Blinder Fleck der Umweltdebatte: Ohne intakte Natur kein Trinkwasser

Ein Jahr lang haben wir auf drei Kontinenten erkundet, welche Rolle Naturschutz dabei spielt, acht Milliarden Menschen mit sauberem Wasser zu versorgen

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
62 Minuten
Ein Wasserfall im Wald

In Kenia gibt es einen Wald namens Mau im Bergland, der einem großen Wasserturm gleicht und Menschen in weit entfernten Städten versorgt. In Kambodscha erstreckt sich ein See namens Tonle-Sap, der im Jahresrhythmus wie ein riesiges Herz schlägt und nasses Lebenselixier in die Hauptstadt pumpt.

Im Bergland von Lesotho sagt Mammphole Molapo, Chief von Ha Lejone: „Früher hatten wir Wasser im Überfluss, aber nun sind Quellen versiegt oder sprudeln nur in der Regenzeit.” Im Okavango-Delta bemerkt der Spurenleser Kachire Xhoro: „Früher sind die Fischbestände noch reich gewesen, aber heute bin ich schon froh, wenn ich mit vier Fischen nach Hause komme.“

In Tunesien war Anfang September einer der wichtigsten Stauseen fast leer, der eigentliche Damm lag komplett trocken. Und in der hessischen Region Vogelsberg warnt der Ökologe Hans-Otto Wack: „Wir werden infolge der Klimakrise in Zukunft weniger Grundwasser haben als die Rhein-Main-Region.”

Sechs Regionen, sechs Schlaglichter auf ein Geschehen, von dem unsere Zukunft abhängt.

Die wichtigste Lieferkette von allen

Viel wird derzeit über Knappheit gesprochen – von Mikrochips in der Automobilindustrie, von Kobalt für Windräder, sogar von Papier für Druckerzeugnisse. Die Pandemie hat die globalen Lieferketten durcheinandergebracht, und wir spüren Verbindungen zu anderen Ländern über Tausende Kilometer hinweg.

Doch was, wenn der wichtigste Bestandteil unseres Lebens für uns knapp wird – Wasser? Was, wenn es bei den Lieferketten der Natur hakt oder sie gar kollabieren?

Eine Hand an einem Wasserhahn
Wasserversorgung in Lesotho: Ist Mangel künftig auch in Europa eine Gefahr?

Besonders in Mitteleuropa nehmen wir Wasser noch immer als etwas Selbstverständliches wahr. Es tritt in unser Bewusstsein, wenn es, wie im Sommer, in einer Sturzflut das Ahrtal hinabrauscht oder wenn in einem heißen Monat der Rhein fast trockenfällt. Aber ansonsten sehen wir es noch immer als Normalfall an, dass Wasser einfach da ist und fließt, wenn wir den Wasserhahn aufmachen – als Hintergrundrauschen.

In anderen Weltregionen ist freier Zugang zu sauberem Wasser aber entweder noch immer nicht selbstverständlich – oder nicht mehr. Und das hat vielerorts mit unserem Umgang mit der Natur zu tun, vor allem mit Wäldern, Sümpfen, Seen und Mooren. „Die Rolle von Feuchtgebieten für unser Trinkwasser ist ein blinder Fleck in der Entwicklungsdebatte“, sagte uns Martha Rojas Urrego, Chefin der Ramsar-Konvention der Vereinten Nationen, im Interview.

Ziel der UN: Sauberes Wasser für alle

Ein Jahr lang haben wir als Team von Journalistinnen und Journalisten von RiffReporter dazu recherchiert, woher unser Wasser heute und morgen kommt. „Die versteckten Quellen sauberen Wassers” hieß das vom European Journalism Centre geförderte Projekt. Es ging darum, unseren ganz alltäglichen Verbindungen offenzulegen, die immer dann entstehen, wenn jemand einen Wasserhahn öffnet, ob in Nairobi, Phnom Penh, Tunis oder Frankfurt – und die Verbindungen, die fehlen, wenn Menschen eben keinen verlässlichen Zugang zu sauberem Wasser haben.

Der Forscher mit Schiebermütze vor einem Gewässer.
Der Ökologe Hans-Otto Wack kümmert sich um das Grundwasser der Region Vogelsberg.
Eine Wasserquelle im Gebirge
Unscheinbar und überlebenswichtig: Was aus unserem Wasserhahn kommt, entspringt in der Natur.

Bis 2030 wollen die Vereinten Nationen im Rahmen ihrer sustainable development goals, also der globalen Nachhaltigkeitsziele, erreichen, dass jeder Mensch diesen Zugang hat. Doch die Realität ist anders: „785 Millionen Menschen verfügen noch nicht einmal eine Grundversorgung. Sie holen ihr Wasser direkt aus Brunnen und Flüssen oder haben einfach nicht genug Wasser“, berichtete Ilse Huber in ihrem Report über Gefahren für das Trinkwasser weltweit.

Wie jene Verbindungen zwischen uns Menschen und der Natur aussehen, die nötig sind, um Millionen oder Milliarden von uns verlässlich zu versorgen, zeigte Rainer B. Langen anhand des Wassers, das zum Beispiel die Menschen in Kairo aus dem Uferfiltrat des Nils entnehmen. Es entstammt dem äthiopischen Hochland, aber entspringt nicht dort.

„Fast die Hälfte der Feuchtigkeit für den Regen im äthiopischen Hochland trägt der Wind aus Richtung des westafrikanischen Regenwalds herbei”, berichtete Langen. So sind die Menschen in Kairo auf direktem Weg mit dem Tausende Kilometer entfernten Kongo verbunden.

Metropolen im Wasserstress

Die Entfernungen in Langens zweiter Recherche waren nicht ganz so groß, aber nicht weniger existenziell. Der Reporter erkundete, woher die boomende Finanzmetropole Frankfurt eigentlich ihr Trinkwasser bekommt – und kam unter anderem in der 50 Kilometer von den Banken-Hochhäusern entfernten Vogelsberg-Region an und im Hessischen Ried, wo abgestorbene Bäume von Wassermangel künden.

Auf eine ähnliche Recherche begab sich Reporterin Leonie March im südlichen Afrika. Sie folgte dem Wasser, das über Pipelines nach Südafrika gelangt – und kam im Berg-Königreich Lesotho an. Das gelang erst im zweiten Versuch, beim ersten Mal blockierten Schneemassen den Weg für das Auto, in den auch Fotograf Roger Jardine seine Ausrüstung geladen hatte.

Doch schließlich kamen die beiden zu Menschen, denen es am Nötigsten fehlt, obwohl ihr Land eigentlich zu den wasserreichsten in ganz Afrika zählt ist. Wasser ist in Lesotho aber zur Exportware geworden, und die Menschen, die am Ufer eines riesigen, neu geschaffenen Stausees leben, gehen oftmals für ihre eigene Versorgung leer aus. „Das Wasser gehört Südafrika und nicht mehr uns“, sagte ein Mann namens Mothusi Seqhee zu Leonie March, „wir können es nicht nutzen, wie wir wollen. Das ist ein Problem.“

Anderswo gelten die Sorgen eher zunehmend spürbaren Veränderungen durch die menschgemachte Erderwärmung. In Tunesien kommen dadurch nicht nur traditionelle Landnutzungsformen wie der Dattelanbau in Oasen unter Druck, sondern ganz grundsätzlich der Zugang zu ausreichend Wasser, wie die in Tunis lebende Reporterin Sarah Mersch recherchiert hat: In der Hauptstadt stiegen im vergangenen August die Temperaturen auf über 48 Grad Celsius, im zentraltunesischen Kairouan gar auf 50,3 Grad – laut tunesischem Wetterinstitut 9 bis 15 Grad über den Normalwerten um diese Jahreszeit. Die Menschen in Tunesien hatten deshalb nur ein Viertel der Wassermenge zur Verfügung, die die Vereinten Nationen als flüssiges Existenzminimum definiert.

Aufforstung im Mau-Wald
Aus dem Mau-Wald kommt ein erheblicher Teil des Trinkwassers von Kenia. Wo er gerodet wurde, bemühen sich Initiativen, das Ökosystem zu regenerieren.

Hälfte des Süßwassers wird vom Menschen genutzt

Umso wichtiger werden die „versteckten Quellen von sauberem Wasser”, die Sarah Mersch entlang des Flusses Qued Medjerda bis hinauf ins Kroumirie-Gebirge verfolgt hat. Doch was die Menschen in der Metropole Tunis zu trinken bekommen, ist alles andere als reines Quellwasser. Das Nass ist durch ein flächendeckendes, in die Landschaft gegrabenes System an Staudämmen und Kanälen geflossen.

Überhaupt zählte zu den übergreifenden Erkenntnissen unserer Recherchen, wie stark der Wasserkreislauf der Erde bereits von uns Menschen geprägt ist. Jeder Mensch sieht dieses Bild mindestens einmal während seiner Schulzeit: Wie Wasser aus dem Meer verdunstet, Wolken bildet, über Bergen abregnet, wie es über Flüsse in die Niederungen fließt und schließlich im Meer landet, wo alles von vorne beginnt. Vom „Wasserkreislauf“ handeln die Schulstunden rund um diese Darstellung.

„Doch im Juli 2019 deklarierte ein Team von 23 internationalen Wissenschaftlerïnnen aus Nordamerika und Europa dieses weit verbreitete Bild im Fachmagazin Nature Geoscience als komplett irreführend”, berichtete Rainer B. Langen. Die gesamte Menge an Wasser, die Menschen jedes Jahr benutzten, übersteige die Menge an Grundwasser, die nachgebildet werde. Und sie entspreche nicht weniger als der Hälfte allen Wassers, das vom Land in die Meere fließt.

Wir haben uns deshalb entschieden, der veralteten Darstellung des Wasserkreislaufs, die noch immer in Schulbüchern zu finden ist, den neuen, den realen Wasserkreislauf gegenüberzustellen. Neben vielen problematischen Interventionen haben wir dabei auch eine positive eingebaut: Die Renaturierung von Flüssen und Feuchtgebieten, wie Ramsar-Chefin Martha Rojas Urrego sie in unserem Interview gefordert hat.

Die Graphik zeigt einen schematischen Wasserkreislauf, aber mit dem Faktor Mensch, also mit Wasserpipelines, Kanälen, Wasserverschmutzung, Überdungung und vielen anderen Faktoren.
Kennzeichen des Anthropozäns: Etwa die Hälfte das Wassers, das an Land als Regen niedergeht, fließt durch menschliche Infrastruktur.

Menschen verursachen aber im Umgang mit unserem wichtigsten Lebensmittel nicht nur Probleme – sie entwickeln auch Lösungen. Bei unseren Recherchen begegneten uns beeindruckende Persönlichkeiten, die sich dem Zugang aller zu sauberem Wasser verschrieben haben. Dazu gehört etwa die südafrikanische Rechtsanwältin Amanda Mkhonza, die Leonie March am Fuß der einstmals wasserreichen Tafelberge von Kapstadt traf und die sich für Wasserrechte ärmerer Menschen einsetzt.

Begegnungen mit besonderen Menschen

Dazu zählt auch Klement Tockner, der Gewässerökologe und Generaldirektor einer der größten naturkundlichen Sammlungen der Welt am Senckenberg-Museum in Frankfurt ist. Er nutzt seine Position auch, um das Bewusstsein für den Zusammenhang von Wassersicherheit und Naturschutz zu schärfen.

Dazu gehören aber vor allem auch die Menschen, die etwas bewegen, die sich für das von den Vereinten Nationen ausgerufene Ziel einsetzen, dass wir bis 2050 „in Harmonie mit der Natur” leben.

Bettina Rühl hat bei ihren Recherchen im kenianischen Mau-Wald etwa ausführlich mit einer jungen Frau namens Loni Chepkori gesprochen, die sich bei der Aufforstung im Chepalungu-Wald engagiert. Ziel des Projekts ist es, den Mau-Wald wiederherzustellen, so dass er als „Wasserturm” für den Rest des Landes und auch die Menschen im benachbarten Tanzania Regen speichern und kostbares Nass über Flüsse wie den Mara abgeben kann.

Leonie sitzt mit der Frau im Freien und hält ihr ein Mikrofon hin.
Leonie March im Gespräch mit Chief Molapo

Der zum Zeitpunkt der Recherchereise 24 Jahre alten Loni Chepkori muss niemand die existenzielle Verbindung von sauberem Wasser und intakter Natur erklären – sie kennt sie aus eigener Anschauung, intuitiv. Wir konnten viel von ihr lernen.

Auch das Mädchen, das knietief im Wasser stand und essbare weiße Wasserlilien pflückte, als Leonie March sie im Okavango-Delta antraf, braucht keine „Umweltbildung”, denn sie erlebt die Verbindung von intakter Natur und Wasser jeden Tag. Das Mädchen Omaata und ihre Mutter Diphetogo Masupatsela leben dort, wo der Okavango, einer der bedeutendsten Flüsse im südlichen Afrika, im Norden Botswanas versickert und verdunstet. Es ist eines der größten und tierreichsten Feuchtgebiete des afrikanischen Kontinents – und doch bedroht.

Die beiden gehören zu den „River San“, denn ihr Leben ist eng mit dem Okavango-Fluss und seinem Delta verbunden.

Keine Luxusfrage

Von solchen Menschen können wir im Westen einiges lernen. Denn vielen anderen Menschen, auch und besonders in Führungspositionen in Politik und Wirtschaft, ist diese Grundlage unseres Daseins nicht ausreichend bewusst. Viele Entscheidungen fallen noch immer so, als sei Wasser das Selbstverständlichste von der Welt.

Und je mehr wir das Klima aufheizen und je rücksichtsloser wir mit Ökosystemen rund um den Globus umgehen, desto mehr schaden wir uns selbst, wie Sonja Bettel schrieb: „Nicht nur ist das Abwasser von heute in vielen Fällen das von der Natur gereinigte Trinkwasser von morgen. Mindestens so wichtig sind die Prozesse ganz am Anfang des Wasserkreislaufs, wenn Regen auf die Erde fällt und über Flüsse, Bäche, Moore, Sümpfe und unterirdische Grundwasser-Ökosysteme Schritt für Schritt zu neuem Trinkwasser wird.”

Naturschutz ist deshalb alles andere als ein Luxus – sondern eine Überlebensfrage.

Bewegte Graphik des Wasserstands in dem See und umliegenden Flüssen.
Auf einem Zeitraffer aus der Satellitenperspektive ähnelt der Tonle-Sap-See (links oben) einem Wasserherz, das sich jedes Jahr zur Regenzeit auffüllt mit Wasser aus dem Mekong (rechts oben). Die Bilder wurden in der Trocken- bzw. Regenzeit des jeweiligen Jahres aufgenommen.

Unsere Reporterinnen und Reporter im Gespräch über ihre Recherchen und Ergebnisse:

Alle Artikel aus „Die versteckten Quellen von sauberem Wasser"

Natur & Wasser

Klima, Plastik & Politik

Das Schema zeigt, wie Wasser aus dem Hochland von Angola ins Delta fließt
Eines der wichtigsten Feuchtgebiete der Welt: Das Okavango-Delta wird aus dem Hochland von Angola gespeist.

Asien

Afrika

Schema, das die Wasserversorgung von Tunis aus dem Gebirge zeigt.
Die Millionen-Metropole Tunis befindet sich im Wasserstress – und ist abhängig von der Natur

Europa

Schema der Wasserversorgung von Frankfurt
Auch deutsche Städte stehen vor der Frage, woher sie in Zukunft verläßlich Trinkwasser beziehen sollen.

Beiträge aus unserem Rechercheprojekt sind auch im österreichischen Radio Ö1, im Deutschlandfunk Kultur, in der Deutschen Welle und in der Zeitschrift „afrika süd" erschienen.

Im Projekt Countdown Natur" berichtet ein Team von Journalistinnen und Journalisten mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel Mitte 2022 über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen wurden vom European Journalism Centre durch das Programm „European Development Journalism Grants“ gefördert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt. Wir danken für die Förderung.

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