Artensterben: Drei Botschaften des Weltbiodiversitätsrats und ein Hoffnungsschimmer
Neue Studie erhöht Schätzung, welcher Anteil der Tier- und Pflanzenwelt durch Naturzerstörung verschwinden könnte. Wissenschaft warnt vor Eskalation der Ernährungskrise und massiver Verarmung, fordert Schulterschluss mit Indigenen
Diese Analyse hat es in sich: Das Netz des Lebens auf dem Planeten ist wahrscheinlich noch viel löchriger als bereits vermutet. Deutlich mehr Tier-, Pflanzen- und Pilzarten könnten vom Aussterben bedroht sein als bisher angenommen. Das ist das Ergebnis einer neuen Befragung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt unter Leitung der Universität Minnesota. Beteiligt war auch das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv). Den mehr als 3000 befragten Expertinnen und Experten zufolge könnte jede dritte Art vor dem Aussterben stehen oder bereits in den vergangenen 500 Jahren komplett von der Erde verschwunden sein.
Der Weltbiodiversitätsrat IPBES war in seinem weltweit beachteten Bericht zum Zustand der Natur 2019 noch davon ausgegangen, dass eine Million Arten – jede achte Art – in diesem Jahrhundert aussterben könnte. Die neue Umfrage-Studie aus Minnesota erhöht diese Schätzung nun auf fast drei Millionen Arten.
Mit dem offenbar noch stärkeren Verlust der Biodiversität wird auch die Fähigkeit der Natur weiter geschwächt, für den Menschen überlebenswichtige Produkte wie sauberes Wasser, Nahrung und pharmazeutische Wirkstoffe bereitzustellen oder durch funktionierende Ökosysteme Treibhausgase abzubauen und zu speichern.
Vor allem die natürlichen Quellen sauberen Wassers sind bedroht
Grund für die noch alarmierendere Einschätzung des Zustands der Natur ist nach Angaben der Autorinnen und Autoren, dass für die neue Bewertung deutlich mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Staaten des globalen Südens nach ihrer Einschätzung gefragt wurden, und dass bisher nur wenig erforschte Artengruppen in die Analyse einbezogen wurden. Bisherige Auswertungen stützen sich demnach viel stärker auf gut erforschte Regionen wie Europa und Nordamerika und fokussierten sich vor allem auf bekannte Artengruppen.
Bisher wurde zum Beispiel vor allem auf Grundlage von Daten aus Europa geschätzt, dass etwa zehn Prozent der Insektenarten vom Aussterben bedroht sein könnten. Die neue Umfrage bezieht auch Hunderte von Insektenexperten und -expertinnen aus der ganzen Welt ein, und kommt zu einem gemittelten Anteil von 30 Prozent gefährdeter Arten, sagt Studien-Erstautor Forest Isbell von der Universität Minnesota.
Experten, die sich mit Süßwasserökosystemen, Amphibien, Säugetieren und Süßwasserpflanzen beschäftigen, schätzen den Verlust der biologischen Vielfalt der Studie zufolge am höchsten ein. Am stärksten bedroht sei die Artenvielfalt in tropischen und subtropischen Lebensräumen wie Flüssen, Feuchtgebieten und Wäldern, heißt es in der Studie. Dies ist umso beunruhigender, weil diese Ökosysteme eine zentrale Rolle dabei spielen, Menschen mit Trinkwasser zu versorgen und ihre Zerstörung auch das Risiko neuer Pandemien erhöht.
Wird der UN-Naturschutzgipfel liefern?
Die neuen Schätzungen lassen die weltweiten Bemühungen, die Vielfalt des Lebens auf der Erde zu schützen, noch dramatischer und dringlicher erscheinen. Im Dezember sollen bei einem UN-Gipfel in Montreal global gültige Ziele für den Schutz der Biodiversität bis 2030 beschlossen und anschließend umgesetzt werden. Doch während UN-Klimagipfel inzwischen auch im Vorfeld eine gewisse Aufmerksamkeit aus Politik und Wirtschaft auf sich ziehen, ist das bei den weltpolitischen Entscheidungen über Naturschutz noch lange nicht so.
Die Naturkrise sei in der öffentlichen Wahrnehmung dort, wo die Klimakrise vor acht Jahren war, diagnostiziert Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne). Damals wurde die Klimakrise als ein Randthema behandelt, das nur ab und an Aufmerksamkeit bekam. Durch den Druck von Wissenschaft und Bewegungen wie Fridays for Future ist „Klima“ inzwischen immerhin selbstverständlicher Teil politischer Statements geworden. Warnungen der Wissenschaft durch den Weltklimarat IPCC schaffen es in die Topnachrichten und landen zusammengefasst auch auf den Smartphones und Schreibtischen von Entscheiderinnen und Entscheidern in Politik und Wirtschaft.
Das Kürzel „IPBES“ dagegen, das für das IPCC-Äquivalent für die Naturkrise, den Weltbiodiversitätsrat steht, ist weitgehend unbekannt. Der Zusammenhang zwischen schrumpfender Biodiversität und Wassermangel, Hunger und Hitze, unter denen akut Hunderte Millionen Menschen leiden, wird von Staats- und Regierungschefs sowie Wirtschaftslenkern aber so gut wie nie gezogen. Dass das World Economic Forum den Naturzerstörung zu den Top-Risiken weltweit zählt, führt im Gegensatz zu Kursveränderungen an den Börsen und Inflation in Chefetagen von Unternehmen nicht zu Krisensitzungen.
Es geht nicht um Bambi oder Walgesang, sondern um Existenzfragen
Auf das weit verbreitete Desinteresse gegenüber dem Verlust der menschlichen Lebensgrundlagen reagieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrats nun mit drei neu formulierten Botschaften, die sie in den vergangenen Tagen in Form neuer Statusberichte – sogenannten Assessment Reports – in Umlauf gebracht haben.
Um Entscheidern die Augen dafür zu öffnen, dass es bei Biodiversität nicht um Bambi und Walgesang geht, sondern um „Existenzfragen“, wie IPBES-Generalsekretärin Anne Larigauderie betont, wird darin nun die Verbindung zu den aktuellen Weltkrisen hervorgehoben. Die IPBES-Experten warnen, dass durch das Artensterben auch die physische und ökonomische Existenz von Milliarden Menschen gefährdet sei.
Die Wissenschaftler unternehmen zudem einen neuerlichen Anlauf, die Naturkrise in die Sprache der Ökonomie zu übersetzen, um die Schäden durch Naturzerstörung für jene greifbar zu machen, die vor allem in Kategorien von Kosten und Rendite denken. Und weil unklar ist, ob Spitzenpolitiker und Firmenchefs auf diese Botschaften reagieren werden, suchen die Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrat zugleich den Schulterschluss mit jenen Menschen, die noch am nächsten an der Natur leben und im Zweifelsfall bereit sind, sie wehrhaft zu verteidigen, auch gegen übermächtige Gegner – den weltweit mehr als 400 Millionen Menschen in indigenen Gemeinschaften.
Botschaft 1: Verlust von Biodiversität verschärft die Ernährungskrise
Dass infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine Weizenexporte entfallen und für Millionen Menschen Grundnahrungsmittel zu teuer werden oder nicht zur Verfügung stehen, beunruhigt die Politik akut. Schon seit langem weisen Biodiversitätsforscher darauf hin, dass schrumpfende Naturvielfalt auch der Landwirtschaft schaden kann. Wenn zum Beispiel die Mikroorganismen drastisch zurückgehen, die den Boden von Äckern und Weiden fruchtbar machen, wie eine neue Studie dokumentiert, oder mangelnde Vegetation rund um Felder die Erosion verstärkt, gerät die Nahrungsproduktion insgesamt in Gefahr.
Im neuen Bericht des Weltbiodiversitätsrats steht diese Warnung im Vordergrund. Das anhaltende Artensterben und die Übernutzung von Meeren, Wäldern und anderen Lebensräumen, die Ernährung und die Gesundheit von Milliarden Menschen auf der Erde bedroht. In dem Bericht warnen weltweit führende Experten aus Natur- und Sozialwissenschaften vor existenziellen Folgen des Naturverlusts für Menschen auf allen Erdteilen.
Dem Report zufolge werden um den Globus rund 50.000 verschiedene Arten – Tiere, Pflanzen, Pilze und andere lebende Organismen – für überlebenswichtige Zwecke genutzt. Allein 10.000 Arten werden unmittelbar zur Ernährung verwendet. „Milliarden von Menschen in Industrie- und Entwicklungsländern profitieren täglich von der Nutzung wild lebender Arten als Nahrungsmittel, Energiequelle, Werkstoff, Medizin, Erholungsraum, Inspiration und vielen anderen lebenswichtigen Beiträgen zum menschlichen Wohlbefinden“, heißt es in dem „Statusbericht zur nachhaltigen Nutzung wild lebender Arten“.
Auch im Westen abhängig von wild lebenden Arten
Vor allem die Landbevölkerung in Entwicklungsländern sei bereits stark vom Artenrückgang durch eine nicht nachhaltige Nutzung der Natur betroffen, schreiben die Experten.
Ihre natürlichen Existenzgrundlagen seien durch nicht nachhaltige Nutzungen der Natur, etwa durch die industrielle Ausbeutung der Meere durch die Fischfangflotten reicher Staaten und aufstrebender Schwellenländer oder profitgetriebener Kahlschläge in den Wäldern der Erde, akut bedroht, warnen die Experten. So zeigten neuere Analysen, dass mehr als ein Drittel der weltweiten Fischbestände überfischt würden. Mehr als jede zehnte Baumart der Erde werde zu stark abgeholzt. Weil viele Menschen in Entwicklungsländern oft keine andere Wahl hätten, seien sie gezwungen, ohnehin bereits gefährdete Arten weiter übermäßig stark auszubeuten, und verschärften die Krise so weiter, beschreiben die Experten das Dilemma für Hunderte Millionen Menschen.
Die regelmäßige Nutzung von Arten sei aber nicht nur im globalen Süden existenziell, hebt der Report hervor. „Von den Fischen, die wir essen, bis hin zu Arzneimitteln, Kosmetika und Freizeitgestaltung – die Nutzung wild lebender Arten ist viel weiter verbreitet, als den meisten Menschen bewusst ist“, sagt Emery.
Botschaft 2: Preisschilder für die Natur
Damit die Bedrohungen durch Naturzerstörung greifbarer werden, nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Biodiversitätsrats nun verstärkt die Sprache der Ökonomie. Denn ein vorangegangener Versuch, die „Ökonomie der Ökosystemdienstleistungen“ unter Leitung des früheren Investmentmanagers Pavan Sukdev analysieren zu lassen, hat das geforderte Umdenken in Wirtschaftswissenschaften und Unternehmen noch nicht herbeigeführt.nDie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrats plädieren im zweiten dieser Tage veröffentlichten Report für eine Werte-Debatte über Leistungen der Natur. Politik und Wirtschaft müssten auch immaterielle Naturleistungen in ihre Entscheidungen einbeziehen, fordern sie.
Als zweiten großen Anlauf, Ökonomen wachzurütteln, analysiert IPBES die Bedeutung der Naturnutzung als Einkommensquelle für Abermillionen Menschen: Bäume aus natürlichem Anbau machen zwei Drittel des weltweiten Industrie-Rundholzes aus; der Handel mit Wildpflanzen, Algen und Pilzen ist eine Milliarden-Dollar-Industrie; und auch die indirekte Nutzung von Tieren durch touristische Safaris, Birdwatching-Reisen und Fototouren sei mittlerweile ein großer Markt: Acht Milliarden Besucher hätten den Schutzgebieten der Erde vor der Corona-Pandemie pro Jahr 600 Milliarden Dollar eingebracht. In einem eigenen Report hatte der Weltbiodiversitätsrat bereits früher den Wert von Bestäubungsleistungen durch Insekten für die Lebensmittelproduktion ebenfalls auf bis zu 600 Milliarden Dollar pro Jahr beziffert.
Was keinen Preis hat, ist auch nichts wert?
„Wenn wir die Ursachen der nicht nachhaltigen Nutzung angehen und, wo immer möglich, diese Trends umkehren, hilft das den Arten und den Menschen, die von ihnen abhängen“, heißt es in dem Bericht. Neben Klimawandel und einer oft durch die Nachfrage aus reichen Ländern befeuerten zu intensiven Landnutzung, machen die Experten auch den illegalen Handel mit Wildtieren als eine wesentliche Quelle für den Verlust von Artenvielfalt und damit nachhaltigen Einkommensmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung aus. Der weltweite Handel mit Wildtieren und -pflanzen boomt seit vielen Jahren, auch der illegale. Illegaler Holzeinschlag, Piratenfischerei und der Fang geschützter Wildtiere haben sich neben Menschen- und Drogenhandel zu den weltweit größten verbotenen Handelsaktivitäten entwickelt.
200 Milliarden Dollar werden damit in jedem Jahr schätzungsweise umgesetzt. In ihrem Report entwerfen die Experten auch Szenarien für eine nachhaltigere Nutzung wildlebender Arten. Hier werden beispielsweise die Abschaffung naturschädlicher Subventionen in der Forst- und Landwirtschaft und nachhaltig gestaltete Lieferketten als Beiträge für ein gesünderes Gleichgewicht aus Schutz und Nutzung der Natur genannt. Zertifizierungen und Öko-Siegel könnten einen Beitrag zu einer einträglicheren und gleichzeitig naturschonenderen Holzgewinnung leisten.
Die ökonomische Logik liegt auf der Hand: Was keinen Preis hat, ist auch nichts wert. Nach dieser verbreiteten Annahme sind auch von der Natur zur Verfügung gestellte „Güter“ wie Regen, saubere Luft oder auch Wohlbefinden oft ökonomisch gesehen „wertlos“ – und entsprechend sorglos wird damit umgegangen. Diese Sicht passt zunehmend nicht mehr in eine Zeit, in der Pandemie, Klimawandel und die fortschreitende Naturzerstörung auf breiter Front einen neuen Blick auf die Bedeutung materieller wie immaterieller natürlicher Ressourcen für das Überleben der Menschheit in eröffnet haben.
Viele verschiedene Preisschilder
Wissenschaftler und einige Politiker wie der Chef des UN-Entwicklungsprogramms, Achim Steiner, plädieren deshalb seit längerem dafür, bestimmten Naturwerten ein Preisschild umzuhängen. Prominentes Beispiel ist die Natur-Dienstleistung der Insektenbestäubung für die Lebensmittelproduktion. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat den Wert für diese sogenannte Ökosystemleistung bereits vor einigen Jahren auf bis zu 600 Milliarden Dollar pro Jahr beziffert. Jetzt gehen die Forscher des UN-Gremiums einen großen Schritt weiter: Im Report zu „Werten und Bewertung der Natur“ plädieren sie dafür, Naturwerten nicht nur ein Preisschild umzuhängen, sondern viele verschiedene.
Das Team aus 85 Forscherinnen und Forschern aus Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften hat in seiner vierjährigen Arbeit für den neuen Report die Nichtberücksichtigung vieler von der Natur gestifteter Werte im politischen und wirtschaftlichen Handeln als eine Hauptursache für die weltweite ökologische Krise und damit als Gefahr für das Überleben der Menschheit ausgemacht.
„Die biologische Vielfalt und mit ihr die Leistungen der Natur für den Menschen werden heute schneller zerstört als je zuvor in der Geschichte der Menschheit“, sagt die IPBES-Vorsitzende Ana Maria Hernandez Salgar. „Das liegt vor allem daran, dass unser derzeitiger Ansatz für politische und wirtschaftliche Entscheidungen die Vielfalt der Werte der Natur nicht ausreichend berücksichtigt.“ Die vorherrschende Konzentration von Politik und Wirtschaft auf beständiges Wachstum und kurzfristige Gewinne stütze sich auf verengte makroökonomische Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt, kritisiert der Rat.
Es gibt nicht nur einen Geldwert, sondern auch einen Eigenwert der Natur
Die von der Natur gestifteten Werte würden darin nur dann berücksichtigt, wenn sie sich etwa als Kosten für Rohstoffe in den Märkten widerspiegelten. Das lasse aber vielfältigste Natur-Werte außer acht, die nicht minder bedeutsam seien als Produkte oder Rohstoffe. Um den Planeten auf einen Kurs zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung zu bringen, sei deshalb ein Umdenken nötig, das auch „nicht-marktbezogene“ Beiträge der Natur in Wert setze, fordern die Expertinnen und Experten.
Um für sie Preisschilder zu ermitteln, verweist der Rat auf mehr als 50 komplexe Bewertungsmodelle, die die unterschiedlichen Perspektiven einbeziehen. In eine Kosten-Nutzen-Berechnung für Entscheidungen über Markt-Investitionen, große und kleine Infrastrukturprojekte oder auch gesellschafts- und umweltpolitische Zielsetzungen könnten je nach Modell etwa Natur-Beiträge zur Klimaregulierung, zum menschlichen Wohlbefinden oder zur kulturellen und spirituellen Identität „eingepreist“ werden. Auch intrinsischen Rechten, wie das Recht von Fischen in einem Fluss, unabhängig von menschlichen Bedürfnissen zu leben, könne ein Wert zugewiesen werden.
Neudefinition von Lebensqualität nötig
Konkret würde eine Kombination unterschiedlicher Wertesysteme beispielsweise für ein großes Entwicklungsprojekt in einem Regenwaldgebiet eine Abwägung zwischen den wirtschaftlichen Vorteilen wie Gewinn und der Schaffung von Arbeitsplätzen einerseits sowie intrinsischen Werten wie dem Verlust von Arten und Werten der kulturellen Identität etwa durch die mögliche Zerstörung von Kulturstätten andererseits bedeuten.
„Die Natur in all ihrer Vielfalt ist das größte Gut, das sich die Menschheit nur wünschen kann, und doch wird ihr wahrer Wert bei der Entscheidungsfindung oft außer Acht gelassen“, sagt die Chefin des UN-Umweltprogramms, Inger Andersen, in Bonn. Der IPBES-Bericht hält aber auch eine gute Nachricht bereit. So sehr der verengte Blick auf das, was als wertvoll angesehen wird, die globale Öko-Krise befeuert habe, so sehr könne eine Weitung der Perspektiven auch helfen, sie zu beenden, schreiben die Experten. Das ist allerdings keine kleine Aufgabe: „Dies bedeutet eine Neudefinition von ‚Entwicklung‘ und 'guter Lebensqualität“, folgern sie.
Botschaft 3: Indigene anerkennen, mobilisieren und stärken
Während unsicher ist, ob Entscheider in Politik und Wirtschaft diese Botschaften verstehen und berücksichtigen, sind sich die Expertinnen und Experten des Weltbiodiversitätsrats mit einer anderen Gruppe sehr einig – den Indigenen. Wurden sie auch von der Wissenschaft bisher vielfach von oben herab behandelt, ändert sich das nun. Der Weltbiodiversitätsrat preist die Rolle Indigene für die Erhaltung der Lebensvielfalt in den höchsten Tönen und sucht nun erstmals aktiv den Schulterschluss.
Denn betroffen vom Raubbau an der Natur und ihren wilden Arten sind in erster Linie die weltweit 476 Millionen indigenen und traditionell lebenden Menschen: Sie sind direkt auf den Fortbestand der wilden Arten angewiesen. Ihre Territorien nehmen fast ein Drittel unseres Planeten ein. Sie beinhalten die stabilsten und gesündesten Ökosystemen der Erde. Mindestens 36 Prozent davon sind als Schlüsselgebiete der biologischen Vielfalt (KBA) kategorisiert.
Doch Existenz dieser Menschen und ihrer Territorien sind mindestens genauso gefährdet wie die der wilden Arten: Durch illegale Landnahme, Bergbau, Abholzung und eben auch durch die Plünderung der Natur. „70 Prozent der Armen der Welt sind direkt von Wildarten abhängig. Einer von fünf Menschen ist für seine Ernährung und sein Einkommen auf Wildpflanzen, Algen und Pilze angewiesen; 2, 4 Milliarden sind zum Kochen auf Brennholz angewiesen, und etwa 90 Prozent der 120 Millionen Menschen, die in der Fangfischerei arbeiten, werden von der Kleinfischerei unterstützt“, sagt IPBES-Expertin Marla Emery.
Andersherum ist die Entwaldung in indigenen Gebieten besonders dort geringer, wo Indigene in Ruhe leben können, wo laut Bericht „Landbesitz, Kontinuität von Wissen und Sprachen sowie alternative Lebensgrundlagen gesichert sind.“ Demnach müssen zuallererst die Besitzrechte indigener und traditioneller Gemeinschaften gesichert werden. Damit lässt sich nicht nur die Armut bekämpfen, sondern es lassen sich auch günstige Bedingungen für eine nachhaltige Nutzung wildlebender Arten schaffen.
Detailliertes Wissen über die wilden Arten
Es ist gerade das sehr detaillierte Wissen der Indigenen, so hebt der IPBES-Bericht vor, von dem die Wissenschaft in punkto Nachhaltigkeit noch viel lernen kann. „Wissenschaft hat auch Limitationen, “ sagt Unai Pascual, Forscher für Ökologische Wirtschaft und Vorsitzender des zweiten Berichts „Values Assessment“. „Wir müssen andere Wissenssysteme miteinbeziehen. Wir müssen demütig sein.“
Das ist für Marla Emery das zweitwichtigste Ergebnis der Studie. „Die indigene Verwaltung der Biodiversität ist oft in lokales Wissen, Praktiken und Spiritualität eingebettet“, sagt die Geographin, die selbst häufig mit indigenen und lokalen Gemeinschaften zusammenarbeitet. „Die nachhaltige Nutzung von Wildarten ist von zentraler Bedeutung für die Identität und Existenz vieler indigener Völker und lokaler Gemeinschaften.“
Zwar unterscheiden sich ihre Praktiken von Kultur zu Kultur, doch liegen darunter gemeinsame Werte, wie der Respekt vor der Natur, die sogenannte „Reziprozität“, also die Verpflichtung für das, was genommen wird, auch etwas zu geben. Außerdem vermeiden sie Verschwendung und sorgen für eine faire und gerechte Verteilung der Ernte.
Beispiel Reis: Man nimmt nicht alles
Als Beispiel führt Emery indigene Menschen in der Region der Großen Seen von Nordamerika an. Dort gebe es den wilden Reis, der in stehenden Gewässern wächst. Er sei ein hochgradig nahrhaftes Grundnahrungsmittel und mit der überlieferten Ursprungsgeschichte verbunden, sagt Marla Emery. Es gehe darum „die Lebenszyklen verstehen, um sie nicht zu zerstören“. Wenn man den wilden Reis zu früh ernte, werde dieser Zyklus zerstört, wenn man zu viel erntet, wirst man ihn kaputt machen. Traditionelle Erntemethoden achteten auch darauf, dass ein guter Teil der Samen wieder ins Wasser fällt, damit er sich neu aussähen kann. „Man nimmt nicht alles, man hinterlässt etwas für andere Lebewesen, für die Enten…“, erklärt die Geographin.
Das Wissen der indigenen Völker könne die nachhaltige Nutzung der Natur Arten stärken. Dazu müssten auch die Begriffe „Entwicklung“ und „gute Lebensqualität“ neu definiert werden.
Bisher stehen bei politischen Entscheidungen überwiegend marktbasierte Instrumentalwerte der Natur – wie zum Beispiel der Preis des Goldes oder die Gewinne aus einem weiteren Sojafeld – im Vordergrund. Selten werden die sozialen und ökologischen Schäden in die Rechnung miteinbezogen. Ein Beispiel dafür gibt der „Illegal Gold Mining Impact Calculator“: Er beziffert die verheerenden sozio-ökologischen Auswirkungen des illegalen Goldabbaus im Gebiet der Yanomami Brasiliens.
Offen bleibt die Frage, wie sich diese Erkenntnisse und die neuen Werte gegen marktwirtschaftliche und zum Teil illegale Aktivitäten durchsetzen sollten. Denn es fehle, wie es im Bericht etwas abstrakt heißt, „der Einsatz von Bewertungsmethoden, um Machtasymmetrien zwischen den Interessengruppen anzugehen und die vielfältigen Werte der Natur transparent in die Politikgestaltung einzubetten.“
Vertreter der indigenen Gemeinschaften aus Amazonien und Indonesien begrüßen die Schlussfolgerungen des Weltbiodiversitätsrates und fordern die Verhandlungsführer der UN-Umweltgipfel Ende 2022 auf, die Empfehlungen ernst zu nehmen.
Indigene laden zum Investieren in ihre Lebensweise ein
„Kein Versuch, die biologische Vielfalt zu erhalten, wird erfolgreich sein, ohne unsere Werte und unsere Weltsicht zu unterstützen“, sagt Rukka Sombolinggi aus Torajan, dem Hochland von Sulawesi in Indonesien. Sie ist Generalsekretärin der Allianz Indigener Völker des Archipels (AMAN), der weltweit größten nationalen Organisation indigener Völker. Sombolinggi unterstreicht die Bedeutung des indigenen Beitrags zur Erhaltung und Wiederherstellung von Biodiversität und hebt die Rolle der Frauen hervor: „Indigene Frauen sind das Rückgrat der Gemeinschaften indigener Völker und spielen eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung und Weitergabe des traditionellen Wissens der Vorfahren.“
Der Schutz der territorialen Rechte und des traditionellen Wissens ist ein wirksames und erschwingliches Instrument, um den Klimawandel zu verlangsamen, den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, sagt auch José Gregório Diáz Mirabal, Vorsitzender der COICA, der indigenen Organisationen der Länder des Amazonasbeckens.
Er fordert Investoren auf, mit Indigenen zusammenzuarbeiten, „Investieren Sie in uns und unsere Vorschläge, sei es im Bereich des nachhaltigen Tourismus, der kommunalen Forstwirtschaft oder unserer Rolle als Hüter und Verwalter unserer Wälder“, sagt er. Indigene Aktivitäten verhinderten die Abholzung der Wälder und förderten die Ziele der nachhaltigen Entwicklung. Die Indigenen seien die einzigen, die ein langfristiges Interesse am Schutz der Wälder hätten. Die Rettungspläne für die Biodiversität müssten deshalb gemeinsam mit den Indigenen entworfen und durchgeführt werden.
Rückenwind für globales Naturschutz-Abkommen?
Die neuen alarmierenden Zahlen, dass bis zu einem Drittel aller Arten in überschaubarer Zeit ausgestorben sein können, und die neuen Berichte des Weltbiodiversitätsrat geben nun jenen Regierungen Rückenwind, die in den gerade laufenden Verhandlungen um ein neues Weltnaturschutzabkommen auf ambitionierte Zielvorgaben dringen. Das Abkommen soll im Dezember in Montreal beim Vertragsstaatengipfel der UN-Konvention zur Biologischen Vielfalt (CBD) verabschiedet werden und Regeln und Ziele für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Natur auf der Erde bis 2030 festlegen.
Eines der Ziele, die nach dem Wunsch vieler Staaten im neuen Abkommen festgeschrieben werden sollen, ist dje Unterschutzstellung von 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche der Erde. Dadurch soll den Ökosystemen und den darin lebenden Arten Raum zur Erholung gegeben werden, was wiederum die Voraussetzung für eine dauerhafte nachhaltige Nutzung der Naturschätze ist. James Rice vom IPBES ergänzte allerdings, es sei nicht das Ziel, 30 Prozent des Planeten zu retten, sondern 100 Prozent.
Die Autorinnen und Autoren der neuen Studie der Universität von Minnesota kommen zu dem Schluss, dass deutlich verstärkte Investitionen und Bemühungen beim Arten- und Naturschutz bis zum Jahr 2100 eine von drei bedrohten oder ausgestorbenen Arten vor dem Aussterben bewahren könnten. Es müssten endlich „geeignete Schutzkonzepte entwickelt werden, die auf ein breiteres Spektrum von Organismen abzielen, um die Krise der biologischen Vielfalt zu bekämpfen“, sagt der Biodiversitätsforscher Nico Eisenhauer von der Universität Leipzig.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.