Klima-Kolumne: Warum wir endlich mehr über das Artensterben sprechen müssen
Die Biodiversitätskrise wird im Kampf gegen den Klimawandel oft nicht beachtet. Dabei hängen beide Krisen eng miteinander zusammen, und die eine ist für die Menschheit so bedrohlich wie die andere. Warum wir das Artensterben nicht weiter ignorieren dürfen – eine Kolumne.
Wer schon einmal im Baltikum unterwegs war, weiß, wieviel unberührte Natur dort noch existiert: intakte Moore, Wälder, menschenleere Strände. Als ich im vergangenen Jahr mit einer Freundin durch Lettland gereist bin, hat uns vor allem eines beeindruckt: die große Zahl an Insekten. Sie flogen gegen die Windschutzscheibe unseres Campers, umschwirrten uns abends am Strand, belagerten uns beim Essen und bei unseren Spaziergängen: Schmetterlinge, Libellen, Fliegen, Mücken, Käfer, Zikaden. Manchmal waren es uns schon fast zu viele.
Zurück in Deutschland merkten wir sofort, wie viel stiller die Natur hier ist. Allein in den vergangenen drei Jahrzehnten sind bis zu drei Viertel aller Fluginsekten in Deutschland verschwunden – das hat zuerst die mittlerweile weltbekannte „Krefelder Studie“ belegt . Auch die Gründe sind mittlerweile gut erforscht, und sie sind vielfältig: Verlust von Lebensräumen wie Hecken, Tümpel und Feldrainen durch die „Flurbereinigung“, Pestizide, Lichtverschmutzung, Flächenversiegelung und – häufig unterschätzter Faktor – die Überdüngung der Landschaft durch Stickstoff aus der Luft.
Das Artensterben wird kaum beachtet
Okay, jetzt kann man natürlich denken: Schade um die Schmetterlinge und Zikaden, aber was hat das jetzt mit mir zu tun? Die Folgen dieser schleichenden Umweltzerstörung bekommen wir langfristig alle zu spüren. Denn Insekten sind auch für uns Menschen lebenswichtig: Sie verarbeiten organische Abfälle, sorgen für die Bestäubung von Pflanzen, halten Schädlinge im Zaum und dienen nicht zuletzt als Futter für Vögel und viele andere Tiere. Doch leider wird das Schwinden der Insekten, der Artenvielfalt insgesamt, in Medien und Politik immer noch stiefmütterlich behandelt. Kein Wunder, dass es auch für uns im Alltag kaum ein Thema ist.
Um ehrlich zu sein: Ich beschäftige mich selbst viel zu wenig mit der Natur vor der eigenen Haustür, mit der Biodiversitätskrise generell. Und das ist ein Problem. Denn wenn wir nicht hinsehen, darüber sprechen, verstehen wir auch nicht, wie dramatisch die Situation ist.
Artensterben betrifft auch mich, es betrifft uns alle
Mich hat es daher auch sehr erschreckt, dass allein in Berlin, wo ich wohne, fast 50 Prozent der Farn- und Blütenpflanzen, 66 Prozent der Moosarten, 44 Prozent der Säugetiere und zehn der 13 Amphibienarten auf der Roten Liste stehen, als gefährdet gelten. Mir ist klar geworden: Wir müssen dringend mehr über das Artensterben sprechen – und das nicht nur, weil in wenigen Tagen, am 3. März, der internationale Tag der Artenvielfalt ist. Das Artensterben betrifft auch mich, es betrifft uns alle.
Mehr als eine Million der rund acht Millionen Tier- und Pflanzenarten könnten im Laufe der nächsten Jahrzehnte aussterben, wenn wir unsere Lebensweise nicht gravierend ändern – so die dringliche Mahnung des Weltbiodiversitätsrats. Jede Art, ob Tagfalter, Koralle, Teichfrosch oder Kiebitz, erfüllt eine bestimmte Aufgabe im Ökosystem. Wenn eine Art ausstirbt, hat das auch immer Auswirkungen auf andere Spezies, auf das gesamte Ökosystem – und letztendlich auf uns Menschen.
Die Artenvielfalt sichert unseren Wohlstand
Eine intakte und vielfältige Natur versorgt uns mit Süßwasser und sauberer Luft, sie liefert Fasern für Kleidung, Grundstoffe für Arzneien. Nicht nur unser Wohlstand, sondern unsere komplette Existenz hängt von der Natur ab. Der Verlust der Artenvielfalt zählt zudem zu den fünf größten Risiken für die globale Wirtschaft.
Das Artensterben beschleunigt die Klimakrise und umgekehrt. Intakte Ökosysteme wie Wälder, Meere und Moore sind widerstandsfähiger gegen die Folgen der Erderwärmung und können diese sogar abmildern, weil sie extrem viel CO2 speichern. Wenn wir aber weiter Wälder roden, Meere überfischen, Feuchtgebiete entwässern, Böden vergiften, werden die Netzwerke der Natur immer ärmer und immer instabiler. Wir verlieren damit unsere wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die Klimakrise.
Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt
Lettland und der enorme Unterschied zwischen dem Insektenreichtum dort im Vergleich zu Deutschland hat mich auf eine gewisse Art und Weise wachgerüttelt. Je mehr ich mich mit der Biodiversitätskrise beschäftige, desto erschreckender finde ich, wie wenig sich bewegt, wie wenig wir darüber sprechen. Es geht ja nicht nur darum, mehr Insekten zu haben und das Überleben der Eisbären und Nashörner zu sichern – es geht um unsere Zukunft, unsere Existenz.
Ich frage mich in Anbetracht dieser dramatischen Krise oft selbst, was ich als Einzelne überhaupt tun kann. Klar, an erster Stelle muss natürlich die Politik handeln – und zwar weltweit: Schutzgebiete müssen ausgeweitet, Wälder und Meere geschützt werden. Die Landwirtschaft muss nachhaltiger werden – mehr Raum für die Natur, weniger Agrarchemie. Die Politik muss die entscheidenden Stellschrauben drehen.
Aber auch ich, jede:r Einzelne von uns kann etwas gegen das Artensterben unternehmen. Wir sind nicht handlungsunfähig. Auch wenn es banal klingen mag: Weniger Fleisch zu essen, ist tatsächlich eine der effektivsten Maßnahmen überhaupt. Denn würden wir uns überwiegend pflanzlich ernähren, müsste viel weniger Tierfutter angebaut werden, zeigt eine Studie des WWF. Große Flächen könnten dadurch frei werden – es entstünde neuer Raum für nachhaltige Landwirtschaft, Natur, für mehr Artenvielfalt.
Konsumentscheidungen: weniger Palmöl, mehr regionale Produkte
Auch unsere Konsumentscheidungen können wir so treffen, dass sie die Natur eher schonen als ausbeuten: aufwändig Verpacktes meiden, ebenso Produkte, die Palmöl enthalten und hohen Wasserverbrauch verursachen. Wichtiger und wirkungsvoller als „ethischer Konsum“ ist zivilgesellschaftliches Engagement: etwa durch konsequentes Einmischen in die Lokalpolitik oder die Unterstützung von Natur- und Umweltschutzinitiativen, die sich für Artenvielfalt einsetzen.
Wer einen eigenen Garten besitzt, kann weniger mähen. Viele Insektenarten finden auf kurzgemähten Flächen kaum Lebensraum, kein Futter, keine Überwinterungsplätze vor, wie ein Forschungsteam der FU Berlin herausgefunden hat. Man kann auch „wilde Ecken“ im Garten stehen lassen, zum Beispiel in Form von Brombeergestrüpp und Brennesseldickicht. Ein paar Holzstapel dienen bereits perfekt als Insektenhotels.
Ich selbst habe zwar nur einen Balkon, aber auch den kann ich naturfreundlich gestalten – mein nächstes großes Projekt für den Frühling, auch wenn ich nicht wirklich einen grünen Daumen habe. Der NABU empfiehlt, dass man vor allem auf Wildblumen, Kräuter und Rankpflanzen setzen sollte und weniger auf Geranien oder Stiefmütterchen, die für heimische Insekten als Futter- und Nektarpflanzen wertlos sind. Das Wichtigste ist, sich zu informieren. Welche Tier- und Pflanzenarten leben eigentlich vor der eigenen Haustür? Welche sind gefährdet? Ich nehme mir jetzt auf jeden Fall vor, mehr hinzusehen – damit die Natur wieder lauter wird.