Anlagen vom ukrainischen Personal abhängig. Der Bund steht aber mit allem bereit, was wir anbieten und mit zivilen Mitteln tun können, wenn Hilfe angefragt würde.
In Deutschland läuft die Energiedebatte auf Hochtouren und gerade in den vergangenen Tagen haben sich wieder die Forderungen gemehrt, die letzten drei deutschen Kernkraftwerke nicht am Ende des Jahres stillzulegen oder sogar abgeschaltete Anlagen wieder in Betrieb zu nehmen. Wie beurteilen Sie das?
Es ist sehr befremdlich, dass ausgerechnet in einer Situation, in der uns die Gefahren von Kernkraftwerken durch einen Krieg brutal aufgezeigt werden, ein Wiedereinstieg gefordert wird. Das ist für mich intellektuell schwer nachvollziehbar. Und was auffällt: Die Debatte wird insbesondere von denjenigen geführt, die seit mehreren Jahren versuchen, neue Kernkraftwerke an den Markt zu bringen.
Aber ist es nicht naheliegend zu sagen, in so einer akuten Krise lassen wir Anlagen, die ohne russische Energieträger Strom liefern, länger laufen?
Die gesamte Kernenergienutzung beruht auf einer wichtigen Trennung, nämlich von energiewirtschaftlichen Fragen und Sicherheitsfragen. Es darf nie dazu kommen, dass Sicherheitsfragen energiewirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet werden. Also, kurz gefasst, Sicherheit steht an erster Stelle.
Warum ist das jetzt so relevant?
Weil bei uns seit zehn Jahren alle Anforderungen auf diese gesetzlich geregelten Stilllegungen ausgerichtet wurden. Die Betreiber haben in Absprache mit den Behörden bestimmte Investitionen nicht mehr getätigt und der Rhythmus von Sicherheitsüberprüfungen wurde an den Fahrplan für den Ausstieg angepasst. Das Personal der Anlagen wurde entsprechend abgeschmolzen, die Sachverständigenorganisationen haben sich mit ihren Planungen auf dieses Datum eingestellt. Da kann man nicht einfach sagen, jetzt machen wir doch wieder alles anders. Das ist schlichtweg unrealistisch und die Betreiber wollen es – zumindest auf eigene Kosten – auch gar nicht.
Auch kleine Änderungen am Zeitplan gingen nicht?
Der detaillierte Plan ist, die Sicherheit der Anlagen bis zum Abschaltdatum zu gewährleisten, aber eben nicht länger. Bei einer Laufzeitverlängerung wären die Betreiber gezwungen, zuerst eine Regeluntersuchung durchzuführen, die Periodische Sicherheitsüberprüfung, kurz PSÜ. Diese Prüfungen wurden zuletzt wegen des Ausstiegs nicht mehr vorgenommen, wären dann sofort fällig. Und es kämen auf die Betreiber weitere Fragen zu, wie die der Brennstoffversorgung.
Mit welcher Folge?
Die Anlagen stünden voraussichtlich erst mal für viele Monate still, bis die Sicherheitsüberprüfung mit positivem Ausgang abgeschlossen wäre.
Aber vielleicht wäre es ein Mehr an Versorgungssicherheit wert, diesen Weg zu gehen?
Der Preis wäre hoch – zu hoch, wie ich meine. Die Politik müsste vollständig die Kosten und die Risiken übernehmen, das haben die Betreiber der Anlagen schon klargestellt. Und es würde ein vor dem Hintergrund der Sicherheitsrisiken entstandener gesellschaftlicher Konsens über den Ausstieg aufgekündigt, der unter schwierigen Bedingungen entstanden ist. Dieser Konsens ist die Rechtfertigung dafür, dass wir jetzt im ganzen Bundesgebiet nach einer Endlagerstätte für den hochradioaktiven Abfall suchen können, mit einer definierten Menge an Müll, übrigens rund 30.000 Kubikmeter Atomabfälle, 1900 Castor-Behälter, sicher endzulagern für eine Million Jahre.
Wieso wäre der Konsens gefährdet?
Die Vereinbarung zum Atomausstieg geht mit dem Versprechen einher, dass ein Endlager nicht dazu dient, den Weiterbetrieb oder gar den Neubau von Kernkraftwerken zu ermöglichen. Diese Verbindung kann man nicht einfach auflösen oder ignorieren. Mit einem Weiterbetrieb von Kernkraftwerken würde die Endlagersuche im Kern getroffen.
Vielleicht wäre mehr Unabhängigkeit von russischem Gas auch diesen Preis wert?
Aber genau die erreichen wir so nicht, denn die Kraftwerke stünden erst mal gar nicht zur Verfügung. Eine Laufzeitverlängerung würde uns nicht von russischem Erdgas unabhängiger machen, da Gas in Deutschland nur zu einem kleinen Teil zur Stromproduktion eingesetzt wird. Zudem ist Kernkraftnutzung von Uran abhängig, zu dessen wichtigsten Lieferanten in Europa Russland zählt, ebenso Kasachstan, wo ein Regime die Bevölkerung brutal unterdrückt. Brennelemente kommen auch direkt aus Russland. Im letzten Jahr haben sechs Atomkraftwerke mit 12 Prozent zur Stromversorgung Deutschlands beigetragen; jetzt sind noch drei Anlagen in Betrieb. Der riesige Aufwand, den ganzen nuklearen Sicherheitsapparat wieder anzuwerfen, würde sich für drei Kernkraftwerke nicht lohnen.
Sondern für was?
Sondern nur dann, wenn man wieder über einen Ausbau der Kernenergie, gar den Neubau von Anlagen, nachdenken würde. Wir stehen gerade vor der Frage, welchen Preis wir insgesamt für die Absicherung unseres Wohlstands als selbstverständlich ansehen.
Manche scheinen zu einem Aufweichen von Sicherheitsstandards bereit zu sein.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Kalkar-Urteil sehr hohe Maßstäbe für die Sicherheit geschaffen, es wird immer der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik verlangt. Wenn man da jetzt die Tür zur Kernkraft wieder aufmacht, wird das sehr teuer und das Geld wird an anderer Stelle fehlen – nämlich beim Aufbau einer verlässlichen Energieversorgung mit Erneuerbaren, mit denen wir unsere Ziele von Klimaschutz und Unabhängigkeit von Russland deutlich sicherer, schneller und billiger schaffen würden.
Also sollte die Atomdebatte tabu sein?
Im Gegenteil, wir müssen diese Debatte führen, weil ganz offenkundig das Bewusstsein für die Gefahren der Kernenergienutzung verblasst ist und es die Neigung gibt, für kurzfristige Vorteile ganz zentrale Sicherheitsstandards aufzugeben. Bundesfinanzminister Christian Lindner hat kürzlich im Bundestag gesagt, Erneuerbare Energien seien Freiheitsenergien. Man kann umgekehrt Kerntechnologie als Bedrohungsenergien bezeichnen – von der umwelt- und gesundheitsschädlichen Förderung des Urans über die Risiken, wie wir sie in Fukushima und jetzt in der Ukraine erleben, die extrem hohen Folgekosten dieser Technik, bis zu fehlender Generationengerechtigkeit im Umgang mit dem Atommüll.
Die EU-Kommission hat zuletzt in der sogenannten Taxonomie, also der Liste der Energiequellen, die für den Klimaschutz als förderwürdig gelten, die Kernkraft mit eingeschlossen. Bringt Sie das nicht zum Nachdenken?
Da ist die Situation in jedem Land anders. Fakt ist, dass Kernenergie sich in allen Ländern nur mit massiver finanzieller Subvention rechnet. In Deutschland hat sich die Bundesregierung klar dazu bekannt, dass die Kernkraft nicht als nachhaltige Energiequelle anzusehen ist. Ich gehe davon aus, dass bei den Anhörungen im EU-Parlament jetzt im Licht der Ereignisse in der Ukraine die Frage der Risiken nochmal stärker in den Vordergrund rückt. Die Argumente ungeklärter Entsorgungsrisiken und von militärischer Proliferation werden jetzt sicher prominenter diskutiert. Und von Österreich gibt es ja auch die Ankündigung einer Klage.
Zwingen uns die Ereignisse in der Ukraine, die man noch vor kurzem für höchst unwahrscheinlich gehalten hätte, zum Umdenken auch bei Sicherheitsregeln für deutsche Atommüll-Lager?
Ich habe schon unmittelbar nach dem 11. September 2001, damals als Präsident des Bundesamts für Strahlenschutz, von den Betreibern der Zwischenlager Sicherheitsnachweise eingefordert, die den Angriff mit großen Verkehrsmaschinen samt Kerosin betrachten. Zudem sind im Laufe der Zeit Auflagen erteilt worden, alle oberirdischen Zwischenlager von hochradioaktiven Abfällen gegen terroristische Angriffe nachzurüsten – zu härten, wie das genannt wird. In Deutschland sind wir also für erhebliche Einwirkungen von Aussen gut vorbereitet. Details unterliegen der Geheimhaltung, aber eines ist klar: Die Zwischenlager müssen immer überprüft werden, auch darauf, ob neue Gefährdungsszenarien existieren. Dem müssen wir uns stellen.
Und wie sieht es mit der Endlagerung aus?
Die derzeitige Situation unterstreicht eines: Dass wir keine Zeit verlieren dürfen, die Atomabfälle so bald wie möglich aus den 16 oberirdischen Zwischenlagern in Deutschland in ein sicheres unterirdisches Lager zu bringen. Erst wenn diese Stoffe dauerhaft in einer geologischen Schicht von der Umwelt abgeschlossen sind, ist damit auch weitgehend die Gefahr von Missbrauch und Risiko ausgeschlossen. Es ist nötig, diese ganze Technologie so schnell wie möglich sicher zu beenden und ihre Überreste im Untergrund zu verwahren. Umfassende Sicherheit gibt nur ein Endlager, ohne den Zugriff von Menschen aus welcher Motivation auch immer.
Kann man den Prozess hin zu einem deutschen Endlager beschleunigen?
Ich warte jedenfalls darauf, dass das damit betraute Unternehmen jetzt zügig einen belastbaren Zeitplan für die Standortsuche vorlegt. Das Endlagersuchgesetz schreibt vor, dass angestrebt wird, 2031 einen Standort zu benennen. Das ist nach den bisher vorliegenden Ergebnissen offenbar eine sehr ehrgeizige Zielstellung – und dann kann man frühestens 2050 damit rechnen, dass die ersten hochradioaktiven Abfälle eingelagert werden können. Es wird anschließend viel Zeit benötigt, bis der Inhalt aller 1900 Castor-Behälter unter der Erde ist. Das verdeutlicht, welche hohen Risiken und Folgekosten uns die Umstellung unserer Energieversorgung auf Solar- und Windenergie erspart.