Brasilien: ein Land zwischen Umwelt-Terrorismus und Entwicklungsdruck

Während die Flammen die Landschaften Brasiliens entlang der Schnellstraßen verschlingen, kündigt Präsident Ignacio Lula da Silva die Fortsetzung des Baus der Fernstraße BR-319 durch Amazonien an.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
4 Minuten
Hinter Rauchschwanden sieht man verbrannte Bäume und einen Feuermann beim Löschen.

Über die Hälfte Brasiliens liegt derzeit unter einer riesigen Rauchwolke. In São Paulo fällt das Atmen schwer. Die Stadt hat aktuell die schlechteste Luftqualität weltweit. Während der ersten Septemberwoche hat das südwestliche Amazonasgebiet, wo die Vegetation bereits geschwächt ist, weltweit die meisten Treibhausgase ausgestoßen. Das zeigen die Messungen des europäischen Copernicus-Observatoriums.

Obgleich die Abholzung unter Lula um 16 Prozent zurückgegangen war, haben die Waldbrände seit September explosionsartig zugenommen und verschlingen einen großen Teil der Vegetation. Derzeit werden doppelt so viel Brandherde gezählt wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Die Flammen zerstören unwiederbringlich die Primärwälder Amazoniens, die Dornbuschsteppe (Cerrado) und sie machen auch vor dem größten Feuchtgebiet der Erde nicht halt: dem Pantanal. Allein am 12. September registrierte das Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais (Inepe) 3.502 Feuerherde. Über die Hälfte der Brandherde befinden sich in Amazonien. Die Umweltministerin Marina Silva sagte, „Brasilien erlebt gerade einen Umwelt-Terrorismus.“

Die Brände sind von Menschenhand gelegt

Die drastische Zunahme der Brände im Amazonasgebiet lässt sich einerseits auf die extreme Dürre zurückführen – die schwerste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1950. Sie fördert die Ausbreitung der Flammen. Doch die Trockenheit allein entzündet keine Feuer. Es ist der Mensch, der diese Feuer legt.

„Dieses Feuer ist kriminell. Es sind Menschen, die versuchen, Brände zu legen, um dieses Land zu zerstören“, erklärte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (PT) am 10. September des Jahres. Er kündigte Strafmaßnahmen an.

Lula setzt umstrittenen Bau der Amazonas-Fernstraße BR-319 fort

Noch am selben Tag erklärt Lula, er werde die Baumaßnahmen an der Fernstraße BR-319, die Porto Velho nahe Bolivien mit Manaus verbindet, wieder aufnehmen. Nach langem Zögern hat sich Lula zu diesem Schritt entschieden, mit dem Argument, das der Madeira-Fluss als Transportweg wegen der Niedrigwasserstände nicht mehr funktioniere. Das liegt neben der Klimakrise aber auch an den beiden Staudämmen, die Lula während seiner früheren Präsidentschaft errichten ließ.

Die Bundesstraße BR-319 ist eine knapp 900 km lange Strecke, die durch eines der am besten erhaltene Waldgebiete mit enormen Kohlenstoffspeichern führt. Das Projekt gefährdet 63 indigene Gebiete und 18.000 indigene Menschen. Auch die Umwelt, die biologische Vielfalt und das Weltklima sind bedroht, wie Lucas Ferrante darlegt. Die Fernstraße wurde in den 1968 von der brasilianischen Militärdiktatur begonnen, dann aber aufgegeben und vom Regenwald überwuchert. Nun will der Präsident nach langem Zögern den Bau der Bundesstraße nun mit „größter Verantwortung“ zu Ende führen.

Feuer entlang der Fernstraßen

Die Satellitenbilder des Copernicus-Observatoriums zeigen nicht nur den CO₂-Ausstoß des Regenwaldes, sondern auch, dass sich die Brände hauptsächlich entlang der Fernstraßen verbreiten. Sie werden gelegt, um die abgeholzte Vegetation zu beseitigen. Dadurch werden große Mengen von Treibhausgasen CO₂ und Methangas (CH₄) freigesetzt. Der Forscher Lucas Ferrante von der Universität von São Paulo (USP) und der Bundesuniversität Amazonas (UFAM) kritisiert die Entscheidung Lulas, die Arbeiten an der umstrittenen Bundesstraße fortzusetzen. Denn sie führt quer durch zum großen Teil intakte Waldgebiete.

In einer Studie von 2021 hatten die Forscher um Ferrante dargelegt, wie die BR-319 den Zugang zu öffentlichem Land ermöglicht und die Invasion dieser Gebiete zusammen mit Landgrabbing und Entwaldung gefördert hat. Die Wiederaufnahme der Arbeiten wird eine weitere Abholzungswelle auslösen - und die Klimakrise verschärfen.

Straßen als „Arterien der Zerstörung“

Eine Studie von Imazon hatte bereits 2022 gezeigt, dass diese Straßen kriminelle Aktivitäten, wie illegalen Holzeinschlag, Bergbau und Landraub befördern. Fünf Prozent davon führen durch Schutzgebiete und drei Prozent durch indigene Gebiete. „Sie sind Arterien der Zerstörung“, sagte Co-Autor Carlos Souza Jr., der das Programm des Instituts zur Überwachung des Amazonas koordiniert. Dieses Muster sei im Amazonas gut bekannt: „Die Straßen werden geöffnet, um Holz zu gewinnen, und sie verästeln sich von der Hauptstrecke ab, wo sich die Lastwagen und die schweren Maschinen befinden.“ Sie führen zur Degradation des Waldes und lassen ihn am Ende brennen.

Indigene und Forscher*innen sind besorgt

Während eines Besuches bei den indigenen Munduruku erklärte Lula: „Wir werden garantieren müssen, dass wir keine Abholzung und keinen Landraub neben der Fernstraße zulassen, wie es in diesem Land üblich ist.

Mariazinha Baré, leitende Koordinatorin des Zusammenschlusses der indigenen Organisationen und Völker des Amazonas (Apiam), sagte, dass genau dies das das zentrale Problem bei der Wiederaufnahme der Baumaßnamen der BR-319 sei: die Unfähigkeit des Staates, die von ihm selbst aufgestellten Bedingungen zu erfüllen und die Schutzgebiete zu schützen.

Dass Lula diese Garantien nicht geben kann, zeigen nicht nur die derzeitigen Brände. Eine Studie, die gemeinsam mit dem Management- und Einsatzzentrum des Amazonas-Schutzsystems (Censipam) mit der Bundespolizei (PF) und der brasilianischen Armee durchgeführt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass es am nötigen Personal fehlt, um die Brände und Abholzungen in der Region zu überwachen, wenn die Bundesstraße BR-319 asphaltiert werden sollte.

Die Regierung strebt die wirtschaftliche Entwicklung der Region an

Gegenüber internationalem Druck zeigte sich Lula unbeeindruckt. Zwar gäbe es internationale Forderungen zum Erhalt des Waldes, erklärte er. Doch strebe die Regierung die wirtschaftliche Entwicklung der Region an – unter Berücksichtigung der ökologischen Nachhaltigkeit. “Die Welt, die unsere Lebensmittel kauft, verlangt, dass wir den Amazonas erhalten. Und warum? Sie wollen, dass wir die Luft schützen, die sie atmen. Im letzten Jahrhundert, während der industriellen Revolution, haben sie ihr Land jedoch nicht geschützt."

Lucas Ferrante hebt hervor, dass einige gesetzliche Auflagen bisher nicht erfüllt wurden. So liegt noch keine wirtschaftliche Machbarkeitsstudie, die so genannte EVTA, für die Schnellstraße vor. Diese Machbarkeitsstudie ist im Gesetz 5917/1973 vorgeschrieben. Darüber hinaus wurden im Rahmen des Autobahnprojekts BR-319 nicht die erforderlichen Konsultationen mit den indigenen Gemeinschaften durchgeführt, die sowohl in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als auch im brasilianischen Gesetz 10.088/2019 vorgeschrieben sind.

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